Und noch eine Weihnachtsgeschichte....
Der Weihnachtsmann geht barfuss
Es war der 24. Dezember 1964 oder 1965. Ich weiß noch genau wie hoch der Schnee lag. An den Bürgersteigen war er so hoch aufgetürmt, um die Straßen zu räumen für die Autos, dass ich nicht mehr drüber schauen konnte. Ich lebte damals mit meinen Eltern in den Bergen, dort war es wunderschön. Mit dem Schlitten konnte man in das Dorf hinunterfahren, um beim Bäcker frische Brötchen zu holen. Weihnachten ohne Schnee kannte ich also gar nicht, aber in jenem Jahr lag so viel Schnee, wie ich es nie zuvor erlebt hatte. In unserer Familie gab es eine Tradition: wir fuhren jedes Jahr zu Heilig Abend zu meinen Großeltern. Dort trafen sich alle meine Tanten, Onkels, Cousinen und Cousins. Ich habe allein 25 Cousinen und Cousins, 12 Tanten und 16 Onkels – eben eine richtige Großfamilie. Meine Großeltern hatten ein großes Hotel im Reinhardswald, auch Märchenwald genannt, so gab es zumindest bei den Familientreffen keine Platzprobleme. Jeder der ein Instrument spielen konnte, musste es zu diesem Treffen mitbringen. Auch das gehörte zu unserer Tradition. Mein Großvater spielte meist Klavier, reichlich Blockflöten begleiteten ihn, zwei Gitarren und eine Tuba.
Meine Eltern waren damals sehr unsicher, ob wir fahren sollten oder nicht, entschieden sich aber dann doch die Fahrt anzutreten. Wir mussten einen großen Teil der Strecke durch den „Märchenwald“ fahren und das war bei diesem Schnee nicht ganz ungefährlich. Normalerweise brauchten wir 45 Minuten, aber an diesem Tag kam alles anders......
Nach dem wir den ersten Teil der Strecke problemlos durchkamen, legte sich auch bei meinen Eltern die Nervosität. Aber als wir aus der Stadt herauskamen und in den Wald hineinfuhren wurde der Schnee höher, die Sicht schlechter. Nur noch eine Spur in der Straßenmitte war befahrbar. An irgendeinem Berg bleiben wir dann stecken und der alte Opel hatte keine Chance mehr gegen den Schnee. Wir versuchten es mit Schieben, Räder frei schaufeln, Kartoffelsäcke unter die Räder legen, aber es half alles nichts. Alle Bemühungen und Anstrengungen blieben ohne Erfolg. Meine Eltern beschlossen bis zum Haus des Försters zu laufen, der könnte uns dann mit seinem Trecker rausziehen. Wir wollten gerade losstapfen, da knaxte es hinter uns im Gebüsch. „Da“, rief ich, „da läuft jemand barfuss durch den Wald“. Meine Mutter lachte und meinte ich hätte eine blühende Phantasie, bei diesen Temperaturen und bei diesem Schnee läuft niemand freiwillig durch den Wald und schon gar nicht barfuss.
Wir gingen weiter, ich wurde langsam müde und schlapp und durchgefroren war ich auch. Endlich, nach 1 ½ Stunden sahen wir von weitem das Forsthaus. Wir klingelten und hofften, dass uns auch heute am Heiligen Abend jemand die Tür öffnet. Der Förster war sehr nett, wir fuhren alle gemeinsam auf dem Trecker zu unserem Auto und 1, 2, 3 war es befreit und wir konnten weiterfahren. Da, da sah ich ihn wieder, den Mann, aber ich traute mich nicht mehr etwas zu meinen Eltern zu sagen. Bestimmt würden sie mir nicht glauben und mich vielleicht auch noch bestrafen, das wollte ich auf keinen Fall. Also sagte ich nichts.
