Man kann sich auch wortlos aneinander gewöhnen das muss gar nicht lange dauern - Annette Pehnt

  • Man kann sich auch wortlos aneinander gewöhnen das muss gar nicht lange dauern
    Ein Titel, der einen zu philosophischen Träumereien hinreißen lässt.


    Sechs mehr oder weniger wortlose Geschichten, abseits der heilen Welt, und doch aus dem vollen Leben gegriffen, hautnah, haarscharf, ohne Schnörkel. Gedankenblitze und Bewusstseinsströme mit wenig Interpunktion aber viel Intensivität.


    Der Titel des Buches findet sich in der ersten Geschichte wieder: Die Zugbegleiterin. Wer hat sich je Gedanken über die Person gemacht, die uns während der Eisenbahnfahrt mit ihrem “Ihre Fahrkarte bitte” stört? Für mich wird jedenfalls in Zukunft eine Fahrt mit der Bundesbahn nie mehr dasselbe sein.


    Wort bzw. Wörter sind der verbindende Faktor der einzelnen Erzählungen, ob es sich nun um gewöhnbare Wortlosigkeit handelt, um den Small Talk einer chinesischen Schönheitsspezialistin oder um das Erlöschen aller Wörter nach dem Tod der Mutter in “Der schwarze Stein”. Aus Worten entsteht manchmal ein Weg, sagt der Pfarrer. Nein, entgegnet die Ichperson, indem sie aus Erfahrung spricht, Worte verstellen nur Wege.


    Eine der Höhepunkte dieses Buches ist das etwas längere “Wünschen darf man sich alles”. Hier werden wir mit den Wünschen, Träumen, Ängsten, Sehnsüchten, Problemen und Gemeinheiten Behinderter in einem Heim konfrontiert. Plastisch, hautnah, haarscharf, unbarmherzig, schonungslos.


    Pehnt schreibt, wie sie denkt, grob und doch elegant, eintönig und doch melodisch, abschweifend und doch treffsicher, eine Schriftstellerin, auf deren Talent man (frau) neidisch werden kann.


    Ein frontaler Angriff auf den Leser, der gezwungen wird, mit den Hauptpersonen mitdudenken, mitzuleiden, mitzufiebern. Ein Angriff allerdings, gegen den man sich nicht wehrt, gar nicht wehren will.


    Die wortlose Aneinandergewöhnung erleben wir in optima forma in der letzten Geschichte, “Georg”. Hatte ich bisher geglaubt, das Präsens sei der durchschlaggebende Faktor in der Überzeugungskraft der Pehnt, werde ich jetzt Lügen gestraft. Die Wortlosigkeit kommt mit aller Macht zurück, so konfrontierend, dass es wehtut.


    Es ist gerade diese Wortlosigkeit in den Geschichten, die uns fast sprachlos macht. Die Alltagswelt reduziert auf Bilder, fein gestrichelte Stillleben, wortlose aber aussagekräftige Szenen.
    Die Pehnt beherrscht ihre Stilmittel, ob es nun um inneren Dialog oder Bewusstseinsstrom geht.


    Fazit: unbedingt empfehlenswert.

  • @ KleineMitBrille: ich finde den Buchtitel so schön und aussagekräftig. Ist das der Titel von einer der Geschichten?


    Ich wollte schon immer was von Pehnt lesen und dieses hört sich toll an.
    Danke für die interessante Rezi! :wave

  • Cookiemonster
    Nein, der Titel des Buches kommt nicht als Erzählungstitel vor. Wohl aber kommt der Satz wortwörtlich in der ersten der 6. Erzählungen vor, die den Titel trägt: Die Zugbegleiterin.


    Das Buch enthält übrigens 4 kürzere Geschichten von ca 20-30 Seiten und 2 längere mit ca 50-60 Seiten.

  • Interessante Buchvorstellung; dafür mal herzlichen Dank. Der Titel wurde notiert, mal schauen wann er es auf die Kaufliste schafft. :wave

    Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst. (Evelyn Beatrice Hall)


    Allenfalls bin ich höflich - freundlich bin ich nicht.


