Babyjanes erste Geschichte nach dem Studium...

  • Unvorbereitet


    Die Nacht war turbulent. Einbrüche, Häusliche Gewalt, von einem Einsatz waren wir zum nächsten gefahren und nur langsam wurde es ruhiger am Funk. Erst wenige Stunden vor Dienstende hatten wir ein bisschen Zeit zur Wache zu fahren, Schreibarbeiten zu erledigen, was zu essen und zu trinken.


    Ich lehne mich gerade in meinem Schreibtischstuhl zurück und schliesse für einen kurzen Moment die Augen, als der Kopf des Funkers im Türrahmen des Schreibraums erscheint. „Könnt ihr mal grade…?“
    Natürlich können wir. Kurz den Kopf geschüttelt, so dass die Müdigkeit aus den Zügen verschwindet, die Lederjacke übergezogen und wenige Minuten später sitzen wir schon wieder im Auto und rollen in die Richtung des nächsten Einsatzes. Beide schon mehr auf Feierabend eingestellt, als auf einen erneuten Einsatz und durch die vorausgehenden anstrengenden Einsätze ermüdet, schweigen wir. „Hilflose Person“ ist unser Einsatzstichwort. Das erfordert keine großen Absprachen. Irgendwer hat zu viel gesoffen und veranstaltete jetzt Theater im Hausflur. Routine, immer das Gleiche, kein Überlegen, was einen erwartet. Selbst der noch junge Kollege mit seinem erst wenige Monate alten Kommissarsstern auf seinen Schultern hat bereits hinreichend Erfahrung mit dieser Art von Einsätzen entwickelt.


    Wir halten vor einem Mehrfamilienhaus, keine besonders hübsche Gegend, aber auch nicht total asozial. Ich streiche mir eine Strähne meines Haars aus dem Gesicht, stecke in einer fließenden Bewegung das Funkgerät in die Jackentasche und stoße die Streifenwagentür auf. Tief atme ich die klirrend kalte Nachtluft ein.
    Sekunden später stehen wir vor der Haustür und klingeln.
    Zunächst keine Reaktion nur das Licht im Flur geht flackernd an und aus. Mir fröstelt, es wird langsam kälter in den Nachtdiensten. Über Funk gleiche ich noch mal die Adresse ab. Doch keine Frage, hier muß es sein. Schulterzuckend klingelt mein junger Kollege noch mal, als gerade der Türsummer ertönt. Mit einem etwas zu kräftigen Ruck stoße ich die Haustür auf und schlage gleichzeitig mit meinem Ellebogen gegen den Lichtschalter. Der Flur riecht muffig und wirkt schmuddelig. Durchs Treppenauge spähe ich nach unten in den Kellerabgang, niemand zu sehen. In den oberen Etagen höre ich eine Tür auf gehen und wieder zu schlagen, aufgehen und wieder zuschlagen. Eine krächzende Frauenstimme scheint immer wieder ein Lied zu singen.


    „Auf geht’s, wie immer ist unser Ziel ganz oben.“ Seufzend und gequält lächelnd geht’s im Laufschritt die Treppe hinauf. Bereits in der zweiten Etage merke ich, wie mir unter Pullover, Schutzweste und Lederjacke der Schweiß ausbricht und innerlich verfluche ich jedes Gramm Ausrüstung, das ich mit mir herumtrage. Das Funkgerät in meiner Jackentasche schlägt dumpf immer wieder gegen meinen Körper. Der Kollege ist fitter als ich und erreicht den obersten Stock zuerst. Dennoch knallt die Wohnungstüre unserer Zielwohnung direkt vor seiner Nase ins Schloss, bevor er einen Fuß in den Spalt zwischen Rahmen und Tür schieben kann. Wieder zuckt er die Achseln und klopft. Laut hallen die Schläge seiner Faust durch das Haus. Hinter der Tür hören wir wieder die kratzige weibliche Stimme. Ein lautes unverständliches Gemurmel setzt ein und als ich gerade meinen letzten Schritt die Treppe hoch mache, öffnet die Tür sich wieder. Einen Moment bin ich irritiert und weiche einen kleinen Schritt zurück, die Hand fährt an die Waffe, denn ich sehe niemanden in dem Spalt hinter der Tür. Erst als wieder die Stimme ertönt, senke ich meinen Blick in Richtung Fußboden und blicke in das von tiefschwarzen Hämatomen übersäte und blutverkrustete Gesicht einer Frau mittleren Alters. Wir reagieren beide gleichzeitig. Der Kollege wirft sich gegen die Tür und ich schaffe es meinen Fuß in den Spalt zu zwängen, bevor die Tür krachend wieder zu schlagen kann. „Frau Schulze?“ Ich spreche lauter als beabsichtigt, meine Stimme überschlägt sich ungewollt. Ihr Körper liegt direkt quer vor der Tür, so dass wir diese nicht weiter aufbekommen ohne sie dabei noch mehr zu verletzen. Hinter ihr erkenne ich jetzt das reinste Schlachtfeld, ein enger Hausflur, umgeworfene Möbel, Dreck und auf dem Boden Blutlachen und an den Wänden blutige Handabdrücke und Wischspuren.


