Dirk Radtke - Vergeltungsschlag. Die Aufzeichnungen des Tobias B.

  • Titel: Vergeltungsschlag. Die Aufzeichnungen des Tobias B.
    Autor: Dirk Radtke
    Verlag: Periplaneta Verlag Edition Totengraeber
    Erschienen: August 2010
    Seitenzahl: 352
    ISBN-10: 3940767573
    ISBN-13: 978-3940767578
    Preis: 16.99 EUR


    Das sagt der Klappentext:
    In einer Kleinstadt in Nordrhein-Westfalen ist es gestern zu einem Amoklauf gekommen. Dem Polizeibericht zufolge hat der 17-jährige Gymnasiast Tobias B. die grausame Bluttat im eigenen Elternhaus begonnen, wo er zunächst seinen Vater, dessen Lebensgefährtin sowie seine ein Jahr ältere Schwester mit gezielten Kopfschüssen aus einer Handfeuerwaffe tötete. Danach führte ihn der Amoklauf zu seiner Schule, wo er scheinbar gezielt Schüler aus verschiedenen Klassen aufsuchte und erschoss. Auch einen Lehrer soll der Amokläufer getötet haben. Augenzeugen beschreiben das Vorgehen wie eine Hinrichtung. Die Polizei geht davon aus, dass die Bluttat, bei der 13 Menschen starben, bereits lange im Voraus geplant war. Laut Zeugenaussagen war der Täter ein eher stiller, unauffälliger, in sich gekehrter Mensch. Niemand der Befragten hätte ihm eine solch grausame Tat zugetraut. Ungeklärt ist bislang noch das rätselhafte Ende der Tragödie, bei dem der Täter ein Buch vorgezeigt und den Ausruf Hier steht alles drin! getätigt haben soll, bevor er sich mit einem Schuss in den Kopf selbst richtete.


    Meine Meinung:
    Wie kommt es zu einem Amoklauf? Wie kann etwas so Schlimmes passieren? Wo liegen die Wurzeln einer solchen Tragödie? Offenbar versucht Dirk Radtke mit seinem Buch genau diese Fragen zu beantworten – aber genauso wie es auch in der Realität letztendlich bei Spekulationen um die genauen Motive bleibt, so kann auch dieses Buch schlüssige Antworten nicht liefern. Zwar erkennt man als Leser relativ schnell wohin der Weg des Tobias geht, wieso sich seine aufgestaute Wut irgendwann entlädt. Trotzdem bleibt dieses Buch eben auch nur an der Oberfläche. Alles wirkt ein wenig zu vordergründig, zu aufgesetzt. Tobias ist der ewige Loser, von aller Welt verachtet und verstoßen, gestraft mit einem grausamen Vater und einer diabolischen Schwester. Tobias gegen den Rest der Welt. Einen „Freund“ findet er lediglich in seinem Chatkontakt Kürten. In diesem Buch gibt es eigentlich nur „Schwarz“ oder „Weiß“. Echte Zwischentöne, erzählerische Grautöne, sucht man vergebens. Die Welt gliedert sich in „Gut“ und „Böse“. Dazwischen scheint offenbar nichts zu sein. Hier wird dem Leser ein wenig zu sehr mit dem Holzhammer eingebläut, wieso es zu diesem ganz speziellen Amoklauf kam.
    Das Buch hat mich nach 352 gelesenen Seiten ein wenig enttäuscht zurückgelassen. Mir fehlten die feinen Zwischentöne, die Differenzierungen.
    Was allerdings lobend erwähnt werden sollte ist der Schreibstil des Autors. Fließend und klar, manchmal gerade noch das allzu Blumige vermeidend.
    Ein lesbares Buch, grundsolide – ein echtes Lesehighlight ist es aber nicht.


    Bezüglich der Genre-Zuordnung bin ich ein wenig ratlos. Ein Krimi ist es ganz gewiß nicht.

    Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst. (Evelyn Beatrice Hall)


    Allenfalls bin ich höflich - freundlich bin ich nicht.


    Eigentlich mag ich gar keine Menschen.

  • Dirk Radtke hat schon Bücher geschrieben? Das wusste ich gar nicht. Zur Zeit Mailen wir uns. Wow, dann schreibe ich einem Autor und ich wusste es nicht ...

    "Du wartest auf einen Zug, ein zug der dich weit weg bringen wird, du weißt wohin der Zug dich hoffentlich bringen wird, aber du weißt es nicht sicher, aber das ist dir nicht wichtig, weil ihr zusammen sein werdet."

  • Kalt, grausam, brutal und demütigend – ein Buch, das Bauchschmerzen hinterlässt, ein Buch, das man nicht in einem Stück lesen kann. Ein Buch, in dem der Klappentext das Ende vorwegnimmt und den Leser mit der bitteren Wahrheit konfrontiert, die schlussendlich zur Eskalation führte. Ein Buch, was nach Erfurt, Emstetten und Winnenden ein topaktuelles Thema behandelt und den Leser Einblicke in die Psyche des Täters gibt. Ein Buch, welches verstörend wirkt und den Leser fassungslos zurücklässt, ein Buch, welches tief in die Abgründe des menschlichen Sadismus eindringt und ein Familienbild heraufbeschwört, dass nur einem Horrorfilm entnommen sein kann.


