Plädoyer gegen die Perfektion - Michael J. Sandel

  • Plädoyer gegen die Perfektion. Ethik im Zeitalter der genetischen Technik. Mit einem Vorwort von Jürgen Habermas. Von Michael J. Sandel. (The Case against Perfection: Ethics in the Age of Genetic Engineering)


    Klappentext
    Sollten wir uns auf die Herausforderungen einlassen, unser biologisch-genetisches Schicksal selbst in die Hand zu nehmen?
    Nun sind moralische Gefühle noch keine Argumente. Aber Gefühle haben einen propositionalen Gehalt, der sich explizieren und gegebenfalls begründen lässt. Auf diesem Wege möchte Sandel moralische Grenzen der Verfügung über die natürlichen Lebensgrundlagen von Personen begründen. Es geht ihm um eine philosophisch einleuchtende Erklärung des Gebots, nicht alles, was technisch machbar ist, in marktgängige Technologien umzusetzen. Aber sollte nicht in einer liberalen Gesellschaft die Nachfrage der Konsumenten darüber entscheiden, was angeboten wird? Wer darf sich zum Richter über die Präferenzen der Bürger aufspielen?
    (Jürgen Habermas, Klappentext)


    "Wir stecken in der verzwickten Lage, dass uns das neue genetische Wissen ermöglicht, unsere eigene Natur zu manipulieren. Obwohl die meisten Menschen das beunruhigend finden, lässt sich nicht so leicht sagen, warum."
    Michael J. Sandel plädiert gegen eine Medizin, die den Menschen nicht nur heilen und gesunden lassen, sondern überhaupt technisch verbessern will - mit allen dazu zur Verfügung stehenden Mitteln. Solche Praktiken sind uns geläufig als Doping oder Schönheitschirurgie, als medikamentöse Manipulation von Körpergröße, Muskelkraft, Stimmung und Gedächtnis oder zur pränatalen Bestimmung des Geschlechts.
    Für Michael J. Sandel ist der Drang nach Perfektionierung der natürlichen menschlichen Fähigkeiten ein Zeichen von Machtstreben, eine Anmaßung, die den "Geschenk-Charakter" des Menschseins verkennt und die Unverfügbarkeit unserer natürlichen Lebensgrundlagen verdeckt. Die politische Philosophie hat Fragen zu stellen, die die Moderne aus den Augen verloren zu haben scheint: spirituelle Fragen, die an der Grenze zwischen Philosophie und Theologie liegen.
    (Klappentext)


    Angaben über den Autor
    Michael J. Sandel promovierte in politischer Philosophie in Oxford und ist Professor in Harvard, am besten bekannt für seine Vorlesung "Justice", eine der meistgesehenen und bekanntesten Vorlesungen überhaupt. Er beschäftigt sich hauptsächlich mit Moral, Ethik und Gesellschaftssystemen.


    Auszug
    Vor einigen Jahren entschied ein Paar, dass es ein Kind haben wollte, vorzugsweise ein taubes. Beide Partner waren taub - und stolz darauf. Wie andere in der Gemeinschaft derer, die auf ihre Taubheit stolz sind, betrachteten Sharon Duchesneau und Candy McCullough Taubheit als Teil ihrer kulturellen Identität, nicht als Behinderung, die es zu beheben galt. "Taub zu sein ist nichts weiter als eine Lebensform", erklärte Duchesneau. "Wir fühlen uns als taube Menschen vollständig, und wir wollen die wunderbaren Seiten unserer tauben Gemeinschaft - ein Gefühl der Geborgenheit und der Verbundenheit - mit Kindern teilen. Wie sind ganz und gar davon überzeugt, dass wir als taube Menschen ein erfülltes Leben leben."
    In der Hoffnung, ein taubes Kind zu zeugen, wählten sie einen Samenspender, in dessen Familie seit fünf Generationen Taubheit auftritt. Und sie waren erfolgreich. Ihr Sohn Gavin wurde taub geboren.
    Die frischgebackenen Eltern waren erstaunt, als ihre Geschichte, über die in der Washington Post berichtet wurde, auf verbreitete Ablehnung stieß. Ein Großteil der Empörung drehte sich um den Vorwurf, sie hätten ihr Kind vorsätzlich mit einer Behinderung belastet. Duchesneau und McCullough (ein lesbisches Paar) bestritten, dass Taubheit eine Behinderung sei, und verwiesen darauf, dass sie schlicht ein Kind haben wollten, dass (sic) ihnen ähnlich sei. "Wir betrachten, was wir getan haben, nicht als so sehr anders als das, was viele heterosexuelle Paare tun, wenn sie Kinder bekommen", sagt Duchesneau.
    Ist es falsch, absichtlich ein taubes Kind zu schaffen? Wenn ja, was ist daran falsch - die Taubheit oder die Absicht? Nehmen wir um des Arguments willen einmal an, Taubheit sei keine Behinderung, sondern Merkmal einer besonderen Identität. Ist es dann immer noch falsch, wenn Eltern bestimmen und wählen, wie ihr Kind sein soll? Oder tun Eltern das immer: in der Wahl ihres Partners und, heutzutage, durch den Einsatz neuer Reproduktionstechnologien? [...]