    „Rettungswagen?“ Die Stimme des Kollegen holt mich aus meinen Überlegungen. Ich nicke und stemme mich gegen die Tür um einen größeren Blickwinkel in die Wohnung zu erlangen. Die Frau am Boden summt vor sich hin und reagiert auf uns fast gar nicht. Mein Kollege nimmt das von mir hingehaltene Funkegerät und verständigt einen Rettungswagen. Sein Blick ist schockiert auf die Frau am Boden gerichtet. „Notarzt?“ unschlüssig warte ich einen Moment mit meiner Antwort und schüttele dann den Kopf. Im Geiste gehe ich die möglichen Szenarien durch, was uns hinter der Tür erwarten könnte. Ich versuche mit der Frau zu reden, die immer noch vor sich hinsummt und immer wieder mit kraftlosen Händen versucht meinen Fuß aus dem Türspalt zu schieben. „Danke. Wir kaufen nichts. Sie können jetzt gehen. Winke winke. Alles gut. Die Kleine ist doch da.“ In einem leichten Singsang spricht sie vor sich hin. Mir wird unwohl vor der Tür. Weder sehe ich, was in der Wohnung passiert, noch weiß ich, wie viele Personen noch drin sind. Ich trete von einem Fuß auf den anderen.


    Mein Blick fällt auf das Klingelschild. Zwei Namen, nicht einer. „Frag nach, wer noch hier gemeldet ist.“ Ich hab noch nicht ausgesprochen, als der Kollege die Frage schon ins Funkgerät spricht.
    Meine Gedanken überschlagen sich. Häusliche Gewalt und der Täter ist vielleicht noch in der Wohnung? Ein versuchtes Tötungsdelikt? Ich bin ratlos und unwillkürlich trete ich einen Schritt vom Türrahmen weg. Ich stehe hier wie auf dem Präsentierteller, schießt es mir durch den Kopf, wenn da noch wer drin und bewaffnet ist. Dennoch lasse ich meinen Fuß in der Türöffnung und versuche diese stetig zu vergrößern, während die Frau am Boden von der anderen Seite gegen die Tür drückt und an meinem Fuß herumnestelt. Im Geiste sehe ich mich schon die Waffe ziehen und in die Wohnung stürmen, sobald ich die Gewissheit habe, dass hier mehrere Personen gemeldet sind. In der Wohnung ist es jedoch bis auf das jetzt monotone Gemurmel der Frau. „Die Kleine ist doch da. Ist ja alles gut. Lalilu. Die Kleine ist noch da. Alles ist gut. Könnt wieder gehen. Polizei. Könnt wieder gehen.“ komplett still.


    Dann passieren zwei Dinge auf einmal, im Funkgerät knistert es und ich höre wie durch Watte den Kollegen auf der Wache sagen. „Da sind nur Frau Schulze und ihre Tochter gemeldet…. –Stille-… Scheiße, die Kleine ist erst 4!“ Bereits als der Funker „Scheiße“ sagt, fällt mein Blick auf die in Kniehöhe an der Wand angebrachten kleinen Fingerzeichnungen. Rote Farbe auf weißem Grund und das Werk sehr kleiner Finger. Die blutige Farbe ist geronnen und die Wand hinunter gelaufen. Blut, alles voll Blut, schießt es mir durch den Kopf. Während der Funker weiter spricht, tausche ich mit meinem Kollegen einen stummen Blick ohne Worte werfen wir uns jetzt beide gegen die Tür ohne Rücksicht auf die am Boden liegende immer noch summende Frau. Sie wird über den dreckigen Boden zur Seite geschoben, kreischt laut und tritt um sich. Die Wohnungstür öffnet sich, ich gerate ein wenig aus dem Gleichgewicht und taumele in die Wohnung. „Behalt sie im Auge!“ zische ich und mache mich mit der Hand an der Waffe daran, die Wohnung zu durchsuchen.


