Antje Jürgens - Etanas Söhne 2 - Glaube

  • Kaum eine andere aus unseren Träumen und Ängsten entstandene Spezies ist mit so vielen Klischees behaftet, wie die Vampire. Knoblauch, Sonnenlicht und Holzpfähle sollen uns vor ihnen schützen. Soweit mein bisheriges Wissen auch im momentan herrschenden Hype rund um dieses Genre in Literatur und Medien.
    Nach Lektüre des ersten Bandes des sehr umfangreichen Werkes von Antje Jürgens musste ich an anderer Stelle einräumen, dass sie es versteht, eine ganz andere Welt, gar eine den Vorurteilen gänzlich konträr laufende Rasse zu zeichnen. Und darum war ich natürlich gespannt auf Band 2. Die Geschichte setzt sich fort und wir erleben Wesen, die man auf den ersten Blick nicht von uns unterscheiden kann. Dies liegt nicht nur an Jürgens klarer Zeichnung der einzelnen handelnden Personen, vielmehr besonders an deren aktuellen Problemen, die genau dieselben sind, die wir weitestgehend als ‚normal’ zu bezeichnende Menschen auch haben. Der tägliche Kampf um Zuneigung, Anerkennung und Liebe, die innere Schlacht gegen sich selbst, wenn man erhaltene persönliche Kritik als richtig erkennt, jedoch dies nicht seinem Umfeld gegenüber zugeben will, die vielen Missverständnisse, denen wir uns nicht nur in den engsten Beziehungen auch immer wieder gegenübersehen und die wir auf die für uns beste Art und Weise meistern müssen. All dies verarbeitet die Autorin geschickt und spannend. Die bereits aus Band 1 bekannten Paare zeichnet Jürgens auf deren Lebensweg weiter. Dabei schafft sie eine auf einen engen Raum begrenzte Umgebung. Die Etanaer versuchen, so wenig wie möglich in die Welt der Menschen einzugreifen. Eben nur soviel, wie sie es benötigen, um selbst zu überleben. Ihnen zur Verfügung stehende Kräfte sind genau die, die wir uns als Menschen doch nicht nur manchmal sehnlich wünschen. Wer wollte sich nicht durch den bloßen Wunsch zu einem fernen Ort begeben, wer nicht genau die Gedanken seines Partners oder auch eines für ihn einflussreichen Fremden ergründen und wer, ja auch dies, wer nicht die Sinne einer Frau oder eines Mannes so beeinflussen, dass eventuell bestehende Abneigungen sofort ins Gegenteil verkehrt werden. Haben wir Menschen Ärger, wollen wir diesen meist an etwas auslassen, dürfen es jedoch aus gesellschaftlichen Zwängen heraus nicht tun. Könnten wir es auf eine Art, die zum Beispiel nur den Raum um uns herum zum Erfrieren brächte, so gäbe es vielleicht auch weitaus weniger Patienten mit Magengeschwüren, denn wir müssten nichts in uns hineinfressen. Während der Lektüre nimmt uns Jürgens auf eine ganz feine Art mit in diese doch so fremde und bekannte Welt, lässt uns teilhaben an weitaus innigeren Hochzeits- und Trauerzeremonien, die die vielen positiven und beruhigenden Einflüsse der Religionen der Welt mit nirgends bisher umgesetzten zusätzlichen Wünschen der Trauernden oder sich Freuenden verbinden. Nur Friede, Freude, Eierkuchen? Nein, bei Weitem nicht! Wie überall im Leben gibt es einen Gegenspieler. Ein Wesen, das zum Ziel gesetzt bekam, die doch heile Welt der Etanaer zu zerstören, sie zu jagen, zu töten, um selbst zu überleben. Eine Schlacht. Zwischen all den positiven Eindrücken aus dem Leben dieser Fremden unter uns müssen sie sich wehren. Nicht, weil der Feind nur ihr Ego verletzt, wie es leider in vielen Kriegen rund um unsere fast zu klein gewordene Erde immer wieder geschieht. Nein, die Etanaer sind in Gefahr. Aber gab ihnen ihr Herr, ihr Erschaffer, ihr Gott überhaupt Kraft, Mittel und Möglichkeiten, sich gegen solche Niedertracht zu wehren? Und wie sehen die, die doch gar keine Etanaer sind, sich aber an Jürgens Vampire gebunden fühlen, wie sehen sie diesen Kampf? Stehen sie zu ihrer neuen Familie oder nutzen sie die sich ihnen bietenden Möglichkeiten, um sich zu wehren, sich gar von ihnen zu befreien? Die Autorin schafft einen ungeahnten Spannungsbogen, der den Leser in seinen Bann zieht. Jürgens versteht es, Fiktion und Wirklichkeit zu verbinden. Ihre Vampire leben überall auf der Welt und können auch ohne Mord und Totschlag, ausgesaugte Körper und finstere Keller leben und überleben. Der Leser hat von Anfang an das Gefühl, mit dabei zu sein, die Türen, die Jürgens öffnet, nicht nur zu sehen, sondern wirklich zu durchschreiten, die Figuren seit Jahren zu kennen, mit ihnen befreundet zu sein. Das Klischee war gestern. Heute gibt es Etanas Söhne! Ein Buch für ruhige Stunden? Wenn man weiß, dass Fenster und Türen fest verschlossen sind, ja! Ein Buch zum Weiterlesen? Natürlich, denn der offene Ausgang verlangt nach mehr! Ein Buch zum Empfehlen? Uneingeschränkt. Schon, weil der Leser nach der Lektüre eine erweiterte Sicht auf sich und sein Leben haben wird.