Originaltitel: Voix sans issue
Kurzbeschreibung (von amazon):
Sie ist die Stimme von Paris. Als Bahnhofsansagerin kündigt sie die Züge an denkt dabei aber einzig an ihn und an den Kuß, der ihr Leben veränderte. In den Straßen der Stadt begegnet sie dem, was das Leben ist, aber sie wartet auf ihn, den sie liebt. Und irgendwann kann er sich ihr nicht mehr entziehen Feinsinnig und schonungslos offen beschwört Céline Curiol das Lebensgefühl ihrer Generation.
Über die Autorin:
Céline Curiol, 1975 in Lyon geboren, lebt in New York. Sie ist freie Journalistin und Korrespondentin für die französische Zeitung "Libération" und für BBC Radio.
Meine Meinung:
Die junge Frau, vielleicht Ende Zwanzig, um die es geht und die bis zum Ende des Buches namenlos bleibt, lebt in Paris. Sie arbeitet bei der Gare du Nord als Bahnhofsansagerin. Ist das überhaupt ein Beruf? Wohl schon, wenn auch ein unscheinbarer. Mit ihrer Stimme dirigiert sie die Menschen durch den Bahnhof, zum Abfahrtsgleis, gibt die Richtung vor. Die Stimme soll neutral klingen, fast synthetisch, es ist wichtig, deutlich zu sprechen und alle Silben korrekt zu modulieren. Sie findet sich unauffällig, beinahe unsichtbar, unwichtig. Und sie begnügt sich mit einer Beobachterrolle. Sie nimmt alles um sich herum mit scharfem Blick wahr, kann es deuten, weiter spinnen, Situationen erfassen. Was sie nicht kann, ist sprechen – von der Bahnhofsansage abgesehen. Ihre Wünsche bleiben unausgesprochen, ihre Gedanken behält sie für sich. Ein einziges Mal hatte sie sich ihrer besten Freundin anvertraut und erzählt, was ihr mit dreizehn im rosa Zimmer passiert war – und diese Geschichte hat sich verselbständigt, hat die Freundin sprachlos und sie zum Opfer gemacht, zusätzlich. Die Freundschaft ging verloren. Das war schmerzhaft.
Sie ist Außenseiterin, ihre Kolleginnen finden sie merkwürdig und unnahbar. Sie träumt von ihm, einem Mann aus ihrem Bekanntenkreis, der zwar fest liiert ist, aber sich doch zu einer Art Affäre hinreißen lässt. Ihr Leben besteht aus Warten auf den nächsten Anruf. Sie verbringt ihre Zeit damit, durch die Stadt zu streifen und tut Dinge, die alles andere als alltäglich sind: Sie lässt sich dazu überreden, bei einer Kleinkunstaufführung auf die Bühne zu stürmen und den Anfangssatz zu rufen und lässt sich nach der Vorstellung von einem Transvestiten mit nach Hause nehmen, sie klaut in einem Laden einen Pullover, der ihr gar nicht gefällt. Bei einem Abendessen mit einigen Leuten, die sie höflich aushorchen wollen, behauptet sie, Prostituierte zu sein, und sie zieht ihre Lüge bis zum bitteren Ende durch, als einer der anwesenden Herren sie am nächsten Tag um ein Treffen bittet. In einer Episode lässt sie sich von einem unbekannten Mann zum Kaffee und danach auf einen Joint zu ihm nach Hause einladen. Als sie wieder zu sich kommt, ist die fremde Wohnung leer und verschlossen. Sie hat keine Möglichkeit zur Flucht, aber sie sucht auch nicht danach und harrt einen halben Tag und eine Nacht aus. Es stellt sich heraus, dass ihr Gastgeber auf der Empore geschlafen hat – sie hätte ihn nur zu rufen brauchen.
Céline Curiol zeichnet mit feinen Strichen ein Porträt des Alltags in Paris, des Singlelebens, der Sehnsucht nach irgendwas. Die Sprache ist klar und schonungslos. Ein Zitat (S. 128): „Menschen, die allein sind, haben kein Leid, sie haben nur Geschichten, die sie nicht erzählen.“
Es bleibt offen, ob sie es schafft, ihre eigene Sprache zu finden.
Die Idee für eine Geschichte über eine verliebte Bahnhofsansagerin klingt im ersten Moment romantisch – die Geschichte ist jedoch alles andere als das. Für mich ist das Buch ein Nicht-Liebesroman. Liebe ist das zentrale Thema, die junge Frau muss zuerst die Liebe zu sich selbst finden. Ich hoffe, sie ist auf dem Weg dorthin. Beim ersten Lesen fand ich das Buch ermüdend, zu melancholisch und hoffnungslos. Jetzt, nach ein paar Monaten, habe ich es noch einmal gelesen und finde es großartig. Es ist ganz bestimmt nichts für trübe Tage, aber es hat auf jeden Fall einen zweiten Blick verdient.