Sineb El Masrar: Muslim Girls. Wer wir sind, wie wir leben

  • Sineb El Masrar: Muslim Girls.
    Wer wir sind, wie wir leben
    Eichborn Verlag 2010
    206 Seiten. 14,95€
    ISBN-10: 3821865334


    Verlagstext:
    Sie sind sexy, sie sind selbstbewusst und sie sind muslimisch


    Muslimische Frauen begegnen uns fast überall, und doch wissen wir nur, dass sie unterdrückt, zwangsverheiratet und zwangsverhüllt sind. Stimmt nicht, sagt Sineb El Masrar: »Ich lebe selbstbestimmt, wie viele von uns«.


    Sie sind selbstbewusst, frech und lebensfroh. Tagsüber studieren sie BWL und abends sind sie Privatsekretärinnen ihrer in Behördenfragen oft unbeholfenen Eltern. Du triffst sie auf der Party eines Kommilitonen und sie flirten mit Mehmet, Christoph oder vielleicht auch Enrico. Sie sind Muslima 2.0, und sie sind keine Opfer, sondern eigenwillige Frauen, die ihr Leben selbst in die Hand nehmen. Mit oder ohne Tuch auf dem Kopf.


    Die marokkanisch-stämmige Autorin Sineb El Masrar erzählt, wie die junge muslimische Frauengeneration hierzulande ihr Leben lebt, was sie beeinflusst, wie sie um Unabhängigkeit kämpft und wo sie ihren Platz in der Gesellschaft sieht. Das Bild der muslimischen Frau in der Öffentlichkeit trifft nicht die Lebenswirklichkeit vieler junger Musliminnen. Sineb El Masrar spricht aus, was viele von ihnen denken: Augen auf, wir sind längst angekommen!


    Zur Autorin:
    Sineb El Masrar,1981 als Tochter marokkanischer Einwanderer in Hannover geboren, wuchs in der niedersächsischen Provinz auf. Nach zwei Ausbildungen als Erzieherin und Kauffrau und einigen Stationen in der Marktforschung, an Grundschulen und in der Filmbranche gründete sie im Jahr 2006 das multikulturelle Frauenmagazin "Gazelle". El Masrar saß 2006 in der Arbeitsgruppe "Medien und Integration" der Integrationskonferenz von Maria Böhmer im Kanzleramt und ist heute Teilnehmerin der Deutschen Islam-Konferenz. Sie lebt und arbeitet in Berlin.


    Zum Inhalt:
    "Wir zeigen gern, was wir können, wenn man uns lässt". Junge muslimische Frauen sind ehrgeizig, modebewusst, sie wollen sich stärker in den Medien und in der Werbung repräsentiert sehen, schreibt Sineb Al Marar, 1981 als Tochter marokkanischer Einwanderer in Deutschland geboren. Muslim Girls pauken für die Schule wie alle anderen Schülerinnen und verbringen einen Teil ihrer Freizeit in Online-Communities. Selbstverständlich gibt es unter muslimischen Mädchen Beauty Girls, It-Girls, Natural Muslim Girls, die pragmatisch Beruf und Familie miteinander verbinden möchten, und ehrgeizige High Potential Muslim Girls. Das Bild vom Leben muslimischer Frauen gründet sich bei Nichtmuslimen währenddessen noch immer auf klischeelastige Filme wie "Nicht ohne meine Tochter" und auf Abbildungen in vermeintlich kritischen Magazinen, die vollständig schwarz verschleierte Frauen in der Ansicht von hinten zeigen. Dass muslimische Frauen nicht den ganzen Tag weinend und unterdrückt zu Hause herumsitzen, will El Masrar mit gezielt gesetzten Nadelstichen verdeutlichen.


    Die Gründerin des multikulturellen Magazins Gazelle stellt klar, dass ein Kopftuch für eine verheiratete muslimische Frau ein angemessenes Kleidungsstück ist, NUR ein Kleidungsstück und deshalb deren persönliche Angelegenheit. Wir erfahren, was genau eine Burka, ein Nijab, Hidschab und Tschador sind, die alle aus der Golfregion stammen. Deutlich wird, dass die als Rechtfertigung für Unterdrückung und Gewalttaten angeführte Angst um den Ruf muslimischer Familien nicht zu den Regeln des Islam gehört.


    Am Beispiel von Algerien schildert El Masrar, wie Vorbehalte gegen Schulsysteme generell entstehen konnten, weil in der Sprache der französischen Kolonialmacht unterrichtet wurde und deshalb viele Kinder Analphabeten in ihrer Muttersprache blieben. Die Zuwanderung hochqualifizierter Akademiker aus dem Iran nach Deutschland (und die erfolgreiche Integration ihrer Kinder) zeigt, dass nicht pauschal alle Muslime als Türken etikettiert werden dürfen, wie ja auch nicht alle Migranten aus den Nahen Osten Muslime sind. "Staatsangehörigkeit heisst, man will an der Gesellschaft teilnehmen, dort wo man sich befindet" stellt El Masri für sich fest und untersucht, warum nur 20% der Muslime in Deutschland sich als Deutsche betrachten. Der deutsche Pass allein genügt dazu offenbar noch nicht.


