Unvorbereitet
Die Nacht war turbulent. Einbrüche, Häusliche Gewalt, von einem Einsatz waren wir zum nächsten gefahren und nur langsam wurde es ruhiger am Funk. Erst wenige Stunden vor Dienstende hatten wir ein bisschen Zeit zur Wache zu fahren, Schreibarbeiten zu erledigen, was zu essen und zu trinken.
Ich lehne mich gerade in meinem Schreibtischstuhl zurück und schliesse für einen kurzen Moment die Augen, als der Kopf des Funkers im Türrahmen des Schreibraums erscheint. „Könnt ihr mal grade…?“
Natürlich können wir. Kurz den Kopf geschüttelt, so dass die Müdigkeit aus den Zügen verschwindet, die Lederjacke übergezogen und wenige Minuten später sitzen wir schon wieder im Auto und rollen in die Richtung des nächsten Einsatzes. Beide schon mehr auf Feierabend eingestellt, als auf einen erneuten Einsatz und durch die vorausgehenden anstrengenden Einsätze ermüdet, schweigen wir. „Hilflose Person“ ist unser Einsatzstichwort. Das erfordert keine großen Absprachen. Irgendwer hat zu viel gesoffen und veranstaltete jetzt Theater im Hausflur. Routine, immer das Gleiche, kein Überlegen, was einen erwartet. Selbst der noch junge Kollege mit seinem erst wenige Monate alten Kommissarsstern auf seinen Schultern hat bereits hinreichend Erfahrung mit dieser Art von Einsätzen entwickelt.
Wir halten vor einem Mehrfamilienhaus, keine besonders hübsche Gegend, aber auch nicht total asozial. Ich streiche mir eine Strähne meines Haars aus dem Gesicht, stecke in einer fließenden Bewegung das Funkgerät in die Jackentasche und stoße die Streifenwagentür auf. Tief atme ich die klirrend kalte Nachtluft ein.
Sekunden später stehen wir vor der Haustür und klingeln.
Zunächst keine Reaktion nur das Licht im Flur geht flackernd an und aus. Mir fröstelt, es wird langsam kälter in den Nachtdiensten. Über Funk gleiche ich noch mal die Adresse ab. Doch keine Frage, hier muß es sein. Schulterzuckend klingelt mein junger Kollege noch mal, als gerade der Türsummer ertönt. Mit einem etwas zu kräftigen Ruck stoße ich die Haustür auf und schlage gleichzeitig mit meinem Ellebogen gegen den Lichtschalter. Der Flur riecht muffig und wirkt schmuddelig. Durchs Treppenauge spähe ich nach unten in den Kellerabgang, niemand zu sehen. In den oberen Etagen höre ich eine Tür auf gehen und wieder zu schlagen, aufgehen und wieder zuschlagen. Eine krächzende Frauenstimme scheint immer wieder ein Lied zu singen.
„Auf geht’s, wie immer ist unser Ziel ganz oben.“ Seufzend und gequält lächelnd geht’s im Laufschritt die Treppe hinauf. Bereits in der zweiten Etage merke ich, wie mir unter Pullover, Schutzweste und Lederjacke der Schweiß ausbricht und innerlich verfluche ich jedes Gramm Ausrüstung, das ich mit mir herumtrage. Das Funkgerät in meiner Jackentasche schlägt dumpf immer wieder gegen meinen Körper. Der Kollege ist fitter als ich und erreicht den obersten Stock zuerst. Dennoch knallt die Wohnungstüre unserer Zielwohnung direkt vor seiner Nase ins Schloss, bevor er einen Fuß in den Spalt zwischen Rahmen und Tür schieben kann. Wieder zuckt er die Achseln und klopft. Laut hallen die Schläge seiner Faust durch das Haus. Hinter der Tür hören wir wieder die kratzige weibliche Stimme. Ein lautes unverständliches Gemurmel setzt ein und als ich gerade meinen letzten Schritt die Treppe hoch mache, öffnet die Tür sich wieder. Einen Moment bin ich irritiert und weiche einen kleinen Schritt zurück, die Hand fährt an die Waffe, denn ich sehe niemanden in dem Spalt hinter der Tür. Erst als wieder die Stimme ertönt, senke ich meinen Blick in Richtung Fußboden und blicke in das von tiefschwarzen Hämatomen übersäte und blutverkrustete Gesicht einer Frau mittleren Alters. Wir reagieren beide gleichzeitig. Der Kollege wirft sich gegen die Tür und ich schaffe es meinen Fuß in den Spalt zu zwängen, bevor die Tür krachend wieder zu schlagen kann. „Frau Schulze?“ Ich spreche lauter als beabsichtigt, meine Stimme überschlägt sich ungewollt. Ihr Körper liegt direkt quer vor der Tür, so dass wir diese nicht weiter aufbekommen ohne sie dabei noch mehr zu verletzen. Hinter ihr erkenne ich jetzt das reinste Schlachtfeld, ein enger Hausflur, umgeworfene Möbel, Dreck und auf dem Boden Blutlachen und an den Wänden blutige Handabdrücke und Wischspuren.
