Seit sie sechs Jahre alt ist, stellt sich Anne gern vor, daß ihr Leben von einem Kameramann gefilmt wird. Das ist in mehrerer Hinsicht nützlich. So kann sie z.B. ‚von außen’ zusehen, wenn ihre Eltern wieder einmal streiten. Auch sich selbst kann sie ‚von außen’ betrachten und dabei zugleich beeinflussen, wie die Handlung in ihrem Sinn weitergeht. Ihr Leben durch die Kameralinse gesehen ist immer ein bißchen glänzender, schöner, einfach besser.
In dem Moment, in dem die Geschichte einsetzt, ist Anne etwa 14 Jahre alt und hat den Blick durch die Kamera sehr nötig. Ihr Vater, ein Fotoreporter, hat sich wieder einmal davongemacht, um dem aufregenden Leben fern von der Familie zu folgen, und Caro, die beste Freundin seit Kindergartentagen, ist in die USA gezogen. Anne ist allein.
In den nächsten Monaten warten schwierige Aufgaben auf sie. Sie muß eine neue Freundin finden, mit dem Weggang ihres Vaters fertig werden, der sich im Lauf der Wochen als ein endgültiger herausstellt, die Neu-Orientierung ihrer Mutter bewältigen und sich der Liebe stellen. In kürzester Zeit ist Annes Leben eine einzige Verwicklung. Der Kameramann bekommt eine Menge zu tun, bis Anne sich endlich von ihm verabschieden kann.
Annes Geschichte war Petricks Debütroman, er erschien zum erstenmal 1997 und er hat nichts von seiner Frische eingebüßt. Anne ist gleichermaßen sympathisch, wie unsympathisch, ihre Schöpferin läßt sie eine Menge Fehler machen. Daß Anne meistens weiß, daß ihr Handeln falsch ist, aber trotzdem ihren Kopf durchsetzt, macht das Ganze lebensecht. Die Folgen lassen nicht auf sich warten, da Anne im Lauf der Monate jedoch auch reifer wird, wird sie allmählich mutig genug, zu ihren Fehlern zu stehen. Sie wird auch ein wenig großzügiger, lernt zu begreifen, daß das Leben nicht nur aus Schwarz und Weiß besteht und daß es immer sehr schwer ist, Gefühl und Verstand auf eine Linie zu bringen. Gleich, in welchem Lebensalter.
Die Nebenhandlungen sind sehr lebendig, neben ersten Liebesbeziehungen zwischen Teenagern geht es auch um die problematischen Beziehungen zwischen Eltern und Kindern, um das, was Freiheit eigentlich ist und wie wichtig Grenzen sind.
Die Sprache ist klar, hin und wieder poetisch, erzählt wird von einem Mädchen vornehmlich für Mädchen, Annes Vorliebe für Second Hand-Mode nimmt einigen Raum ein.
Lokalkolorit gibt Berlin, streckenweise vielleicht ein wenig zuviel, die Stadtführungen braucht man eigentlich nicht, um die Geschichte zu verstehen. LeserInnen im Teenageralter heute werden sich vielleicht wundern, daß es keine Computer und Handys gibt, die Jugendlichen in diesem Roman schreiben sich Briefe. Auf Papier! Die Filme, über die die Figuren in diesem Buch sprechen und die Musik, die sie hören, verleihen dem Ganzen einen Hauch von Nostalgie, die aber keineswegs zur Patina wird.
Originelle Geschichte fürs erste Teenageralter, schön und gescheit erzählt.
edit: Altersangabe ergänzt