    An Tobias’ 9. Geburtstag kommt es zum ersten größeren Eklat. Ungebetene Gäste erscheinen und der Vater spielt geschickt den allmächtigen Herrscher, der darüber richtet, wer Recht hat und wer nicht. Als bei einem Streit zwischen Tobias und seinem Widersacher Markus, der Sohn des Geschäftspartners deines Vaters, sein Geburtstagsgeschenk zu Bruch geht, steht für seinen Vater der Schuldige von vorneherein fest – Tobias. Er hätte sich halt wehren sollen, damit er das lernt, wird er bestraft – wieder, und wieder und wieder. Sein Vater ist brutal, ungerecht und heimtückisch, keiner stellt sich ihm in den Weg. Anfangs versucht es noch die Mutter, aber nach einem Autounfall kann sie Tobias nicht mehr helfen. Sarah, seine Schwester, schlägt ihrem Vater nach, ihre Heimtücke ist mörderisch. Nach einiger Zeit kommt dann noch Yvonne, Vaters neue Lebensgefährtin, ins Haus, sie fügt sich schnell in die Gepflogenheiten und auch sie benutzt Tobias als Prügelknaben. Genauso geht es in der Schule weiter, denn Markus ist in seiner Klasse und er lässt keine Gelegenheit aus, Tobias eins auszuwischen. Die Misshandlungen über Jahre lassen schwere psychische und physische Narben zurück, bald sieht Tobias keinen Ausweg mehr, als sich endlich zu wehren – auf seine ganz eigene Art.


    Die Story ist eine Kakophonie aus Demütigung, Pein, Leid und Schmerz, man wundert sich, wie Tobias es so lange überhaupt aushalten konnte. Trotzdem ist die Sicht etwas einseitig, denn für Dirk Radtke sind alle anderen abgrundtief böse. Es gibt wenige Lichtblicke für Tobias, selbst Fremde, wie Lehrer, lassen ihn im Stich. Wirken sie anfangs noch freundlich und um ihn bemüht, zeigen sie bald ihr wahres Gesicht und drangsalieren ihn genauso wie alle anderen. Sie kommen ihrem Lehrauftrag nicht nach, selbst als Tobias versucht, seine Situation zu schildern, verweigern sie sich und hören ihm nicht zu. Immer ist er derjenige, der Mist baut, der bestraft wird und der grundsätzlich der Schuldige ist. Zumindest von Lehrern sollte man erwarten, dass sie hinter die Fassade ihrer Schutzbefohlenen schauen können und erkennen, dass nicht alle Kinder Engel sind. Seine einzige Freundin ist Vivan, die von den anderen Kindern gehänselt wird, da sie die Sachen ihrer größeren Schwester auftragen muss. Sie ist sein einziger Halt, für sie lebt Tobias. Aber auch sie hintergeht ihn, als sie sich von ihm abwendet und sich neuen Freunden zuwendet. Tobias fühlt sich seiner letzten Bastion beraubt und sieht danach keine andere Lösung mehr, als sich endlich zu wehren.


    Heutzutage weiß man aus Zeitungsberichten, wieviele Kinder ein wahres Martyrium durchleben, wie sie unbeobachtet von der Gesellschaft von ihren Eltern oder Mitschülern gepeinigt und gefoltert werden. Trotzdem wünscht man sich in der Geschichte, dass Tobias wenigstens einmal eine mitfühlende Seele trifft, die ihm eine Hand reicht. Denn unsympathisch wirkt er nicht, ganz im Gegenteil, von Seite zu Seite hat man immer mehr Mitgefühl mit ihm. Oft muss man das Buch einfach zur Seite legen, die Misshandlungen sind schwer zu ertragen und dringen bis in die Seele vor. Man versteht die Handlungen der Mitwirkenden nicht, es haftet ihnen einfach zu viel Boshaftigkeit und Sadismus an. Unwillkürlich fragt man sich, ob das alles so passieren kann, so viele schlechte Menschen auf einen Haufen. Die Qualität von Periplaneta ist wieder einmal hervorragend, fester Umschlag, eng beschriebene Seiten und dickes Papier rechtfertigen wenn auch nur ansatzweise etwas den eigentlich zu hohen Preis. Dafür bekommt man aber noch zusätzlich eine CD mit Songs der Berliner Heavy Metal Band Pandoras Tears – die Tobias Gefühle sehr gut ausdrücken können.


    Fazit:


    Zutiefst verstört bleibt der Leser nach diesem Kreuzweg aus Leid, Demütigung und Schmerz zurück, man kann sich gar nicht wirklich vorstellen, dass so etwas ungestraft passieren kann. Zurück bleibt Wut auf die verantwortungslosen und sadistischen Erwachsenen, die sich nur an ihren wahren Ebenbildern erfreuen können. Es bleibt etwas zurück, von dem man nie gedacht hat, es empfinden zu können. Mitleid für den Täter einer so abscheulichen Tat und der ganz geheime Gedanke im tiefsten Winkel der Leserseele – sie haben es alle verdient.