    Eigentlich mag ich gar keine Menschen.

  • Sechs Erzählungen umfaßt das jüngste Buch von Annette Pehnt, wobei die letzte, Georg, schon beinahe ein Kurzroman ist. Ein typischer Pehnt, kann man über diese Sammlung sagen, stilistisch und nach der Auswahl der Themen. Ein grundlegendes nimmt der Titel vorweg, die Sprachlosigkeit, die das Charakteristikum aller Figuren ist und auch das verbindende Element dieser Geschichten. Mit ihrer Beschreibung der Unfähigkeit zu kommunizieren schafft Pehnt in diesen Miniaturen eine fast gespenstische Atmosphäre. Leben diese Menschen eigentlich? fragt man sich, während man ihnen zusieht, wie sie ihren Alltag durchmachen. Sie sind da, gleiten aber zugleich darin herum, wie Geister. Sie schließen sich an niemanden an, nicht einmal an Situationen oder Dingen können sie haften bleiben. Es ist schwer zu entscheiden, ob sie die Welt durch eine Glasscheibe sehen oder Leserinnen und Leser die Figuren wie seltene Tiere hinter einer gläsernen Trennwand beobachten. Sind sie ausgesperrt oder beschützt? Ihr Leid ist greifbar, bedingt zugleich aber ihre scharfe Beobachtungsgabe, ihre Einsichten und Erkenntnisse. Sie sind höchst beredt, ihre Monologe perfekt formuliert, aber wenn sie mit anderen sprechen, werden sie mißverstanden. Auch ihre Gesten führen nicht zu echten Kontakten.


    Gestaltet ist das alles mit höchstem Geschick, die Sprache ist nahezu perfekt eingesetzt. Die Perfektion führt aber auch zu einer gewissen Glätte, sehr schnell ist ein gleichbleibend hohes Niveau erreicht, das einlullend wirkt. Handlung und die schön gebauten Sätze bilden ein Gleichmaß, das sich nicht verändert. Darüber kann man leicht den Blick dafür verlieren, worum es in diesen Geschichten tatsächlich geht, um Flucht und Ausbruch nämlich.


    Wählt man schon einen Titel aus einer der Geschichten, so wäre man besser beraten gewesen mit dem Titel der fünften Wünschen darf man sich alles, anstatt einem zwar wichtigen, aber keineswegs allein charakteristischen Satz aus der allerersten Erzählung.
    Wünschen darf man sich alles ist die auf den ersten Blick am ehesten als rundum befriedigend zu empfindende Geschichte, erzählt sie doch von psychisch und körperlich schwerstbehinderten Kindern. Aber man darf nicht vergessen, daß hier Pehnt erzählt und ihre Welt eine einzige Falle für die Betroffenen ist. Zu denen gehören auch ihre Leserinnen und Leser. So geht es hierbei keineswegs um Empathie für die schwersten Formen von Behinderung, sondern um die Unmöglichkeit, die Gefangenschaft hinter sich zu lassen.
    Alle sind sie eingesperrt, hinauswünschen darf man sich, aber die Versuche scheitern. Das muß auch Anna, die neue und ganz junge Betreuerin erleben. Ihre Flucht endet in Äußerlichkeiten. Kurz war sie ohnehin, wie die Befreiungsversuche aller in diesem Erzählungen. So werden sogar Wünsche schon schal, ehe man sich noch daran gemacht hat, sie sich zu erfüllen. Vielleicht hat nur Billie recht, der mit Pinseln malt, die in einer Halterung auf seiner Stirn eingehakt werden können, weil er seine Gliedmaßen nicht koordinieren kann. Er malt die Welt nur braun und grün, zart grau und blau, Himmel und Felder. Harmonisch. Immer gleich, weil er es so will. Er ist Schöpfer und Gefangener zugleich. Eine sehr moderne und ebenso bedrückende Einsicht.

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus