Wolf, Maryanne: Das lesende Gehirn.
Wie der Mensch zum Lesen kam - und was es in unseren Köpfen bewirkt
Spektrum Akademischer Verlag 2009. 350 S. 27 Abb., Softcover
ISBN: 978-3827421227
26,95€
Taschenbuchausgabe 2010
ISBN 978-3827427472
14,95€
Über die Autorin:
Maryanne Wolf leitet das Center for Reading and Language Research an der Tufts University. Die Professorin für kindliche Entwicklung arbeitet auf dem Gebiet der kognitiven Neurowissenschaften mit dem Forschungsschwerpunkt Dyslexie (Legasthenie) und ist eine international angesehene Expertin für die Zusammenhänge zwischen Lesen und Gehirn.
"Ich habe mein Leben in den Dienst der Wörter gestellt: Ich versuche herauszufinden, wo in den verborgenen Winkeln des Gehirns sie sich verstecken, untersuche ihre vielschichtigen Bedeutungen und Formen und weihe junge Menschen in ihre Geheimnisse ein."
Verlagstext:
Wie hat die Menschheit das Lesen gelernt? Und wie lernen Kinder lesen? Was geschieht in unseren Gehirnen, wenn wir uns diese Kulturtechnik aneignen? Wie werden aus den kleinen schwarzen Schnörkeln in unseren Köpfen Bilder, Vorstellungen, Gefühle und fremde Welten?
Was bedeutet Lesen für unsere individuelle Entwicklung – nicht nur in unserer Kindheit, sondern unser ganzes Leben hindurch –, und in welcher Wechselwirkung stehen Lesen und Schreiben mit Kultur und Zivilisation? Was können wir aus Lese-Rechtschreib-Schwächen über die Prozesse im Gehirn lernen?
Sind wir, was wir lesen?
Zum Inhalt:
"Ich bin mir sicher, wenn ich mit prüfendem Blick in umgekehrter Reihenfolge durch die Bücher meiner Kindheit hindurchlesen könnte, würde sich mir meine gesamte Entwicklung erschließen. Das Kind lebt im Buch; doch genauso sehr lebt das Buch im Kind." Elizabeth Bowen
Maryanne Wolf ging als Kind in eine einklassige Schule. Alle Schüler saßen im gleichen Raum, die erste Klasse in der ersten Reihe, die zweite in der zweiten Reihe usw. Für das Weiterrücken in die nächste Reihe mussten bestimmte Leistungen erbracht werden. Am Beispiel eines Jungen, dem das Lesenlernen besonders schwer fiel, konnte die kleine Maryanne erkennen, mit wieviel Geduld die Lehrerin jeden Tag nach dem Unterricht mit diesem Schüler übte. Wolfs Kindheitserinnerung enthält bereits einen großen Teil dessen, was sie als Professorin für die kindliche Entwicklung und Neurowissenschaftlerin später über den Leselernprozess herausfinden sollte. Das Lesenlernen ist ein komplizierter Prozess, für den nur ein begrenztes Zeitfenster zur Verfügung steht - wichtig ist die Zuwendung der Person, die das Lesen fördert - Kinder brauchen eine persönliche, individuelle Leseförderung.
Die Autorin geht zunächst zu den Sumerern, den Erfindern des Leselernprozesses, zurück. Die Sumerer ließen ihre Kinder Wortgruppen in Keilschrift in feuchte Tontäfelchen pressen. Nur weil unser Gehirn durch Erfahrung formbar ist, waren die Menschen damals flexibel genug, um Lesen zu lernen. Wolfs Forschungen an Legasthenikern haben ihr gezeigt, welche Voraussetzungen für den Prozess des Lesenlernens nötig sind. Lange bevor ein Kind in die Schule geht, braucht es einen Erwachsenen, mit dem es gemeinsam Bilder ansieht, der ihm Geschichten erzählt und Reime vorspricht, bis es schließlich erkennt, dass die kleinen schwarzen Zeichen in Büchern eine Bedeutung haben. Vorlesen ist Grundlage der emotionalen Reifung; denn Geschichten erzählen Kindern über Gefühle. Mit dem Vorlesen von Geschichten entwickelt sich Verständnis für andere; denn wer selbst eine reiche Sprache hat, versteht andere besser. Kindern lernen aus Geschichten, auch aus dem Ungesagten Schlüsse zu ziehen und sich ein eigenes Urteil zu bilden. Die Fähigkeit und die Schnelligkeit eines Kindes Dinge zu benennen, weisen bereits früh darauf hin, wie erfolgreich später das Lesenlernen verlaufen wird.
Der Wortschatz, den ein kleines Kind entwickelt, entscheidet darüber welche Bedeutung es in einem Text finden kann. Für unseren Wortschatz gilt, dass die Reichen immer reicher werden und die Armen immer ärmer. Ein geringer Wortschatz bei 5-Jährigen ist später kaum wieder aufzuholen. Wortarmut zeigt sich in der 6. Klasse als Rückstand um 3 Schuljahre, ein ungeheure Verschwendung von Resourcen. Kinder, die den Schritt vom entziffernden zum verstehenden Lesen bis zur dritten Klasse noch nicht vollzogen haben oder einfach zu langsam lesen, sind in unserem Schulsystem nicht vorgesehen. Wie Luke, der selbst feststellte, dass er die Texte seiner Arien nicht schnell genug lesen konnte, um sie singen zu können, bleiben sie meist unentdeckt.
Ein Legastheniker ist nach Wolf eine Person, die Probleme mit dem Rhythmus von Sprache oder eine geringe Verarbeitungsgeschwindigkeit für Texte hat. Aus dieser Definition die richtige Folgerung zu ziehen, dass mit Witzen, Sprachspielen und Kinderreimen die Bereitschaft zum Lesenlernen gefördert wird, sollte nicht schwer fallen.
Die Bedenken, die Sokrates gegen die Entwicklung einer Schriftsprache vorbrachte, vergleicht Wolf mit den Sorgen heutiger Eltern, ihre IT-versierten Kinder könnten Informationen zukünftig nur noch in winzigen Häppchen verarbeiten und deren Wahrheitsgehalt nicht mehr beurteilen. Sokrates fürchtete, der Übergang zu einer Schriftkultur würde die Menschen glauben lassen, etwas zu wissen, während sie erst über einen Bruchteil des Wissens verfügen. Für ihn war das Memorieren Fundament persönlichen Wissens, das im Dialog mit einem Lehrer weiter verfeinert werden muss. Auch Maryanne Wolf befürchtet, dass wir zu einer Generation von Informationsdekodierern werden könnten, die ihr geistiges Potenzial nicht ausschöpfen, weil sie glauben, schon alles verstanden zu haben. Ob Schüler erfolgreicher sein werden, die wieder mehr Texte auswendig beherrschen, wird aktuell gerade wieder temperamentvoll diskutiert.
Fazit:
Weshalb sollten Eltern oder Erzieher das Buch einer auf Legasthenie spezialisierten Neurowissenschaftlerin lesen?
* Weil aus jeder Zeile ihres Buches geradezu ansteckend Wolfs Liebe zu Büchern spricht.
* Weil Maryanne Wolf uns anhand vieler Zitate und Anekdoten zeigt, wie wir frühzeitig die Bereitschaft zum Lesenlernen, Medienkompetenz und Kritikfähigkeit unserer Kinder fördern können.
* Weil sie zu einem komplizierten Problem eine plausible, kostengünstige Lösung bereit hat:
Kinder brauchen für ihre normale Entwicklung ein gemeinsames Gespräch am Familientisch, Bücher und lesende Menschen, die ihnen ein Vorbild sind.