Der rote Schal - Wilkie Collins

  • Beschreibung:
    „Hüten Sie meinen Sohn vor seinem Namensvetter! Hüten Sie ihn vor der Frau mit dem roten Schal!“ bittet die sterbende Mrs. Armadale. Verhängnisvoll verknüpft sind die Schicksale Allan Armadales und seines Doppelgängers durch die Intrigen einer schönen, skrupellosen Frau. Wilkie Collins, Freund und Zeitgenosse von Charles Dickens, schuf mit diesem Roman ein ebenso spannendes Leseabenteuer wie mit seiner „Frau in Weiß“.


    Über den Autor:
    William Wilkie Collins (* 8. Januar 1824 in London; † 23. September 1889 ebenda) war ein britischer Schriftsteller und Verfasser der ersten Mystery Thriller. (wikipedia)


    Meine Meinung:
    Ein Buch, von dem ich keinerlei Ahnung mehr habe, wie es überhaupt auf meinem SUB gelandet ist – ich weiß nur, dass es dort schon Jahre liegt. Und das auch nur, weil der Autor in der Beschreibung als Freund von Dickens, den ich sehr schätze, bezeichnet wird; gehört hatte ich vorher von Wilkie Collins noch nie. Dementsprechend gering waren auch meiner Erwartungen vor dem Lesen, als ich es jetzt endlich im Rahmen des Alt-SUB-Abbaus befreit habe.


    Inhaltlich stehen zwei junge Männer, die beide – verknüpft durch eine tragische Geschichte im Leben ihrer Eltern – den Namen Allan Armadale tragen im Mittelpunkt. Dazu kommt noch Lydia, eine Frau, deren Absichten lange im Dunkeln bleiben, aber offensichtlich nicht gut sind. Die Wege der drei kreuzen sich, absichtlich und versehentlich, was zu vielen Verwicklungen und Toten führt. Neben der eigentlichen Handlung zeichnet der Autor noch ein sehr gelungenes Bild der viktorianischen Gesellschaft mit ihren schönen und weniger schönen Seiten.


    Im Nachhinein bedauere ich doch sehr, dass ich den Roman so lange ignoriert habe. Das Buch war nämlich ein schaurig-schöner Krimi, der mich an einigen Stellen stilistisch an Edgar Allen Poe erinnert hat. So spielen Aberglaube, (Alp)träume und Visionen eine große Rolle und es herrscht fast ständig eine bedrückte, spannungsvolle Stimmung. Wie mir ein Blick in wikipedia verraten hat, wurde der Roman 1866 geschrieben, was man ihm daran merkt, dass gern Tagebucheinträge und Briefe eingesetzt werden um die Handlung voranzutreiben. Bemerkenswert ist, dass, vielleicht abgesehen von einigen Nebenfiguren, niemand als total böse oder gut dargestellt wird. Die Personen entwickeln sich während der Handlung weiter und so kommt es beim Lesen dazu, dass man anstatt anfänglicher Abneigung auf einmal Sympathie oder Mitgefühl empfindet – oder umgekehrt.

  • Ich habe den Roman auch gerade aus dem untersten Fach hervorgeholt.
    Es ist sicherlich über 20 Jahre her, dass ich ihn gelesen habe. Mal sehen, wie ich ihn mit meinem "gereiften" Verstand erfassen kann.

  • Au ja, berichte dann bitte mal! Dieses Buch wurde einst auch sehr ansprechend verfilmt mit Ellen Schwiers (Mutter der ersten Tölzer Bullen-Gefährtin Katerina Jakob) in der Hauptrolle. Einer der beiden Darsteller des Allan Armadale soll Selbstmord begangen haben, sei es, weil er die Rolle, sei es, weil er den Ruhm, sei es, weil er das Verblassen desselben nicht verkraften konnte.
    Lesenswert ist übrigens auch: Die Frau in weiß.

    “Lieblose Kritik ist ein Schwert, das scheinbar den anderen, in Wirklichkeit aber den eigenen Herrn verstümmelt.”Christian Morgenstern (1871 – 1914)

  • Isiera, ich habe das Buch gerade begonnen - und kann Dir jetzt schon in vielen Punkten beipflichten. Die Stimmung ist typisch viktorianisch, und oft schaurig-schön.
    Aber ist es am Ende wirklich ein Krimi? Hm, ich empfinde es bislang eher als Lebensbeichte. Aber wir werden sehen.
    Bald schreibe ich meine eigene Rezension!