    Überall liegen Müllberge. Laut mache ich mich bemerkbar. „Polizei! IST DA WER?“ Mir schlägt nur Stille und der metallische Blutgeruch aus nahezu jedem Zimmer entgegen. Mein Blick fliegt von rechts nach links. Ich höre, wie der Kollege die Frau befragt, aber nur wenige klare Antworten bekommt, während ich mir in dem Chaos aus Müll und Unrat einen Überblick zu verschaffen suche. Die ersten drei Zimmer sind leer. Eins ist eindeutig ein Kinderzimmer. Überall liegen Glasscherben und Hundekot. Auf dem Sofa im Wohnzimmer finde ich den dazugehörigen Hund röchelnd und augenscheinlich halb verdurstet, verdreht der kleine räudige Mischling bei meinem Anblick die Augen und jault. Mit zitternden Fingern ziehe ich die Wäscheberge und Decken vom Sofa, die ganze Zeit darauf gefasst ein totes Kind zu finden. „Das ist ein Tatort, ein Tatort. Faß so wenig an, wie möglich. Tritt nirgendwo drauf. Paß auf, hier kann noch wer sein. Paß auf!! “ Halt es in meinem Schädel wieder, doch je länger meine vergebliche Suche dauert, umso schneller bewege ich mich und umso fahriger werden meine Bewegungen.

  • Das vierte Zimmer scheint eine Art Schlafzimmer zu sein. Unter Gerümpel erkenne ich das Bett. Das Fenster ist offen und im Raum ist es eiskalt. Mit dem nächsten Blick erfasse ich den kleinen blutigen Arm, der aus einem Stapel Decken auf dem Bett herausragt. Mir entfährt ein Schrei, ich stürme nach vorne, unterdrücke den ersten Impuls, die Decken zu Boden zu werfen und fasse nur den kleinen Arm an. Er ist eiskalt, mir wird schlecht. Würgend die Übelkeit unterdrückend und vor Angst, was ich jetzt finden werde, falle ich auf die Knie neben dem Bett, schiebe vorsichtig die Decken beiseite. Der kleine nackte Körper ist eiskalt. Mit zitternden fingern taste ich nach dem Hals des kleinen Mädchens, dessen lange blonden Haare blutverkrustet an ihrem Kopf kleben, sie trägt nichts außer einer schmutzigen Windel. Ich rufe durch die Wohnung zu meinem Kollegen. „Kind gefunden!“ Seine leise Frage „Lebend?“ will ich gerade trotz des dicken Froschs in meinem Hals verneinen, als die Kleine die Augen aufschlägt und mich ansieht. Mir fällt der größte Stein meines Lebens vom Herzen, beim Blick in diese kleinen runden hellblauen Kinderaugen. Ich rechne damit, dass ihr Gesichtchen sich zu dieser hässlichen kleinen Fratze verzieht, die weinende Kinder schneiden. Doch sie sieht mich nur still an und wirkt plötzlich uralt.


    Dann lächelt sie und ihre kleinen weißen Zähnchen blitzen auf. Sie streckt mir ihre eiskalten Ärmchen entgegen und flüstert. „Bist du ein Engelchen? Nimmst du mich mit?“ Nicht in der Lage ihr zu antworten, nicke ich und nehme sie vorsichtig auf den Arm. Am Boden in einer getrockneten Blutlache sehe ich eine kleine Hose und einen schmutzigen Pullover. Während ich dem Kollegen die erleichterte Antwort gebe, dass die Kleine offensichtlich munter ist. Streife ich ihr die Kleidung über. Streiche ihr vorsichtig das krustige Haar aus dem Gesichtchen und ziehe ihr auch noch zwei Schuhe an, die ich auf einem der Regale stehen sehe. Sie ist zart wie eine kleine Elfe. Mit wenigen Blicken und vorsichtigen Berührungen am Kopf habe ich erfasst, dass sie offenbar unverletzt ist und das Blut nicht ihres. „Die Mama ist krank. Ich muß fein leise sein.“ Ich schlucke hart, bevor ich antworte. „Ja, die Mama ist krank. Die kommt jetzt zum Arzt und du kommst mit uns. Ein bisschen spielen. Wäre das toll?“ Sie strahlt mich an. „Ja das wäre toll. Gibt es bei euch auch etwas zu trinken und kann man auf einem Wölkchen im Himmel sitzen?“ Ich nicke und trete mit ihr in den Flur.