    Die Biografie der Autorin ist ein Paradebeispiel für den Bildungserfolg junger muslimischer Frauen, der häufig erst auf Umwegen erreicht wird. Sie lobt ihren weltoffenen Vater, stellvertretend für viele ehrenamtliche Hausaufgabenhelfer die Mutter einer Klassenkameradin, die mit beiden Mädchen für die Schule übte, Öffentliche Bibliotheken, die den Wissenshunger ihrer Generation stillten, und nennt ihren eigenen Ehrgeiz, zur Realschule zu gehen, um Französich zu lernen. Sparmaßnahmen zu Lasten der Einrichtungen, die Bildung und Chancengleichheit von Kindern mit Migrationshintergrund fördern, widersprechen der derzeit von Politikern vehement eingeforderten Verpflichtung zur Integration.


    Eine klare Stellungnahme gibt Sineb Al Masrar für Deutsch als gemeinsame Sprache aller in Deutschland lebenden Menschen ab. Öffentliche Mittel sieht sie am Sinnvollsten in die frühkindliche Erziehung investiert, wo alle Kinder davon profitieren können, statt sie direkt den Eltern in die Hand zu geben.


    Mit ansteckendem Humor, teils auch erfrischend respektlos, teilt die Autorin eine Fülle wissenswerter Details aus dem Alltag muslimischer Familien mit. "Unsere Eltern verwiesen uns auf die Gesetze des Islam, doch in Wirklichkeit wussten sie selbst nicht, von was sie sprachen" (Beispiel Sure 24Al-Nur, Vers 30), die die männliche Keuschheit betrifft. Sie nimmt zum Klassenfahrtsverbot für muslimische Mädchen Stellung, lobt muslimische Frauen als Wirtschaftsfaktor (173 000 Betriebe werden in Deutschland von Frauen mit Migrationshintergrund geführt), informiert über Mode, Kosmetik und türkische Web-Communitys. Eine mediale Parallelwelt, die aktuell als Ursache misslungener Integration beklagt wird, sieht El Masrar nicht, da Migranten laut einer aktuellen Befragung mehrere Fernsehsender nutzen, auch deutsche. Unerwartet für mich war, wie hier eine junge Muslimin offen beschreibt, dass es wegen der Ungleichbehandlung von Mädchen und Jungen in muslimischen Familien heftigen Streit geben kann.


    Fazit:
    - El Masrar schreibt ironisch-humorvoll über ein ernstes Thema und scheut sich nicht, Deutschland als eine von Männern dominierte Welt zu zeichnen. Man empfindet großes Verständnis dafür, dass sich junge Frauen aus dieser von ihnen als patriarchalisch empfundenen Gesellschaft heraus nur ungern die eigene "Unterdrückung" vorhalten lassen.
    - Die Autorin bewirkt bei ihren Lesern eine differenzierte Wahrnehmung junger muslimischer Frauen.
    - Bildungschancen von Migranten bewertet die Autorin m. A. nach zu optimistisch und stark von ihrer eigenen Biografie beeinflusst. Wer selbst in keiner Parallelgesellschaft lebt, dem fällt es offenbar schwer, sich die Auswirkungen auszumalen, wenn bildungsferne Schichten sich durch Zuzug immer neuer Ehepartner ohne Deutschkenntnisse etablieren. El Masrar selbst war in der zweiten Generation in Deutschland weitgehend integriert. Die PISA-Studie und Erfahrungen von Lehrern zeigen jedoch, dass in einigen Bevölkerungsgruppen Deutschkenntnisse und Schulleistungen in der dritten Generation schlechter sind als die der Eltern der Schüler, die zur 2. Generation gehörten.
    - Einige der im Prinzip sinnvollen Forderungen klingen nicht konsequent durchdacht. Die geforderten Gesundheitsprogramme für Migranten mithilfe muttersprachlicher Multiplikatoren z. B. gibt es längst, es fehlen nur die muslimischen Mütter, die (mit ihren Kindern gemeinsam) daran teilnehmen.
    - "Nur" 36 Ehrenmorde an Frauen und 12 an Männern, die im Lauf von 10 Jahren in Deutschland begangen wurden, werden m. A. durch den Vergleich mit deutschen Straftätern verharmlost. Eine Tat wird nicht akzeptabler, weil in anderen Bevölkerungsgruppen ebenfalls Gewalttaten begangen werden.
    - Einige Behauptungen sind leider noch Wunschvorstellungen. Ein Kopftuch kann kein beliebiges Kleidungsstück sein, wenn wegen seines Nichtvorhandenseins getötet wird.


    Ein Buch, das das Lebensgefühl junger muslimischer Frauen in flotter Sprache vermittelt und das ich trotz der genannten Kritikpunkte mit Gewinn gelesen habe.