Laura Alcoba: Das Kaninchenhaus

  • OT: Manèges. Petite histoire argentine 2007
    übers. von Angelica Ammar


    Wie erinnert man sich an eine Kindheit in einer Zeit der Diktatur? Wie an ein Kinderleben im Untergrund?
    Ich wollte immer, schreibt die Autorin gleich auf der ersten Seite, aber nie schien es der richtige Moment. Irgendwann kam ich sogar zu dem Schluß, ich müßte dafür alt sein, sehr alt.


    Was ist Erinnerung, wie erinnert man sich? Wann darf man sich erinnern?
    Die kleine Ich-Erzählerin dieser Geschichte ist sieben Jahre alt, wir sind in La Plata, in Argentinien, im Jahr 1975. Die Eltern sind seit Jahren Montoneros, sie saßen bereits deswegen im Gefängnis, der Vater ist zu Beginn der Geschichte gerade wieder inhaftiert. Die Mutter ist untergetaucht. Die Kleine lebt bei den Großeltern, solide, konservative Bürger, die dennoch bemüht sind, die Kinder und die Enkeltochter zu behüten. Daß Polizeiautos vor der Tür stehen und alle ständig beobachtet werden, gehört zum Alltag.
    Das Kind weiß von Anfang an, worum es geht. Es kennt die Gefahr und ist zum Schweigen verpflichtet. Es nimmt seine Verpflichtung ungeheuer ernst. Eines Tages nimmt die Mutter, die immer noch im Untergrund lebt, es zu sich.


    Die kleine politische Zelle, zu der sie gehört, verbirgt sich in einem Haus am Stadtrand. Im Haus ist eine geheime Druckerei untergebracht, hinter Kaninchenställen. Nach außen hin betreiben die BewohnerInnen eine Kaninchenzucht.
    Ein normaler Kinderalltag ist nahezu unmöglich, der Schulbesuch gefährlich, Spielen mit anderen Kindern unmöglich. Die Kleine darf nicht einmal ihren Namen sagen. Jedes Gespräch mit Nachbarn kann tödliche Gefahr nach sich ziehen.
    Vertrauenspersonen und auf eine seltsame Art Freunde werden die MitkämpferInnen der Eltern. Sie vermitteln ein wenig Schulwissen, wenn sie Zeit dafür haben, der Nachmittagskakao wird an einem Tisch getrunken, an dem man vor lauter Schmieröl vom Waffenreinigen kaum einen sauberen Fleck findet. Und die Unruhe wächst mit den imer brutaleren Reaktionen von Polizie und Militär.


    In Episoden und Momentaufnahmen läßt Alcoba ihre Protagonistin, die fiktionale Gestalt und zugleich sie selbst, von etwa zehn Schreckensmonaten sprechen, von 1975 bis zum März 1976, als Mutter und Tochter, getrennt, aus Argentinien fliehen. Unterbrochen werden die Erinnerungen, die berührend genau den Kinderblick auf die Ereignisse wiedergeben, von Reflexionen der inzwischen erwachsenen Ich-Erzählerin, die sich bemüht, Fragen, die sie als Kind in der damaligen Situation nicht beantworten konnte, zu lösen oder auch den Dingen aus heutiger Sicht nachzugehen. Was dabei beeindruckt, ist, daß die Erzählstimmer niemals schwankt, der Fluß der Erinnerung ist an keiner Stelle unterbrochen, gleich, ob das kleine Mädchen spricht oder die Erwachsene.


    Ein Rückblick von 2003, dem Erscheinungsjahr der Erzählung, ergänzt das weitere Schicksal der Mitglieder der Gruppe, mit denen das Mädchen gelebt hat.
    Sehr dicht erzählt, sehr traurig, bestürzend in seiner Tragik, bestechend in seinen Reflexionen über das Erinnern, bezaubernd in der sprachlichen Umsetzung.


    Eine Anmerkung: erschienen ist das Buch auf französisch, die Autorin lebt seit den späten siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts im Exil in Paris.

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

  • Der Rezi von magali ist nichts hinzuzufügen. Ein fast zu kurzes (119 Seiten) da so wunderbares Buch. Im Gegensatz zu "Wer war Eva Mondino?" fühlt man hier die Bedrückung und Beklemmung und wie magali schon schrieb, ist eigentlich das bewundernswerteste, wie durchgängig authentisch die Stimme der Ich-Erzählerin ist. Lediglich den deutschen Titel finde ich nicht sonderlich gelungen, aber mit denen habe ich 99% aller übersetzten Bücher so meine Probleme.