    Eigene Meinung
    Vorab: Lest nicht das Vorwort von Jürgen Habermas. Weder inhaltlich noch sprachlich ist es mit dem Rest des Buches vergleichbar.


    Was ist Ethik in der Gen- und Biotechnologie? Womit wollen wir unser Dafür und Dagegen in der genetischen Untersuchung und Manipulation begründen? Wo ziehen wir die Grenze zwischen dem Erlaubten und dem Verbotenen? Ist es die Motivation hinter den Manipulationen die wir Ablehnen oder ist es das Ergebnis? Wann wird die Zahnspange von einer medizinischen Notwendigkeit zu einer gesellschaftlichen Pflicht der Verschönerung, und schließen wir damit ärmere Bevölkerungsschichten nicht schon im Kindesalter aus? Wodurch unterscheidet sich eine durch Genmanipulation verstärkte körperliche Leistungsfähigkeit noch vom heutigen Training Hochleistungssportler?
    Eine Menge schwieriger Fragen auf die es keine einfache Antwort gibt und auch keine geben kann. Das Beispiel aus der Leseprobe weiter oben ist dabei das noch mit Abstand harmloseste des Buches.


    Neben Romanen lese ich auch immer gerne Sach- und Fachbücher der unterschiedlichsten Wissensgebiete. Aber dass ich ausgerechnet ein Sachbuch als dasjenige auswählen würde, welches mir am besten gefallen und mich am meisten beeindruckt hat, überrascht mich selbst ein wenig. Es hat mein Leben nicht verändert, zugegeben, aber ich bleibe dabei, hier handelt es sich um mein (zumindest derzeitiges) Top-Buch. Nicht durch die sprachliche Kraft des Autors, er ist sicherlich kein Shakespeare oder Goethe, aber das ist auch nicht der Inhalt des Werkes. Einfach geschrieben ohne dabei jemals oberflächlich oder einseitig zu werden, liest es sich absolut flüssig und leicht verständlich (Lob auch an den Übersetzer!), trotz des sehr komplexen und kontroversen Themas. Und damit ein starker Kontrast zum Vorwort seines zumindest philophischen Gegners Habermas, der seine ihm eigene sprachlich verworrene Verquirlung zum Besten gibt.


    Durch das ganze Buch mit seinen unzähligen und teilweise verstörenden Fragestellungen und Beispielen zieht sich natürlich die Überzeugung des Autors, die er uns bereits im Titel verrät. Trotzdem bleibt es immer fair und ausgeglichen, zeigt Argumente und Gegenargumente auf und weist uns mehr als deutlich auf die Doppelmoral einer prinzipiellen Ablehnung der Gentechnologie hin.


    Gestoßen bin ich auf dieses Buch als ich vor wenigen Jahren an meiner Universität dabei war einen Kurs zur Bioethik vorzubereiten, und von allen Texten die sich finden ließen ist dieser hier der eindeutig beste und umfangreichste.
    Ein wenig Schade sind dabei höchstens die fehlenden Hinweise auf die praktischen Probleme - viele der befürchteten Anwendungen von Gentechnologien sind weder derzeit noch überhaupt jemals durchführbar. Dem Buch selbst, dem es um Ethik, Moral und Gesellschaft geht, tut das aber keinen wirklichen Abbruch.


    Welche Schlussfolgerungen können wir am Ende des Buches ziehen, welchen Weg sollten oder müssten wir bestreiten? Sandels Antwort, die er zwar nicht direkt gibt, aber die sich durchaus herauslesen lässt, ist vielleicht nicht völlig befriedigend aber die vermutlich einzig mögliche: Wir als Gesellschaft haben es in der Hand und müssen uns gemeinsam entscheiden was wir wollen und welchen Weg wir dabei einschlagen. Und dafür gibt uns Sandel einen hervorragenden Wegweiser an die Hand. Oder, wie ein ZEIT-Rezensent schrieb, "[...] Denn Sandel hat ja recht."
    Eine Pflichtlektüre für jede qualitative Diskussion zum Thema Gentechnik.


    Ein Wermutstropfen bleibt - es ist mit 25 Euro für knapp 150 Seiten Inhalt arg teuer.