Mit gesenktem Blick - Tahar Ben Jelloun

  • Originaltitel: Les Yeux baissés


    Kurzbeschreibung (von Amazon):
    Der Roman erzählt die Geschichte eines marokkanischen Berbermädchens aus einem kleinen Dorf im Hohen Atlas. Sie lebt dort in sehr ärmlichen Verhältnissen, bis ihr Vater sie eines Tages zu sich nach Paris holt, wo er Arbeit gefunden hat. Sie beginnt nun in einer völlig fremden Welt ein neues Leben, immer hin und her gerissen zwischen zwei Kulturen.


    Über den Autor:
    Tahar Ben Jelloun wurde 1944 in Fes (Marokko) geboren. Er studierte Philosophie in Rabat und Psychologie in Paris, wo er seit 1971 lebt. Für seinen Roman "Sohn ihres Vaters" erhielt er den Preis der antirassistischen Bewegung "SOS Racisme", für "Die Nacht der Unschuld" 1987 den bedeutendsten französischen Literaturpreis, den "Prix Goncourt".


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    Meine Meinung:
    Ein Berberdorf im Hohen Atlas Ende der 1960er Jahre. Hier lebt Fathma mit ihrem kleinen Bruder Driss bei der verhassten Tante Slima, die selbst keine Kinder bekommen kann und ihre rachsüchtige Bosheit jeden spüren lässt. Driss geht zur Koranschule, Fathma erhält keine Schulbildung. Doch sie erfindet wundervolle Traumfiguren in Traumwelten, hat ihr eigenes Alphabet aus geheimen Zeichen und zieht sich, wenn das Leben unerträglich wird, in ihre versteckte Grotte zu ihrem Hofstaat aus Kieselsteinen zurück. Und das Leben ist oft unerträglich - die Tante misshandelt die Kinder und deren Mutter tut aus Angst nichts dagegen, denn die Tante kann angeblich hexen. Die Tage vergehen langsam und eintönig, Fathma kümmert sich um die Tiere und träumt sich weg von diesem trostlosen Ort. Nur Frauen, Alte und Kinder, Skorpione, Schlangen und Ratten leben noch hier. Die Männer sind fortgegangen, weit weg nach Frankreich, um zu arbeiten, auch Fathmas Vater. Das Dorf wartet auf den Sommer, denn dann kommen die Männer zu Besuch und bringen ein wenig Leben in den roten Staub zurück.


    Driss ist Fathmas Vertrauter, er allein darf ihre Grotte betreten. Oft träumen sie gemeinsam, meist vom Vater, den sie sehr lieben und vermissen, und von "Lafrance", dem Wunderland, in dem der Vater jetzt lebt. Eines Tages stirbt Driss ganz plötzlich an einer Vergiftung durch die Tante, und der verzweifelte Vater kehrt zurück und nimmt Fathma und ihre Mutter mit nach Frankreich, um sie dem Einfluss seiner Schwester, der Hexe, zu entziehen.


    Fathma findet sich im neuen Leben in Paris schwer zurecht. Sie spricht nur Berberisch, hat kein Zeitgefühl, kann nicht lesen und schreiben und Driss ist nicht mehr da, mit dem sie ihre Ängste teilen könnte, Zitat (S. 59): "Neue Dinge waren auf mich eingestürmt, und ich wollte sie verstehen. Ich hatte das Gefühl, von heute auf morgen taubstumm geworden zu sein, von meinen Eltern vergessen und in eine Stadt geworfen, wo alle mir den Rücken kehrten, wo niemand mich ansah oder mit mir sprach. Vielleicht war ich durchsichtig, unsichtbar, vielleicht wurde ich wegen meiner dunklen Hautfarbe mit den Bäumen verwechselt. Ich verbrachte Stunden neben einem Baum. Niemand blieb stehen …" Sie beginnt sich erst einzuleben, als sie die Schule besucht und begeistert zu lernen anfängt.


    Auch in Paris gibt es Gewalt: rassistisch motivierte Anschläge. Fathma führt Tagebuch über die Todesopfer. Der Vater zieht mit der Familie aus der Gouette-d'Or, dem Araberviertel in Paris, in eine Sozialwohnung in der Vorstadt, wo es sicherer ist.


    Fathma kann sich nicht von ihrem Dorf lösen und fühlt sich oft wie in zwei Hälften, die nicht recht zueinander passen wollen. Sie macht sich wie alle jungen Mädchen Gedanken über die Liebe, und zur Liebe gehört in ihrem Volk der gesenkte Blick als Zeichen der Achtung und der Scham. Sie weigerte sich schon als kleines Mädchen, den Blick zu senken - dies blieb den seltenen Momenten mit ihrem Vater vorbehalten. Als Erwachsene setzt sie durch, dass sie einen Abendländer heiraten darf, wenn auch nach den Riten ihres Stammes. Die Ehe ist schwierig, denn auch hier treffen völlig unterschiedliche Einstellungen zum Leben aufeinander. Fathma verabscheut Unterwürfigkeit und schleudert ihrem Mann ihre Wahrheiten ungefiltert und ohne gesenkten Blick ins Gesicht. Es bleibt offen, ob ihre Liebe und Ehe zu retten ist.


    Die Handlung ist eingebettet in die Legende von einem Schatz, der am Fuß des Gebirges versteckt sein soll. Ein Mädchen soll eines Tages dem Stamm den Weg zum Schatz zeigen. Fathmas Stamm glaubt, dass sie dieses Mädchen sei. Zwanzig Jahre nach ihrer Auswanderung kehrt sie ins Dorf zurück, weil es sie nicht loslässt, und wird von den Menschen gezwungen, sie zu dem imaginären Schatz zu führen …


    Die Geschichte ist mit vielen Traumsequenzen verwoben und gleitet stellenweise ins Surreale; bei manchen Passagen bleibt unklar, ob sie in der realen Welt oder nur in Fathmas Gedankenwelt geschehen. Sehr real ist allerdings die Zerrissenheit des Mädchens zwischen zwei Welten. Für mich ist insbesondere der Teil nach der Ankunft in Paris sehr gelungen, ein Beispiel: Der Vater erklärt Fathma die Uhr und die Uhrzeit; sie prägt sich gewissenhaft ein, wann er zur Arbeit geht und wann er zurück kommt - doch er hat arbeitet in Schichten und sie kommt wieder völlig durcheinander.


    Und die Legende von dem Schatz? Das Hauptproblem in dem Dorf ist, dass die Leute - mit gesenktem Blick - in ihrer Schicksalsergebenheit verharren und keine Versuche unternehmen, ihre Lage zu verbessern. Es gibt kein Wasser und keinen Strom; das Dorf wurde anscheinend vergessen. Die Menschen leben einfach und sterben einfach, heißt es an einer Stelle. Menschlich sind sie trotzdem, die meisten zumindest, und als sie sich endlich aufmachen, um den Schatz zu suchen, ist der erste Schritt getan, um ihr Leben in die eigenen Hände zu nehmen.


    Das Buch ist wundervoll geschrieben und voller Poesie, der Tahar Ben Jelloun ist eine Entdeckung für mich. Vermutlich habe ich nur Bruchteile der vielen Gleichnisse verstanden - ein Grund mehr, das Buch wieder zu lesen.