Kartographie - Kamila Shamsie

  • Originaltitel: Kartography


    Klappentext:
    Freundschaft und Liebe vor dem Hintergrund politischer und ethnischer Unruhen in Pakistan.


    Raheen und Karim kennen sich, seit sie denken können. Sie lieben »ihr« Karatschi, die gewalttätige, aufregende Millionenstadt. Als Kinder zweier eng miteinander verknüpfter Familien wachsen sie heran: Raheens Vater war mit Karims Mutter verlobt, bis er aus ethnischen Gründen diese Verbindung löste. Ein lange gehütetes Geheimnis beeinflusst auch die Kinder und vertreibt sie als Jugendliche aus der Stadt, die von Rassenunruhen erschüttert wird. Jahre später kommen sie in der geliebten Stadt wieder zusammen.


    Über die Autorin:
    Kamila Shamsie wurde 1973 in Pakistan geboren und lebt heute in London und Karatschi. Vor "Kartographie" veröffentlichte sie die Romane "In the City by the Sea" (1998) und "Salt and Saffron" (2000). Beide Romane gewannen Literaturpreise. Der aktuellste Roman ist "Verglühte Schatten".


    Meine Meinung:
    Raheen und Karim sind zusammen aufgewachsen. Sie sind einander so vertraut, dass einer die Gedanken des anderen zu Ende denken kann. Ihre Eltern sind seit ihrer Jugend eng miteinander befreundet; nichts konnte das Quartett auseinanderbringen. Nicht einmal die Tatsache, dass sie sich irgendwann entschlossen, ihre Partner zu tauschen: Raheens Vater war früher mit Karims Mutter verlobt, Raheens Mutter mit Karims Vater. Was damals passierte, wissen die Kinder nicht.


    Mit dreizehn Jahren werden sie in den Ferien zu ihrer Tante auf eine Farm geschickt, weil 1987 die Lage daheim in Karatschi zu unsicher ist. Es kommt immer wieder zu Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen ethnischen Gruppen. Auf der Farm kommen Raheen und Karim dem Rätsel um ihre Eltern ein Stück näher. Es ist der Zeitpunkt, an dem Karim verkündet, dass er Kartograph werden möchte. Denn niemand kennt die Namen der Straßen von Karatschi. Eine Wegbeschreibung funktioniert nicht mit Straßennamen, sondern mit Geschichten, die mit den Straßen verbunden sind: die Straße, in der man einmal einen Autodieb getroffen hat, der Kreisverkehr mit dem stillgelegten U-Boot … Raheen versteht Karim zum ersten Mal nicht mehr: Wozu braucht man Karten? Man kommt doch wunderbar ohne zurecht. Das Leben in Karatschi spielt sich ohnehin in einem engen Rahmen ab. Ohne Begleitung darf sie nirgends hin - nicht nur, weil sie ein Mädchen ist, sondern weil es nicht sicher ist, auch und gerade nicht für sie als Tochter der High Society. Das Mädchen verdängt das Karten-Problem wie auch viele andere Dinge, die sie einfach nicht sehen will. Das Geheimnis der Eltern hat mit 1971 zu tun - damals war Krieg. Raheen will es nicht hören und schwört sich, niemals danach zu fragen.


    Nach den Ferien macht Karims Vater Ernst: Er bringt seine Familie nach London in Sicherheit. Raheen muss sich von Karim trennen. Es ist das Ende eines Lebensabschnitts zu viert. Karim und Raheen sind auch Teil eines Quartetts, zu dem noch der Junge Zia und das Mädchen Sonia gehören. Vieles bleibt zwischen Raheen und Karim unausgesprochen und in den Briefen ungeschrieben.


    In Rückblenden erfährt der Leser, was 1971 geschah. Damals war es Karims Mutter, die während des Krieges gegen Ostpakistan aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit als Bengali zu den Feinden gehörte. Nun ist es Sonja, die als muslimisches Mädchen eine arrangierte Ehe eingehen soll, aber keine edle Abstammung vorweisen kann, so dass trotz des Reichtums der Eltern kein Bräutigam in Sicht ist. Und Zia, der sie liebt, kommt für Sonias Eltern nicht in Frage.


    Kann sich die Geschichte der Eltern wiederholen?


    Neben den beiden Vierergruppen gibt es in diesem Roman eine weitere Hauptfigur: Karatschi. Kamila Shamsie malt ihr Karatschi in wunderschönen und abschreckenden Bildern, es gibt die Magie der prächtigen Stadt am Meer, aber auch Todesopfer von Schießereien, Kriminalität, Unsicherheit, terroristische Anschläge. Monsunregen, Salz auf der Haut, Straßen ohne Namen, eine besondere Art der Freundschaft, die in einem unzuverlässigen System von Gesetzen und staatlicher Kontrolle unerlässlich ist.


    Die Liebesgeschichte von Raheen und Karim hat für meinen Geschmack einige Längen, zu viel Hin und Her; auf einige Missverständnisse hätte die Autorin getrost verzichten können. Die sparsame Einflechtung von Fakten über den Krieg von 1971 und die Abspaltung Bangladeshs wirkt stellenweise ein wenig bemüht, bildet aber die Grundlage für die Darstellung der ethnischen Konflikte, die Pakistan bis heute immer wieder erschüttern. Doch einige wunderschöne Sprachbilder und eine kunstvoll verwobene Geschichte machen das Buch zu einem lesenswerten Schmöker für alle, die Liebesromane vor exotischer Kulisse und mit realem Bezug mögen.