    Aber es stimmt, es lohnt sich oft wirklich, diese "alten Schinken" auszugraben. Die geraten oft völlig zu Unrecht in Vergessenheit.

  • Und hier ist sie, meine Rezi:


    Ich habe etwas gewartet, bevor ich mich an diese Rezension wagte. Das Buch ist ein wirkliches Kleinod viktorianischer Schreibkunst, ein wunderbarer Schmöker, der derart voller Details steckt, dass man erstmal "verdauen" muss. Das ist wahrhaftig andere Lesekost als heutige "Unterhaltungsliteratur"! Obwohl Wilkie Collins zu seiner Zeit auch so etwas war wie ein "Konsalik der Mittelschicht". Aber: man hatte damals noch eine andere Vorstellung davon, was Unterhaltung ist. Der Leser wurde als Mensch mit vielen Facetten und Interessen ernst genommen, die alle bedient wurden. Und er wurde, durch die komplexe Schreibweise, mitten in die Sinnkonstruktion und die Geschichte einbezogen.


    Der oben abgedruckten Inhaltsangabe habe ich nichts mehr hinzuzufügen. Daher möchte ich mich auf die Eigenheiten des Buches konzentrieren, die es für mich zu einem sehr runden Leseerlebnis gemacht haben.


    Mich hat, wie gerade eben angedeutet, vor allem begeistert, dass das Buch so viele Aspekte hat, und so viele mögliche Leser-Interessen anspricht. Es beginnt beispielsweise wie ein Krimi: ein mysteriöser, aber todkranker Engländer lässt sich in einem deutschen Kurort nieder, und diktiert seine Lebensbeichte einem Landsmann, der diese darauhin notariell hinterlegt. Schon allein dieser Prolog hat alles, was das Leserherz begehrt: Dramatik, Geheimnisse, ein Verbrechen in der Vergangenheit, Rache, Schuld, Liebe. Das Ganze wird grandios gespiegelt durch die sehr eigenen Figuren! Jeder ist ein wenig eckig und kantig, passt aber perfekt zur Story. Der gediegene Erzählstil vertieft diesen Eindruck nur.


    Im weiteren Verlauf könnte man das Buch noch in viele weitere "Schubladen" stecken, doch man hat als Leser nicht das Gefühl, dass auch nur einer dieser Aspekte zu kurz käme. Da wären zum Beispiel die teils vertrackten Liebesgeschichten, die immer wieder haarscharf gut - und dann wieder schief gehen.
    Und noch dazu das Setting in der englischen Mittelschicht, in der sich Gerüchte und Meinungen geradezu inflationär verbreiten - es war einfach köstlich! Ein wenig wie bei Jane Austen - wobei man aber sagen muss, dass Wilkie Collins doch eine deutlich entspanntere Haltung zu dieser Gesellschaft vertritt. Er kann es sich auch nicht verkneifen, immer wieder höchst bissige Abschnitte über die Torheit diverser Personen oder Zu- und Umstände einzuflechten. Das hätte sich eine Jane Austen nie erlaubt.


    Dann haben wir den Grusel- und Mystery- Aspekt, der ebenfalls gebührend behandelt wird. Es wimmelt in diesem Buch vor lauter Vorahnungen, Visionen, dräuendem Unheil, und Seelenqual. Sicher ist uns dies als heutigen Lesern ein wenig fremd - aber innerhalb der jeweiligen Charakterisierungen der beteiligten Personen wirkte alles organisch und logisch. Es gibt wunderbare Passagen über Nebel, Wolken, Parks und einsame Landstraßen, die man glatt noch einmal, um ihrer selbst willen, lesen könnte. Ganz große Schriftstellerkunst!


    Doch am eindrücklichsten blieben mir wohl die starken Hauptfiguren im Gedächtnis. Im wesentlichen haben wir es hier mit einer Dreier- Konstellation zu tun: der Freundschaft zwischen zwei Männern, die durch das Auftauchen der Dame mit dem roten Schal heftig auf die Probe gestellt wird. Obwohl sich einer der Männer im späteren Verlauf für eine andere Frau entscheidet, ist es doch die Dame mit dem roten Schal, auf die alles hinausläuft. Sie spielt im Showdown, wie man das heute nennt, die entscheidende Rolle. Und sie reißt gleich mehrere Personen ins Verderben. Ich denke jetzt noch, lange nach dem Zuklappen des Buches, an diese Figuren: Allan Armadale, sein Freund Ozias Midwinter, und - eben "Miss Gwilt", wie ich sie hier einmal nennen will. Denn wer sie wirklich war, bleibt am Ende offen.