    Mein Blick begegnet dem meines wirklich sehr jungen und unerfahrenen Kollegen, wie mir plötzlich bewusst wird. Er wirkt nicht nur schockiert, sondern ich sehe, dass er mit den Tränen kämpft. Auf alles hat man ihn im Studium vorbereitet, auf Bombenanschläge, auf schreckliche Unfälle, auf Gewalt, aber auf so was? Auf so was wohl eher nicht. Vorsichtig kauert er neben der Frau am Boden, streicht ihr ein wenig hilflos mit der Hand über das Haar und sieht mich und das Kind immer wieder fassungslos an. Ich gebe ihm ein paar Minuten, um sich zu sammeln und trage die Kleine ins Kinderzimmer. „Dann laß uns mal ein Stofftier aussuchen, dass wir mitnehmen. Was meinst du?“ Meine Stimme ist hell, klar und ich lächel verkrampft. Fröhlich klettert sie von meinem Arm und hopst mit den kleinen Füßchen über die Hundescheiße und die Glasscherben am Boden in ihr Zimmer. Im nächsten Moment hat sie einen kleinen Stoffesel unterm Arm. „Esel kommt mit, Esel kommt immer mit. Esel, wir gehen mit den Engelchen. Darf ich auch ein Buch mitnehmen? Damit du mir was vorlesen kannst?“ Als sie auch das ausgesucht hat, höre ich endlich die Sanitäter im Flur.


    Ich hebe die Kleine wieder hoch und betrete mit Stofftier und Buch ausgerüstet den Flur. Auf dem Boden neben der Frau kauern jetzt zwei Sanitäter und versuchen ihre Verletzungen zu begutachten. Als sie mich mit dem Kind in dem total verdreckten und mit blutigen Wandzeichnungen versehenen Flur stehen sehen, entgleisen ihre Gesichtszüge. Der eine senkt sofort den Blick, so als würde das Kind verschwinden, wenn er es nicht länger ansieht. Der Andere formt mit den Händen tonlos das Wort „FUCK!“ Mein Kollege lehnt im Hausflur am Treppengeländer und gibt die Informationen an die Wache weiter. Ich bin froh, dass er so gut ausgebildet ist, dass er das alleine hinbekommt und quetsche mich an der Frau und den Sanis vorbei ebenfalls in den Flur. Die Kleine strahlt ihn an und ich sehe, dass es ihm gut tut, ihr Lächeln zu sehen. „Kommst du auch mit spielen? Bist du der Freud von dem Engelchen?“ Mit einer kleinen blutigen Hand zeigt sie auf mich. Er lacht sie an und ich sehe, wie auch dieses Lachen ihm hilft, mit der Situation klar zu kommen. „Ja, ich komm auch mit spielen.“ Die Kleine klatscht in die Hände offenbar total unbeeindruckt von der absurden Situation und klettert von meinem Arm auf den des Kollegen. „Liest du mir was vor?“ Total perplex nickt er und lässt sich auf dem Treppenabsatz mit ihr nieder. Ich höre meine Stimme ziemlich rau und trocken, fast tonlos „Kommst du damit klar?“ Er nickt und beginnt sofort vorzulesen. Benjamin Blümchen.