Es fing wieder stärker an zu schneien und ein heftiger Wind kam auf. Wir mussten ganz, ganz langsam fahren. Und da, plötzlich tauchte er aus dem Nichts auf und nun konnten ihn auch meine Eltern sehen. Mein Vater hielt an und bat den Mann ohne Schuhe einzusteigen. Er setzte sich hinten neben mich auf die Rückbank und blinzelte mir freundlich zu. Ich traute mich gar nichts zu sagen, schielte ohne meinen Kopf auch nur ein bisschen zu bewegen, nach rechts und.... tatsächlich, er hatte keine Schuhe an. Seine Zehen waren schon ganz blau von der Kälte und sahen mitleiderregend aus. „Psst“, sagte der Mann ohne Schuhe, „ich bin der Weihnachtsmann“. Mein Herz fing an zu rasen, das konnte doch gar nicht sein. Naja, irgendwie sah er ja ein bisschen so aus, der weiße Bart, die weißen Haare, aber sonst... „Das glaub ich nicht“, sagte ich ganz leise, „der trägt schwarze Stiefel und geht nicht barfuss. Und außerdem ist er immer rot gekleidet. Und überhaupt hat er heute ganz viel zu tun und kann nicht im Wald spazieren gehen“. „Weißt du“, sagte er, „in diesem Jahr lief alles anders. Als ich heute morgen in den Märchenwald kam, auf dem Weg nach Holzhausen, wo deine Großeltern wohnen, da traf ich einen armen alten Mann. Seine Schuhe waren ganz durchlöchert. Und er saß da und weinte im Schnee und dort wo seine Tränen hinfielen, da schmolz der Schnee. Ich hielt meine Rentiere an, stieg aus dem Schlitten und setzte mich zu ihm. Er erzählte mir seine traurige Geschichte von Armut und Hunger. Ich holte etwas zu Essen aus dem Schlitten und dann zog ich ganz schnell meine Stiefel aus und schenkte sie ihm. Da freute er sich so laut, dass meine Rentiere sich so doll erschraken und davon trabten – ohne mich mitzunehmen. So laufe ich nun schon seit Stunden durch den Wald und hoffe, dass ich sie dort am Ende des Waldes an der letzten Futterkrippe erwische.“
„Kannst du dir denn keine neuen Schuhe kaufen“, frage ich erstaunt. „Nein“, sagt er, „heute kann ich in kein Geschäft mehr gehen. In der Adventszeit, ja, da sitze ich manchmal in Kaufhäusern oder in der Fußgängerzone und erzähle den Kindern Geschichten. Aber heute, heute erwarten mich die Kinder in ihrem Zuhause und die kann ich nicht enttäuschen. Ich muss doch die vielen, vielen Geschenke verteilen. Und die glücklichen Kinder, die sind mir wichtiger, da nehme ich gern einen kleinen Schnupfen in Kauf“. „Hast du denn auch meinen Wunschzettel erhalten“, frage ich vorsichtig. „Heißt du Heike und feierst mit 36 Cousinen und Cousins zusammen Weihnachten“. „Ja!“, sage ich völlig erleichtert. „Dann bist du auch dabei. So viel Kinder in einem Haus, das ist selten und deshalb kann ich mich so gut an deinen Namen erinnern.“ Ich freute mich und legte mich entspannt zurück. Wenn ich auf der Seite des Weihnachtsmannes aus dem Fenster sah, dann sah ich die Elfen hinter den Bäumen hervorspringen und uns zuwinken. Die kleinen Kobolde lachten und schlugen Purzelbäume und die Engel schauten zum Fenster herein und grüßten lächelnd. Schaute ich auf meiner Seite des Autos hinaus, da passierte nichts. Ja, ich war mir sicher, hier saß der echte Weihnachtsmann im Auto, neben mir auf der Rückbank.
Plötzlich wurde ich sacht gerüttelt und eine Stimme sagte zu mir: “Hallo mein Stern, aufwachen, du bist da.“ Ich machte die Augen auf und sah in das freundliche Gesicht meines Großvaters. „Opa, endlich“, ich schlang meine Arme um seinen Hals und flüstere ihm ins Ohr, „Du Opa, der Weihnachtsmann ist ein Stück mit uns gefahren und stell dir vor, der Weihnachtsmann lief barfuss“. Mein Opa lächelte mich liebevoll an: „Ja, hab` ich mir doch gleich gedacht. Der ganz Rücksitz ist voller Goldstaub und der kann ja nur vom Weihnachtsmann kommen. Und barfuss geht er oft, das weiß ich ganz genau, denn manchmal verschenkt er in letzter Minute seine Stiefel und hat keine Zeit sich noch andere zu besorgen. Und wenn er dann in die Häuser kommt, dann zieht er sich ein paar Schuhe oder Stiefel an die dort stehen, von dem Familienvater, dem Onkel oder dem Opa, ganz egal, Hauptsache er kann erst mal seine Füße etwas aufwärmen. Die Kinder denken dann oft, das ist gar nicht der echte Weihnachtsmann, sondern jemand den sie kennen. Aber diese Kinder kennen eben nicht die Geschichte von dem Weihnachtsmann der barfuss läuft. Und du mein Stern, du weißt jetzt ganz genau Bescheid.“
Ja, ich kannte die Geschichte und den echten Weihnachtsmann. Noch heute hinterlässt er, wie damals bei mir auf dem Rücksitz, Goldstaub und die Schuhe oder Stiefel, die leiht er sich auch manchmal noch aus. Auch bei meinen Kindern kommt er vorbei und wenn er mir dann zuzwinkert, in Stiefeln die ihm nicht gehören, dann weiß ich, er denkt genau wie ich, an damals, an den 24. Dezember 1964 oder 1965.
Esther