    Ich muss noch erwähnen, dass es sich um keine "geradlinige" Erzählweise handelt. Das Buch ist sehr kunstvoll und komplex geschrieben. Da haben wir teils die bewährte auktoriale Erzählperspektive in der dritten Person. Dann wieder haben wir viele Dialoge, die aber sehr lebensnah und authentisch klingen. Dann wiederum Briefe und Tagebucheinträge. Testamente und Zeitungsartikel. Im mittleren Teil des Buches sind es hauptsächlich die Briefe, welche die Handlung vorantreiben- gegen Ende dann wieder Miss Gwilts Tagebuch. Das zwingt den Leser zur aktiven Teilnahme, zum "Mitbasteln" am Geschehen. Das Buch lässt sich insofern gewiss nicht gefällig "konsumieren"! Ein wenig erinnerte es mich in seiner Technik an die "Gefährlichen Liebschaften" - denn dort ging es ja auch um die Winkelzüge verschiedener Parteien, die man erst durch die Briefe entwirren musste.


    Insgesamt kann ich nur sagen, dass mich diese Lektüre gefordert hat - aber im sehr positiven Sinne! Ich konnte mich nicht zurücklehnen, sondern musste bewerten, miterleben, nachvollziehen. Zu keiner Zeit kam Langeweile auf, ich fühlte mich versetzt in einen gänzlich anderen Kosmos, in dem das Schreiben und Lesen von Büchern noch als das galt, was es bestenfalls auch ist: eine Reise ins Herz der Menschen.

  • Den Querbeet-Eulen sei Dank, denn ich durfte in der gemeinsamen Leserunde wieder ein kleines Lesejuwel für mich entdecken.
    Mit viel Freude habe ich diesen vielschichtigen Roman Stück für Stück entblättert und einen sehr gut komponierten Roman vorgefunden. Dabei haben mich die unterschiedlichen Facetten, aus denen Collins seinen Roman zusammensetzt, begeistert.

    Collins mutet seinem Leser ein regelrechtes Wechselbad der Stimmungen zu. Zu Beginn dominiert eine düstere, geheimnisumwobene Stimmung, in deren Mittelpunkt das Geständnis eines Verbrechens gerückt wird. Der todkranke Armandale diktiert dieses in seiner Sterbestunde einem Landsmann und verfügt, dass dieses verwerfliche Vermächtnis seinem Sohn als Lebensrichtlinie dienen soll. Derart belastet leidet dieser sein Leben lang unter dem bösen Vorzeichen, das sein Vater vor sein noch so junges Leben gesetzt hat.
    Unmittelbar vorher skizziert Collins mit spitzer Feder die Gepflogenheiten im deutschen Kurort Wildbad. Immer wieder streut der Autor Passagen mit gesellschaftskritischen Überzeichnungen ein, die dem Leser ein Gefühl für die Zeit geben, in der der Roman verfasst wurde und äußerst unterhaltsam sind.


    Durch einen Zufall lernt Armandale, der sich mittlerweile Ozias Midwinter nennt, seinen Gegenspieler kennen. Zwar tragen beide den gleichen Taufnamen, doch die beiden Freunde könnten unterschiedlicher nicht sein. Die beiden jungen Männer hätten einander nie begegnen sollen und immer wieder scheint es, als läge ein Fluch auf der doch innigen Freundschaft. Geschürt wird dies durch das Auftauchen der mysteriösen Frau mit dem roten Schal, die das Leben in dem beschaulichen Dorf gründlich durcheinanderbringt und ein geschicktes Netz aus Intrigen spinnt.


    Der Roman ist viel zu facettenreich, als dass ich alle Aspekte, die mich beim Lesen gefangen genommen haben, hier darstellen könnte. Herausstellen möchte ich den lebendigen Schreibstil Collins, der abwechslungsreich und spannend ist und durch wechselnde stilistische Mittel die Handlung stets vorantreibt. Meisterhaft spielt Collins mit ihnen, dass es eine wahre Lesefreude ist.
    Mein einziger Kritikpunkt ist, dass die meisten Figuren für meinen Geschmack zu plakativ bleiben.


    Mir hat das Buch sehr gut gefallen und ich vergebe 8 Punkte.

    Die eigentliche Geschichte aber bleibt unerzählt, denn ihre wahre Sprache könnte nur die Sprachlosigkeit sein. Natascha Wodin