    Seine Stimme beruhigt nicht nur die Kleine, sondern auch ich gewinne wieder Halt und finde zu den Dingen zurück, die getan werden müssen. Während ich wieder in die Wohnung gehe, mit meiner Kamera Fotos von allem mache, schallt immer wieder glückliches Kinderlachen vom Flur in die Wohnung herüber. Ihre Mutter hat mittlerweile aufgehört zu wimmern und wird von den Sanitäter gerade in einen Transportstuhl gehievt. Sie sperrt sich, tritt und schlägt und kreischt plötzlich los. „IHR NEHMT MIR MEIN KIND NICHT WEG!“ Ich sehe, wie einer der Sanitäter, dass tut, was auch mein erster wütender Impuls war, er hebt die Hand zum Schlag, bevor seine Finger jedoch auf ihr total verquollenes Gesicht klatschen, treffen sich unsere Blicke und seine Hand verharrt bewegungslos in der Luft. Die Frau kreischt weiter. Wir sehen uns stumm an, langsam schüttele ich den Kopf und sein Blick samt Hand senken sich. Auch ich bin wütend auf die, wie ich jetzt rieche total betrunkene Frau, auf die Zustände, auf jeden, der das hier möglich gemacht hat. Auch auf die Nachbarn, denen erst wenn ihre Nachtruhe gestört wurde, einfällt, die Polizei zu rufen. Auch ich würde sie am Liebsten schütteln und schlagen, aber das ist es, was uns zu den Guten macht, wir können uns beherrschen in solchen Situationen.


    Knipsend gehe ich mit der Kamera von Raum zu Raum. Banne das Chaos auf meine Speicherkarte. Der Hund liegt immer noch röchelnd auf dem Sofa auch sein Fell ist voller Blut. Vorsichtig betaste ich ihn, finde aber nur kleine Schnittwunden an den Pfoten, die er sich vermutlich beim Laufen über die Glassplitter zugezogen hat.
    Im Wohnzimmer finde ich dann endlich die Dinge, die mir helfen zu verstehen, was passiert ist. In einer Ecke ist eine große Blutlache, zerbrochene Bierflaschen kleben in der geronnenen schleimigen Masse. An einer Ecke des schweren Marmortischs klebt ein Fetzen Kopfhaut mit Haaren. Vor meinem inneren Auge sehe ich die Frau betrunken durch die Wohnung taumeln, sehe sie ausrutschen und fallen. Ich höre das Knirschen, als ihr Kopf mit Wucht aufschlägt und sie bewußtlos in die Bierflaschen fällt. Ich habe das Blut vor Augen und sehe die Kleine, wie sie sich blutige Finger holt, als sie der Mutter helfen will, deren Arme und der Rücken von den Glasscherben zerschnitten wurden.
    Keine Straftat, kein versuchter Mord, kein prügelnder Ehemann, lediglich ein Sturzgeschehen im Alkoholdusel. Ich wische mir mit der Hand über die Augen und höre im gleichen Moment die kleine helle Kinderstimme. „Die Mama ist gefallen. Ich hab sie aber untersucht. Ist alles in Ordnung. Bald ist sie wieder gesund. Lies mir noch eine Geschichte vor.“ Die ruhige Stimme meines Kollegen erklingt wieder, als er weiter liest.


    Nirgendwo finden sich Ausweispapiere. Ich schalte alle Lampen und elektrischen Gerät ab. Die Sanitäter tragen die mittlerweile still auf dem Transportsitz hockende Frau die Treppe runter. Ihr Kopf schlackert von links nach rechts. Mit ihrem noch intakten Auge versucht sie mich zu fixieren. „Wenn du mir mein Kind wegnimmst….“ Der Rest ihrer Drohung verhallt im Treppenhaus. Zwei Feuerwehrmänner erscheinen und packen den kleinen Hund, der sich mittlerweile ein wenig erholt hat und kläffend um uns herumläuft in eine Transportkiste.
    Müde schließe ich als letzte die Wohnungstür. Stumm und nur von der Stimme der plappernden Kleinen begleitet gehen wir durch den Hausflur. Nicht eine Tür öffnet sich. Niemand der Anwohner sieht nach, warum es so früh am Morgen so laut ist. Niemand interessiert sich für die Kleine mit dem strahlenden Lächeln.