„Rettungswagen?“ Die Stimme des Kollegen holt mich aus meinen Überlegungen. Ich nicke und stemme mich gegen die Tür um einen größeren Blickwinkel in die Wohnung zu erlangen. Die Frau am Boden summt vor sich hin und reagiert auf uns fast gar nicht. Mein Kollege nimmt das von mir hingehaltene Funkegerät und verständigt einen Rettungswagen. Sein Blick ist schockiert auf die Frau am Boden gerichtet. „Notarzt?“ unschlüssig warte ich einen Moment mit meiner Antwort und schüttele dann den Kopf. Im Geiste gehe ich die möglichen Szenarien durch, was uns hinter der Tür erwarten könnte. Ich versuche mit der Frau zu reden, die immer noch vor sich hinsummt und immer wieder mit kraftlosen Händen versucht meinen Fuß aus dem Türspalt zu schieben. „Danke. Wir kaufen nichts. Sie können jetzt gehen. Winke winke. Alles gut. Die Kleine ist doch da.“ In einem leichten Singsang spricht sie vor sich hin. Mir wird unwohl vor der Tür. Weder sehe ich, was in der Wohnung passiert, noch weiß ich, wie viele Personen noch drin sind. Ich trete von einem Fuß auf den anderen.
Mein Blick fällt auf das Klingelschild. Zwei Namen, nicht einer. „Frag nach, wer noch hier gemeldet ist.“ Ich hab noch nicht ausgesprochen, als der Kollege die Frage schon ins Funkgerät spricht.
Meine Gedanken überschlagen sich. Häusliche Gewalt und der Täter ist vielleicht noch in der Wohnung? Ein versuchtes Tötungsdelikt? Ich bin ratlos und unwillkürlich trete ich einen Schritt vom Türrahmen weg. Ich stehe hier wie auf dem Präsentierteller, schießt es mir durch den Kopf, wenn da noch wer drin und bewaffnet ist. Dennoch lasse ich meinen Fuß in der Türöffnung und versuche diese stetig zu vergrößern, während die Frau am Boden von der anderen Seite gegen die Tür drückt und an meinem Fuß herumnestelt. Im Geiste sehe ich mich schon die Waffe ziehen und in die Wohnung stürmen, sobald ich die Gewissheit habe, dass hier mehrere Personen gemeldet sind. In der Wohnung ist es jedoch bis auf das jetzt monotone Gemurmel der Frau. „Die Kleine ist doch da. Ist ja alles gut. Lalilu. Die Kleine ist noch da. Alles ist gut. Könnt wieder gehen. Polizei. Könnt wieder gehen.“ komplett still.
Dann passieren zwei Dinge auf einmal, im Funkgerät knistert es und ich höre wie durch Watte den Kollegen auf der Wache sagen. „Da sind nur Frau Schulze und ihre Tochter gemeldet…. –Stille-… Scheiße, die Kleine ist erst 4!“ Bereits als der Funker „Scheiße“ sagt, fällt mein Blick auf die in Kniehöhe an der Wand angebrachten kleinen Fingerzeichnungen. Rote Farbe auf weißem Grund und das Werk sehr kleiner Finger. Die blutige Farbe ist geronnen und die Wand hinunter gelaufen. Blut, alles voll Blut, schießt es mir durch den Kopf. Während der Funker weiter spricht, tausche ich mit meinem Kollegen einen stummen Blick ohne Worte werfen wir uns jetzt beide gegen die Tür ohne Rücksicht auf die am Boden liegende immer noch summende Frau. Sie wird über den dreckigen Boden zur Seite geschoben, kreischt laut und tritt um sich. Die Wohnungstür öffnet sich, ich gerate ein wenig aus dem Gleichgewicht und taumele in die Wohnung. „Behalt sie im Auge!“ zische ich und mache mich mit der Hand an der Waffe daran, die Wohnung zu durchsuchen.
Überall liegen Müllberge. Laut mache ich mich bemerkbar. „Polizei! IST DA WER?“ Mir schlägt nur Stille und der metallische Blutgeruch aus nahezu jedem Zimmer entgegen. Mein Blick fliegt von rechts nach links. Ich höre, wie der Kollege die Frau befragt, aber nur wenige klare Antworten bekommt, während ich mir in dem Chaos aus Müll und Unrat einen Überblick zu verschaffen suche. Die ersten drei Zimmer sind leer. Eins ist eindeutig ein Kinderzimmer. Überall liegen Glasscherben und Hundekot. Auf dem Sofa im Wohnzimmer finde ich den dazugehörigen Hund röchelnd und augenscheinlich halb verdurstet, verdreht der kleine räudige Mischling bei meinem Anblick die Augen und jault. Mit zitternden Fingern ziehe ich die Wäscheberge und Decken vom Sofa, die ganze Zeit darauf gefasst ein totes Kind zu finden. „Das ist ein Tatort, ein Tatort. Faß so wenig an, wie möglich. Tritt nirgendwo drauf. Paß auf, hier kann noch wer sein. Paß auf!! “ Halt es in meinem Schädel wieder, doch je länger meine vergebliche Suche dauert, umso schneller bewege ich mich und umso fahriger werden meine Bewegungen.