Miriam Toews - Ein komplizierter Akt der Liebe

  • Titel im Original: A Complicated Kindness



    Über die Autorin:


    Miriam Toews wurde in Steinbach geboren, einer Mennonitengemeinde im Staat Manitoba. Sie studierte Geisteswissenschaften und Journalismus und lebt heute als Journalistin und Autorin in Winnipeg. Für ihre bisherigen Arbeiten erhielt sie zahlreiche Preise und Stipendien. Ein komplizierter Akt der Liebe, ausgezeichnet mit dem renommierten Governer General’s Literary Award, ist ihr dritter Roman und ihre erste Veröffentlichung in Deutschland.


    Kurzbeschreibung:


    „Unsere halbe Familie, die schönere Hälfte, ist weg“, erzählt Nomi zu Beginn einer der bewegendsten, witzigsten, schrägsten und gleichzeitig anmutigsten Familiengeschichten der letzten Jahre, die im Kanada der siebziger und achtziger Jahre angesiedelt ist. Nomis Jugend ist ungewöhnlich, denn ihre Eltern sind, wie alle in der Stadt, Mennoniten. Und diese Religionsgemeinschaft ist, so Nomi, eine der peinlichsten Sekten, die man sich als Teenager nur vorstellen kann. Das Leben, das sie führt, ist ganz anders als das ihrer Altersgenossen, weil die Gläubigen so ziemlich alles, was Spaß macht, verteufeln. Nur Beten, Arbeiten und Sterben ist erlaubt. Doch plötzlich verschwinden erst Nomis Schwester und dann ihre Muttter – wohin, das weiß niemand so genau, und so recht scheint das auch keinen zu interessieren. Angesichts der Sprachlosigkeit der frommen Gemeinde überfällt der überraschende Verlust das Mädchen wie ein Schock – von einem Tag auf den anderen bleibt sie mit ihrem Vater allein zurück, und es dauert eine ganze Weile, bis es den beiden, jedem auf seine Art, gelingt, sich aus den Zwängen der Religion zu befreien...


    Meine Meinung:


    Mit viel Wut im Bauch erzählt das Teenagermädchen Nomi in ihren Erinnerungen vom allmählichen Entzweibrechen ihrer Familie aufgrund der strengen religiösen Zwänge in der kleinen Mennonitengemeinde East Village in Kanada. Der Erzählton ist recht lapidar, mit viel Witz getränkt und mitunter bitterböse, doch meistens bleibt einem das Lachen im Halse stecken aufgrund der zugrunde liegenden Tragik der vorgebrachten Familiengeschichte, die sich dem Leser nach und nach erschließt und trotz sprunghafter, mitunter chaotischer Vortragsweise durchaus zu fesseln vermag.


    Obschon sowohl die Mutter Trudie als auch die Schwester Tash verschwunden sind, bekommt man durch Nomis Schilderungen ein gutes Gefühl dafür, was die beiden für Menschen waren und sind und wie es zu den Entwicklungen kam, die alle Sicherheiten in Nomis Leben zunichtemachen und ihr langsam helfen, ein neues Weltbild zu finden. Sehr schräg wird vor allem der Vater beschrieben, ein liebenswerter Lehrer ohne jegliche Entschlusskraft, der Kraft aus seinem einschnürenden Glauben schöpft, die meiste Zeit aber verloren wirkt angesichts der Wirrnisse des Lebens.


    Die Autorin, selbst in einer Mennonitengemeinde aufgewachsen, schafft die Gratwanderung zwischen Ernst und Witz, zwischen Tragik und Ironie gut, ohne moralisierend zu sein oder zu verurteilen. Sie behandelt ihre Figuren pfleglich und lässt den Leser am Ende mit einem guten Gefühl zurück. Durchaus lesenswert.

  • Meinung


    Ich wohne mit meinem Vater Ray Nickel in diesem niedrigen Ziegelbungalow draußen am Highway 12. Blaue Fensterläden, braune Tür, ein kaputtes Fenster – nichts Besonderes. Allerdings verschwinden immer mehr Möbel. Das macht die Sache spannend.


    Es verschwinden nicht nur Möbel, es verschwinden auch zuerst Nomis Schwester und später die Mutter.
    Nomi begehrt auf, gegen die Regeln der Sekte, gegen die Regeln in der Schule, gegen Sitte und Moral. Sie kifft, sie hat einen Freund, sie hört Schallplatten – doch nichts nimmt ihr die Einsamkeit, die sich über das Haus, den Ort und Nomis Leben gelegt haben. Es ist, als hätte es Mutter und Schwester niemals gegeben, es wird geschwiegen, und auch beim Vater findet Nomi keinen Halt, es ist auch, als wäre er schon lange weg.
    Überhaupt ist Nomi in dem Buch viel allein, und doch macht sie ihr Ding, wie so schön man sagt.
    Die Autorin, selbst in einer Mennonitengemeinde aufgewachsen, gibt einen genauen Einblick in das Leben der Mennonitengemeinde in East Village und hinterlässt beim Leser eine Art klaustrophobisches Gefühl. Man fühlt sich eingesperrt, genau wie Nomi, die davon träumt, eines Tages ihre Schwester und Mutter wieder zu finden.
    Man möchte Nomi mitnehmen, sie herausholen aus dieser furchtbaren Welt, dem ein Ende bereiten – und doch kommt man nicht umhin, Nomis Durchhaltevermögen zu bewundern.
    Miriam Toews Figuren sind vielfältig, man mag sie oder man verteufelt sie, aber man empfindet etwas für sie. Und vor allem für Nomi, mit der man liebt, lacht und leidet. Bisweilen ist die Handlung humorvoll, doch oft bleibt einem auch das Lachen im Hals stecken und man schüttelt den Kopf, über den ganzen Unfug.

  • Meine Rezension:


    Nomi ist ein ganz normaler Teenager, lebt aber ein außergewöhnliches Leben. Ihre Eltern sind Mennoniten und so muss sich Nomi an Regeln halten, die für andere Teenager undenkbar wären. Wirklich schlimm ist es für sie jedoch, als zuerst ihre Schwester und dann ihre Mutter von einem Tag auf den anderen spurlos verschwindet. Wie sie versucht, ihr Leben mit ihrem weiterzuleben, diesen zu unterstützen und trotzdem ein ganz normaler Teenager zu sein, erzählt Miriam Toews in "Ein komplizierter Akt der Liebe" wunderbar behutsam und warmherzig. Nomi ist so authentisch und so liebenswürdig, dass sich der Leser sofort in sie hineinversetzen kann und ihre Sehnsüchte ebenso wie ihre Wut nachvollziehen kann. Mit einem ordentlichen Schuss Humor liest sich die aus der Sicht von Nomi erzählte Geschichte flüssig, unterhaltsam und ist trotz ihrer Leichtigkeit tiefgründig. Ungewohnt ist, dass es in dieser Geschichte nur so wenig Personen gibt, von denen die Hälfte nur noch in Nomis Gedanken und (allerdings meist sehr schönen und lustigen) Erinnerungen existiert. Mir persönlich sind am Ende zu viele Fragen offen und zu viele lose Enden geblieben, die zwar Raum für die Fantasie des Lesers bieten, aber irgendwie auch einen unbefriedigenden Eindruck hinterlassen. Dennoch eine schöne Geschichte, die sich zu lesen lohnt und für mich sicher nicht der letzte Roman von Miriam Toews!


    Knappe 8 Punkte von mir.