Als echt Berliner Pflanze bin ich natürlich auch ein Fan des hiesigen Dialekts. Eine meiner Lieblingsautorinnen (die oft in diesem Dialekt schreibt) hatte ich heute mal wieder in der Hand und bin auf diese reizende, humorvolle Geschichte gestoßen. Die möchte ich euch nicht vorenthalten und zugleich ein wenig Mitleid mit den vielen lieben Weihnachtsmännern wecken, die am 24.12. hoffentlich an unsere Türen klopfen werden.
Der kleine Weihnachtsmann
Renate Holland-Moritz
"Von einem Menschen in so fortgeschrittenem Alter dürfte man eigentlich erwarten, dass er sich hochdeutsch auszudrücken versteht", sagte der Vater. "Wie auch immer", lenkte die Mutter ein, "wie kommst du denn darauf, mein Kind, dass der Papa den Weihnachtsmann gespielt hat? Wer erzählt denn sowas?" Der Sohn war beleidigt. "Den Osterhasen habt ihr ja schon zujejeben. Und mein Freund Gerrit sagt, der Weihnachtsmann is ooch bloß `ne Art Osterhase. Und ausserdem, wo war denn Papa immer, wenn der Weihnachtsmann kam, hä?"
Noch bevor die Mutter den frechen Ton rügen konnte, fuhr ihr der Vater dazwischen. "Nun, mein Sohn, wenn es so ist, wollen wir offen mit dir reden. Natürlich gibt es ebensowenig einen Weihnachtsmann wie einen Osterhasen, vom Klapperstorch ganz zu schweigen. Wenn du also auf den schönen Brauch verzichten willst, dann werden wir dieses Jahr ohne Weihnachtsmann feiern."
"Det is jemein!" Der Knabe heulte auf. "Ich will den Weihnachtsmann machen! Ick häng mir die Larve um und zieh Mamas Pelzmantel an, und denn müßt ihr Jedichte uffsagen und Lieder singen und versprechen, det ihr euch nich mehr zanken wollt." Seine große Schwester lächelte spöttisch. "Vor einem Weihnachtsmann, der so schrecklich berlinert, hat aber kein Mensch Respekt, mein Lieber." "Das stimmt allerdings", bestätigt die Mutter. "Denn werd isch mir ebend Mühe geben", versprach der Sohn. "Dürf isch, Papa?" "Du darfst mein Sohn", sagt der Vater, "vorausgesetzt, dass es diesmal ohne die übliche Hektik abgeht."
Die vorweihnachtlichen Tage verliefen wirklich anders, als die Familie gewöhnt war. Alle standen unter der Tyrannei des neunjährigen Weihnachtsmannes, der seine heiss erkämpfte Funktion bitterernst nahm. Sogar seine Redeweise glich sich spürbar der seiner erwachsenen Familienmitglieder an. Die alljährlichen Kabbeleien mit seiner Schwester beendete meist von sich aus, indem er von oben herab erklärte:"Isch werd misch doch nicht mit sone dämliche Henne streiten. Der Weihnachtsmann wird schon mit dir abrechnen!"
Er kümmerte sich sogar um die organisatorischen Dinge, die ihn bislang kaum beschäftigt hatten. Eine Woche vor dem Fest war er plötzlich verschwunden.Da er, wie die Anwesenheit seines Anoraks und seiner Stiefel bewies, das Haus nicht verlassen hatte, suchte ihn die Familie überall: in den Zimmer, auf dem Dachboden, unter den Betten und in den Schränken. Seine Schwester fand ihn schliesslich im Kohlenkeller, wo es ihm durch umschaufeln von mehreren Zentner Koks gelungen war, den Weihnachtsbaumständer ans Licht zu befördern. Dass er dabei seine Hausschuhe und seinen weissen Pullover ruiniert und sich selbst das Aussehen eines Schornsteinfegers verliehen hatte, störte ihn nicht.
"Meckert nicht, seid dankbar!", sagte er.
Vor einer erneuten Schimpfkanonade rettete ihn seine Schwester. "So unrecht hat er eigentlich nicht. Denkt mal an vergangenes Jahr, da haben wir den Ständer erst eine Stunde vor der Bescherung in der Kartoffelkiste gefunden. Und das Jahr davor gar nicht. Da stand der Baum in einem Eimer mit Sand, und deshalb ist er auch zweimal umgekippt."
"Das kommt von eurer bodenlosen Liederlichkeit", rief der Vater, "in dem Hause befindet sich ja kein einziger Gegenstand an dem Ort, an dem er gehört." Auf diese Töne reagierte die Mutter allergisch. "So viel ich weiss, bist du seit eh und je für die Weihnachtsbaumutensilien verantwortlich. Deshalb musste ich ja auch immer in letzter Minute bei den Nachbar Lametta borgen." "Das verbitte ich mir", sagte der Vater, "das ist eine glatte Verleumdung!"
