Morio Kita
Das Haus Nire
Verfall einer Familie
übersetzt v. Otto Putz
ISBN 978-3-86124-909-2
992 Seiten
gebunden mit Schutzumschlag
38,00€
Verlagstext:
Ein Jahrhundertroman! Dieses preisgekrönte Meisterwerk erzählt vom Aufstieg und Fall der Familie Nire und der von ihr geführten Nervenklinik. Mit feiner Ironie und scharfer Beobachtungsgabe zeichnet Kita Morio ein faszinierendes, bisweilen karikierendes Bild eines Clans, der im Konflikt zwischen geschäftlichem Erfolg und persönlichem Lebensglück zu zerbrechen droht. Familienpatriarch Kiichiro und seine älteste Tochter setzen alles daran, ihre vermeintlich heile Welt zu retten. Als der Zweite Weltkrieg ausbricht, scheint das Schicksal des Familienimperiums endgültig besiegelt.
Über den Autor:
Kita Morio (das ist Saito Sokichi, *1927 als Sohn des japanischen Dichters Saito Mokichi) studierte selbst Medizin und verbrachte wie sein Held Tetsukichi eine Zeit in Europa, die ihn deutlich beeinflusste. Sein 1963 in Japan erschienener Roman Nire-ke no Hitobito wurde schon 1984/85 ins Englische und nun in sechsjähriger Arbeit von Otto Putz ins Deutsche übersetzt.
Aufstieg und Fall einer japanischen Familie
Zum Inhalt:
Momoko, die dritte Tochter der Familie Nire, strolcht gern auf dem weitläufigen Gelände der Nervenklinik herum, die ihr Vater Kiichiro Nire in der Nähe von Tokyo leitet. Am liebsten hält sich Momoko in der Nähe der Küche auf, wo sie von den Erwachsenen unbemerkt Gespräche mitanhört, die nicht für Kinderohren bestimmt sind. Die Handlung des üppigen Familienromans beginnt 1918 zum Ende des Ersten Weltkriegs und endet mit Japans Niederlage im Zweiten Weltkrieg. Kiichiro, der Patriarch, wurde selbst als vierter Sohn von seinen Eltern einer anderen Familie zur Adoption überlassen. Bei der ersten Gelegenheit lief er seinen Adoptiveltern weg. Der alte Nire setzt die Tradition der Adoption fort, indem er begabte junge Männer aus seiner Heimatprovinz fördert und ihnen in seiner Klink eine Beschäftigung verschafft. Wer sich anstrengt, kann in den erweiterten Clan aufgenommen werden, vorausgesetzt er ordnet sich dem System Nire bis zur Selbstaufgabe unter. Einige von Kiichiros Schützlingen werden später Medizin studieren und als Arzt in die Klinik zurückkehren. Kiichiros Frau Hisa bleibt zunächst in der Rolle der Kapitalgeberin im Hintergrund; ihre traditionellen Wertvorstellungen prägen das Familienleben und den Betrieb der Klinik entscheidend.
Aus der Sicht der fünf Kinder Kiichiros laufen bei Nao Shimoda, dem Kindermächchen, alle Fäden zusammen. Nanny Shimoda erzieht Momoko und ihre Geschwister, in späteren Jahren auch die folgende Generation von Nires. Auf der zweiten Tochter Seiko liegen hohe Erwartungen; denn sie soll sich wie schon die Älteste der ehrgeizigen Heiratspolitk ihrer Mutter unterordnen. Warum die schwer zu bändigende Tochter Momoko sich weitgehend selbst überlassen bleibt, gibt beim Lesen Rätsel auf. Als Erwachsene wird sich Momoko - die deutlich einer ganz anderen Generation angehört als die älteren Geschwister - fragen, ob ihre Eltern sie deshalb nicht beachteten, weil man auf sie nicht stolz sein konnte. Einer der beiden leiblichen Söhne, Oshu, studiert bereits, der Adoptivsohn Zaosan soll aufgrund seiner Statur Karriere als Sumo-Ringer machen.
