Zimmer frei im Kreuz Acht

  • Zimmer frei im Kreuz Acht


    Die Fassade der Stadt hob sich verwaschen vom Oktoberhimmel ab, bezeichnend. Tauber streunte mal wieder durchs Viertel, an Reihenhäusern und Plattenbauten vorbei, direkt ins Nirwana, ins Nichts großstädtischen Lebens. Jahre zuvor hätte er selbst im Traume nicht daran geglaubt, jemals auch nur einen Fuß in eine dieser Zonen zu setzen. In goldenen Zeiten, vergangenen goldenen Midas-Zeiten. Jetzt wohnte er dort hinten, in der Drosselgasse, zwischen Kasachen, Deutschrussen, Türken und Vorkriegsjahrgängen, in einem besonders häßlichen Loch. Warum die Gasse noch Drosselgasse hieß, wußte niemand. Gesungen wurde da schon lange nicht mehr, allenfalls auf dem Polizeirevier um die Ecke.
    Tauber steuerte geradewegs auf die Kreuz-Acht zu, der Szene-Kneipe im Drosselgassenviertel. Szene, weil sie die einzige war, Kneipe, weil das Bier hier manchmal nach Bier schmeckte.
    »Ah, da ist er ja!«, prostete ihm Hein zu, noch ehe er die Tür wieder geschlossen hatte. Der fette Kerl hatte sich im hintersten Winkel des Ladens wie ein Stein vor die Höhle geschoben hatte. In diesem Fall vor den Fluppenautomat. Nicht zu übersehen, sonst war keiner im Kreuz.
    Er saß da, massig, rotnasig und mit Schweinsaugen, die freudig-erwartungsvoll von der Pilskrone hinüber zu Tauber und wieder zurück blickten. Er richtete sich mit dem Gesöff, daß er täglich in sich reinkippte, selbst zugrunde, sofern das noch möglich war. Soviel dazu, dachte Tauber und gesellte sich zu ihm. Aber verständlich.
    »Na, wieder n’ paar Verse gemacht? Noch kein Pop-Literat?«, rülpste Hein und ein Schwall bierwarmer Luft kroch Tauber zur Begrüßung entgegen: »Poppp-Literat«, um dem Fäulnisgeruch die ganz besondere Note zu geben. War es ein Fehler gewesen, Hein im Suff von der erfolgreichen, künstlerischen Vergangenheit zu überzeugen?
    Tauber zuckte mit den Achseln und griff sich die Speisekarte, die er zwar in- und auswendig kannte, aber wenigstens Anlass genug war, die peinliche Stille zu überbrücken, die hin- und wieder aufkommen will, wenn sich das Small-Talk vollständig auf das “small” reduziert hat. Außerdem wollte er verhindern, daß Hein in die Lage kommen könnte, sich genötigt zu sehen, den Mund zu öffnen, um irgendeinen schwammigen Gedanken in ein halbwegs erträgliches Deutsch zu übersetzen.
    »Weißt du, Hein, mir geht dieses ganze Schöngesabbel tierisch auf den Sack«, polterte er recht ungehalten hinter dem Papierfetzen los, irgendwie war ihm nach Rechtfertigung, »die hocken mit ihren Scheiß-Notebooks im Café und kommen sich dabei so unglaublich cool und erhaben vor, so poppig, blabla, diese rosafarbene Welt. Wenn ich diesen Scheißdreck lese, könnte ich kotzen. K o t z e n!« Er legte eine Pause ein und wartete ab, aber Hein sagte glücklicherweise nichts. The Cure säuselte im Hintergrund. The same deep water...
    »Diese ganzen Typen wissen doch nichts, du lebst vom Stempeln, ich bin Taxifahrer und diese ganzen Trottel heutzutage, die das Leben nur in ihren Scheiß-Fernsehern gesehen haben, die den ganzen Tag in ihren Scheißbüros auf ihren Ärschen sitzen, erniedrigen sich, mir ihre beschissenen Weisheiten hinterher zu pusten und mir zu erzählen, wie verfickt schwer ihr Leben bisher war und wie verfickt einfach doch meines sei und wie verflixtverdammtnochmalscheißcool sie dabei sind, während sie mir dieses Liedchen pfeifen. Ha! Pah...« Jedem Rohrstockveteran hätten vor Rührung die Augen gewässert.
    »Schreib das, genau darüber, Mann!«, meinte Hein und tastete sich wie ein Laiendarsteller mit der Pranke ans Herz, kramte dann aber umständlich einen Fünfer aus der Hosentasche. Sogar derart umständlich, daß der Augenblick seine Anmut und seinen Zauber einbüßte. Er verschwand ohne ein Wort zu verlieren in den Weiten der Drosselgasse. Tauber sah im nach, bis seine Gestalt vollends hinter dem Regenvorhang verschwunden war. Dann aber glomm ungehalten ein Verständnis von dieser großen Sache in seinen Augen auf: wer handelte noch gleich mit geklauten Laptops? Egal, man würde es ihm schon singen.



    (c) liegt bei mir

  • so, einigen wird die Geschichte entfernt bekannt vorkommen. richtig, ich habe die "Sonnenuntergang"-geschichte, die ich hier irgendwo im forum noch rumfliegen habe, nicht überarbeitet, sondern umgeschrieben und umgedeutet bzw. unter anderem den versuch gestartet, die story sich selbst parodieren zu lassen. natürlich nicht das hauptanliegen - täte mich trotzdem freuen, wenn jemand die geschichte lesen würde.


    grizzly

  • Hallo, Grizzly.


    Ich fand die "Sonnenuntergang"-Fassung zwingender, irgendwie besser. Geht es darum, einen Zyklus von Geschichten zu verfassen, die letztlich immer wieder die gleiche Situation beschreiben, aber zu unterschiedlichen Pointen führen?

  • hi Tom,


    richtig! der andere plot liegt sowohl in der von dir überarbeiteten form, wie auch in der urfassung auf der platte. ich fühlte mich gezwungen, nach leidlichen erfahrungen mit popliteratur, etwas an der alten geschichte umzuschreiben. daß es soviel würde, habe ich nicht gedacht. ist aber ein selbstexperiment, ich versuche die moderne künstlerexistenz grob zu überdenken, eine kürzestgeschichte gibt nicht viel her, aber ein panoptikum (oh mann, liegt an der uhrzeit) an texten hilft mir vielleicht, den zugang zu größeren projekten zu finden, in denen ich das existenzproblem besser bearbeiten kann...


    viele grüße

  • ah, ehe ich es vergesse. es soll sich niemand durch den text angegriffen oder beleidigt fühlen, die geschichte bringt keineswegs ansichten vonr mir zum vorschein (zumal einige passagen absichtlich derb gehalten sind)...