  • Der Kollege setzt sich mit ihr auf den Rücksitz, ich suche seinen Blick im Rückspiegel, seine Tränen sind verschwunden, aber die Fassungslosigkeit ist noch da. Dahinter erkenne ich den Blick des Polizisten, die Härte, die man braucht, um an solchen Dingen nicht kaputt zu gehen. Noch nur ein kleines Flackern im Hintergrund, erkenne ich, dass es ihn zwar schockiert, dass er auf so was nie vorbereitet war, aber dass er schon klar kommen wird.
    Dass er die taktlosen und vor allem hilflosen Sprüche der Kollegen gleich wegstecken wird, dass er die Kleine mit ihrem blutigen blonden Haar, zwar vermutlich nie vergessen wird, aber dass sie für ihn auch nicht zum Problem werden wird. Vorsichtig stellt er der Kleinen die wichtigen Fragen. „Kocht deine Mama für dich? Hast du Hunger? Gehst du in den Kindergarten? Hast du Freunde? Wie oft hast du geschlafen, seit die Mama gefallen ist? Wo ist der Papa?“ Die Kleine plappert munter vor sich hin und kuschelt sich zutraulich an ihn.
    Beruhigt starte ich den Wagen und fahre zum Kinderheim.


    Zwei Stunden später stehe ich alleine auf der Wache in der Damentoilette, unsere Berichte sind geschrieben. Alle zuständigen Stellen benachrichtigt, die Kleine gut untergebracht. Unsere Arbeit ist getan. Ich stütze mich auf das Waschbecken und starre in den Spiegel. Im Gesicht habe ich eine kleine Blutspur, die ich vorsichtig wegputze. Ich spritze mir eiskaltes Wasser ins Gesicht und schaue wieder in den Spiegel. Mein Blick flattert und die Übelkeit ist wieder da. Das Gefühl der Panik, als ich das Kind erst nicht fand, klettert langsam wieder in mir hoch. Ein metallischer Geschmack macht sich in meinem Mund breit. Wütend spucke ich in das Becken und frage einen Gott, an den ich nicht glaube, warum er so etwas zulässt.


    Als ich den Blick wieder hebe, finde ich nach kurzer Suche auch in meinen Augen die Professionalität wieder, die heute kurz in einem Abgrund der Fassungslosigkeit verschwunden war. Auch ich werde damit klar kommen. Bei jedem Einsatz „Hilflose Person“ werde ich die nächsten Wochen ein leichte Ziehen im Bauch verspüren und die blutigen Fingerchen der Kleinen vor Augen haben. Heute Nacht werde ich von dem schaurig schwarz geschwollenen Gesicht ihrer Mutter träumen, aber in wenigen Tagen, wird die Erinnerung verblassen. Der Schock kleiner werden und die Erleichterung zwar unvorbereitet, aber trotzdem gerade noch rechtzeitig, gekommen zu sein größer.
    In Gedanken sehe ich die Kleine lachend mit anderen Kindern über die Wiese des Kinderheims laufen.
    Sie wird darüber hinweg kommen, man wird sich um sie kümmern.
    Aber wer kümmert sich um uns?


    Die Toilettentür geht auf. Mein junger Kollege steht in der Tür, stumm hält er mir eine Zigarette hin. „Rauchen? Reden?“ Ich denke an meine Notfallschokoriegel, mit deren Hilfe ich mir das Rauchen vor so langer Zeit auch in solchen Fällen abgewöhnt habe. Dann sehe ich seinen bittenden Blick. Nehme die Zigarette und gehe mit ihm vor die Wache. Auf einem Blumenkübel sitzend rauchen wir, inhalieren tief und blicken in die Sterne.
    „Wir waren noch rechtzeitig da oder?“ Ich nicke stumm.
    „Ich dachte, das Kind ist tot.“ Wieder stummes Nicken von meiner Seite.
    „Schreibst du darüber eine Geschichte?“ Er sieht mich verschmitzt an und wartet meine Antwort ab.
    „Ja,“ ich nicke ernst, „das ist definitiv eine Geschichte wert! Meine erste Geschichte seit dem Studium. Ein guter Schnitt, 3 Monate ohne Einsatz, der zur Verarbeitung eine Geschichte brauchte.“
    Er lacht. „Mach mich in der Geschichte ein bisschen sportlicher, ein bisschen schöner und ein bisschen mutiger, ja?“
    „Muß ich gar nicht. Du warst gut, so wie du warst.“ Ich überlege kurz, dann frage ich ihn: „Wie verarbeitest du das?“
    „Ich?“
    „Ja du. Ich schreibe uns eine Geschichte. Keine Schöne, aber eine die die Seele befreit. Was machst du?“
    Er überlegt, nur kurz, dann sagt er.
    „Ich rede jetzt grade mit dir. Das reicht schon. Glaub ich.“
    Kurz drücke ich seine Hand. Dann stehen wir auf, werfen die Kippen ins Gras und gehen in die Wache. Bereit für den Feierabend und morgen die nächsten Einsätze, auf die uns niemand vorbereiten kann… leider.