"Immer zankt euch", krähte der Sohn im Vollgefühl kommender Macht, "der Weihnachtsmann wirds sich merken!" Sofort setzten die Eltern ihre friedfertigsten Minen auf und erklärten ihrem Sprößling, dies sei natürlich ein Scherz gewesen, und man freue sich über seinen Fund von ganzem Herzen.
Zwei Abende vor seinem festlichen Auftritt hatte der Sohn nochmal Gelegenheit, eine der üblichen Katastrophen zu verhindern. Die Eltern, die ihren Sohn längst schlafen glaubten, waren besonders guter Stimmung. "Ich kann es nicht mehr aushalten", sagte der Vater, "möchtest du nicht dein Geschenk jetzt schon haben?"
Ehe die Mutter antworten konnte, stand ihr Sohn im Schlafanzug auf der Türschwelle und maß seinen Vater mit vernichtendem Blick. "Sofort jibste det Jeschenk her, du Verräter!", zischte er. Der Vater war von diesem Überraschungsangriff so betroffen, dass er stillschweigend gehorchte.
Der Vormittag des 24. Dezember verlief ungewöhnlich friedvoll. Da der Sohn seit Stunden hinter seiner verschlossenen Zimmertür versuchte, all die von Mutter, Vater und Schwester abgelieferten Päckchen in einen Wäschesack zu stecken, konnte die Mutter in Ruhe den Braten begießen, der Vater den Baum schmücken und die Tochter noch schnell einen Topflappen zu Ende häkeln.
Endlich war es soweit. Der Weihnachtsbaum erstrahlte im Lichterglanz, das Radio spielte Weihnachtslieder, Vater, Mutter und Tochter saßen aufgeregt in den sesseln und warteten auf den großen Moment. Da klopfte es schaurig laut an der Tür. Als die aufgerissen wurde, ertönte der Befehl:" Alle Mann singen! O Tannenbaum!"
Die Familie sang alle Strophen des alten Weihnachtsliedes. "Isch komme von weit her", sagte der bärtige Zwerg, "und möchte mal ebend wissen, ob ihr auch immer schön artig gewesen seid." Die drei gestanden, dass sie durchaus artiger hätten sein können, würden aber von nun an sich die größte Mühe geben. Dann sagte jeder ein Gedicht auf, sang ein Lied und erhielt seine Geschenke. Während die Mutter, der Vater und die Tochter ihre Päckchen auswickelten und sich gegenseitig vor Freude um den Hals fielen, stand der kleine Weihnachtsmann ein wenig verloren in der Mitte des Zimmers und zupfte nervös an seinem Bart. Der Vater erhob sich. "Wir danken dir, lieber Weihnachtsmann, du hast uns viel Freude gebracht. Aber nun wollen wir dich nicht länger aufhalten. Auf Wiedersehen bis zum nächsten Jahr!"
Da begann der kleine Weihnachtsmann zu schluchzen, riß sich die Larve vom Gesicht, kletterte aus dem Pelzmantel und flüchtete in die Arme seiner Mutter. "Son Mist", schniefte er, "ick will nich Weihnachtsmann spielen, det is janz blöde. Der Weihnachtsmann soll zu mir kommen!" Mutter und Schwester trösteten ihn und versicherten, dies sei der schönste Weihnachtsabend, und er sei der beste Weihnachtsmann aller Zeiten gewesen. Und vor allem habe er so wunderbares Hochdeutsch gesprochen, dass man ihn wirklich nicht erkennen konnte. "Aber isch will kein Weihnachtsmann mehr sein", heulte er, "isch bin doch ein Kind und habe mir eine Eisenbahn gewünscht!"
In diesem Augenblick klopfte es an der Tür. "Herein", sagte die Schwester tapfer. Die Tür ging auf, und herein trat ein richtiger großer Weihnachtsmann mit einem langen roten Mantel. Er zog einen Schlitten, auf dem ein großes und viele kleine Pakete lagen. Der Sohn riss die Augen auf, als sei er unversehens ins Märchenland versetzt worden. Vorsichtshalber klammerte er sich an der Mutter fest.
"Entschuldigt", sagte der große Weihnachtsmann, "uns ist ein Fehler unterlaufen. Hier soll ein kleiner Junge wohnen, der noch nichts bekommen hat. Stimmt das?" "Ja", hauchte der Sohn. "Und isch kann auch ein Gedicht und Hochdeutsch und will zu meiner Schwester nie mehr dämliche Henne sagen!" Da freute sich der große Weihnachtsmann und überreichte dem Kleinen all die schönen Pakete.
Als der Sohn nach zwei Stunden immer noch selbstvergessen mit der Eisenbahn spielte, fragte sein Vater: "Na Kollege, wie hat dir denn unser diesjähriger Weihnachtsabend gefallen?"
"Prima, Papa", sagte er und zwinkerte ein bißchen mit dem linken Auge. "Nur schade, dass du wieder nicht da warst, als der richtige Weihnachtsmann kam!"