Tetsukichi, Ehemann der ältesten Tochter Ryuko, wurde als 15-jähriger von Nire adoptiert und von langer Hand als sein Nachfolger in der Klinik aufgebaut. Dass der Schwiegersohn nun unter besonderem Erfolgsdruck steht, kann man sich leicht vorstellen, nachdem seine Frau Ryuko bereits den Vater enttäuschte, weil sie kein Sohn war. Tetsukichi wird mit über 30 Jahren in München bei deutschen Psychiatern studieren. Als alter ego des Autors, der Thomas Mann verehrte, bildet Tetsukichi im Roman das Verbindungsglied zwischen Japan und Deutschland. Tetsukichi verfolgt nach seiner Rückkehr aus Japan das Entstehen des Nationalsozialismus und den Beginn des Zweiten Weltkriegs. Shunichi, der älteste Sohn, sieht sich hohen Erwartungen gegenüber, die er kaum erfüllen kann. Shunichi und die unabhängige, führungsstarke Tochter Aiko werden im Mittelpunkt des dritten Teils des Buches stehen. Sohn Oshu wird, wie alle anderen Kinder auch, von Ryoku im Dienste der Familie verheiratet. Shuji, der verwöhnte jüngste Sohn, zeigt schon früh alle Merkmale eines Sorgenkindes der Familie.
Der alte Nire war überzeugt davon, dass die Patienten nur ihrem Arzt vertrauen müssen, um geheilt zu werden. Behandelt wurden psychische Erkrankungen mit Bädern und der Gabe von Placebos. Auf die Veränderungen in der japanischen Gesellschaft und in der Psychiatrie kann sich Kiichiro in seinem Alter kaum noch einstellen. Dass es zu Konflikten zwischen leiblichen, adoptierten und angeheirateten Kindern des Familien-Clans kommen wird, ist abzusehen. Während seine Kräften schon sichtbar nachlassen, sieht sich Kiichiro mit der Nachfolgeregelung für sein Lebenswerk Nervenklinik konfrontiert. Nires Situation ist charakteristisch für asiatische Kulturen, in denen einem Mitglied der erweiterten Familie stärker vertraut wird als einem beruflich qualifizierten Fachmann von außerhalb.
Als mit Ryoko und Tetsukichi bereits die nächste Generation die Klinik führt, wird der Klinikbetrieb durch einen Anlaß von außen, Japans Eintritt in den Zweiten Weltkrieg, gefährdet. Die ersten Mitarbeiter sind bereits zur Armee eingezogen werden; die Aufsicht über die Patienten kann bald nicht mehr gewährleistet werden. Während die Geschwister Aiko und Shuji als Schüler zur Arbeit in Munitionsfabriken verpflichtet werden, hat Shiroko sich freiwillig als Militärarzt zur Marine gemeldet und dient auf einem Flugzeugträger, der an den Kriegshandlungen im Nordpazifik beteiligt ist. Shirokos Kriegstagebuch gibt Einblick in eine Welt, die kaum etwas mit dem verbreiteten Bild des heroischen japanischen Soldaten zu tun hat. Während die Welt an der Schwelle eines neuen Zeitalters steht, bewegt Tetsukichi sich als Forscher rückwärts, weit in die Geschichte der japanischen Psychiatrie. Schon immer hatte er von einem Lehrbuch der Psychiatrie geträumt, das nicht aus einer Fremdsprache übersetzt sondern von einem japanischen Arzt geschriebenen wird. Die Ereignisse im Haus Nire ähneln verblüffend denen der vorigen Generation. Tetsukichi liegt die Verwaltung der Klinik nicht, sein Scheitern als Nachfolger eines charismatischen Chefs ist absehbar.
Mein Eindruck:
Das kränkelnde System einer Nervenklinik, der die Vaterfigur abhanden gekommen ist, beschreibt Morio Kita mit Charme und Ironie. Leider erfährt man aus seinem Buch kaum etwas über die Patienten oder die Vorstellungen, die in Japan zu Beginn des 20. Jahrhunderts über psychische Krankheiten herrschten. Bis auf diese kleine Ausnahme hat der Autor mich mit seinem 1000-Seiten-Epos durchweg überrascht und begeistert. Seine kritisch-liebevollen Personenbeschreibungen umfassen die Gedanken kleiner Mädchen wie die von Soldaten, die stärker im Kampf gegen Hunger und Läuse aktiv sind als in der Kriegsführung. Sein Blick aus Japan nach Europa verknüpft die Handlung mit dem zeitgeschichtlichen Hintergrund. In die Erlebnisse der vielen Personen aus zwei Generationen findet man sich trotz ihrer ungewohnten Namen leicht hinein. Der Kontrast zwischen drinnen und draußen, äußerem Schein, Illusion und Wirklichkeit wird von Mori Kita mit einem ironischen Unterton entlarvt, der mich bei einem japanischen Autor sehr überraschte (ein Nachttopf als importiertes Symbol deutscher Kultur).