  • beklemmend...


    erschreckend...


    ... weil solche "Haushaltsunfälle" auch einem komplett nüchternen Menschen passieren können...


    *atmetmaltiefdurch*


    Danke für die Geschichte, BJ. :knuddel1
    Und auch mal ein Danke an all deine Kolleginnen und Kollegen von der Polizei, einfach mal so, weil zu leicht in Vergessenheit gerät, daß dieser Beruf viel mehr verlangt, als nur bei irgendwelchen Kontrollen zu nerven ;-) :knuddel1

  • Hallo Babyjane,
    eine schön (wenn der Ausdruck in dem Zusammenhang überhaupt passt) geschriebene, aber nervenzehrende, beklemmende Geschichte.
    Von meinem Bruder, der bei der Kripo ist, weiss ich, wie belastend solche Erfahrungen und Erlebnisse sind.
    Bekommt ihr regelmässige Supervision oder andere psychische Unterstützung, um
    die ganzen Erlebnisse verarbeiten zu können?

    lg butterfly49

    "Sapere aude" "Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen."
    (Quintus Horatio Flaccus)

  • Ich lese deine Geschichten immer gerne, Babyjane. Sie zeichnen ein Bild von der Realität, das man meint, so könne es nicht sein. Und doch ist es wirklich so real. Ich freue mich schon auf weitere geschichten von dir.
    =) :knuddel1

  • Wie gut, dass du schreiben kannst, und dann noch so, dass es die Seele rührt. Deine Geschichten sind in der Regel nicht heiter, aber unglaublich gut und einfühlsam geschrieben und ich habe den Eindruck, du wirst immer besser :anbet

  • BJ, bei deinen Geschichten bin ich immer so zerrissen, ob ich sie lesen soll. Ich find sie sehr gut und mag deinen Stil - aber sie erzeugen in mir Gefühle, die ich nicht sonderlich angenehm finde.


    Allerdings...Hut ab, sowohl vor der Geschichte an sich als auch vor deinem Job. :anbet

    With love in your eyes and a flame in your heart you're gonna find yourself some resolution.


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  • Der Einstieg ist ein bisschen holprig (so wiederholt sich das Wort "Einsatz" beispielsweise sehr häufig), im zweiten Teil wird's aber besser, und im letzten Drittel läuft's richtig rund. Ich empfinde die Story als etwas zu lang (ungefähr 70 Prozent der Textmenge würde m.E. ausreichen), aber das ist persönliches Empfinden. Der Schluss hat etwas für sich, aber ganz ungefährlich ist das nicht, dem Leser quasi zu erklären, dass er (auch) als psychischer Schuttablageplatz benutzt wird, hart ausgedrückt. Außerdem vermittelt das indirekt den Eindruck, Du würdest solche Erlebnisse irgendwie ... brauchen, um diese Geschichten schreiben zu können. Klar, das stimmt in gewisser Hinsicht ja auch, aber die Schlussfolgerung wäre trotzdem verkehrt (Du brauchst die Geschichten, um die Erlebnisse verarbeiten zu können, nicht umgekehrt). Verstehst Du, was ich meine?


    Ansonsten - natürlich - GUT!

  • Nach Hannover hab ich nun auch angefangen, Deine Geschichten zu lesen.
    Diese hier ist einfach nur gut.


    Gut in dem Sinne, daß sie mich sofort in ihren Bann gezogen hat. Der Inhalt stand so real vor mir. Das Kind und die Mutter waren so wirklich - beängstigend wirklich.
    Daß es immer wieder vorkommt - erschreckend und leider Realität.



    Das verarbeiten solcher "Fälle" ist bestimmt nicht so einfach, aber hier ist es ja gut ausgegangen.
    Der Sinn, einem Menschen, dem Kind, das Leben und hoffentlich auch die Zukunft gerettet zu haben hilft dabei denke ich.


    Fazit: Ich guck nur öfter hier rein, ob von Dir eine Geschichte da ist.