Peter Hoeg: Die Kinder der Elefantenhüter
übersetzt von Peter Urban-Halle.
Hanser Verlag 2010. 488 Seiten. 21.90 €.
ISBN 978-3-446-23552-6
Verlagstext:
Auf den ersten Blick sind die Finøs aus Dänemark eine ganz normale Familie: Der Vater ist Pastor, die Mutter spielt Orgel, Peters großer Bruder studiert Astronomie. Doch an einem Karfreitag sind plötzlich die Eltern verschwunden, die schon einmal durch zweifelhafte Wundertaten mit der Justiz in Konflikt geraten waren. Um Vater und Mutter vor weiteren Torheiten zu bewahren, beginnen Peter und seine erstaunliche Schwester Tilte eine großangelegte Suchaktion. Inmitten falscher Heiliger und fanatischer Sinnsucher finden sie ihre eigene Tür zur Freiheit und zum Glück. Peter Høegs spannender und temporeicher Roman ist ein Abenteuer voller filmreifer Szenen, aktueller Anspielungen und verrückter Einfälle. Der Autor von "Fräulein Smillas Gespür für Schnee" zeigt erneut seine mitreißende Fabulierkunst.
Zum Inhalt:
Peter ist vierzehn, sehr klein für sein Alter und wächst in einem protestantischen Pfarrhaus auf der dänischen Insel Finø auf. Damit Sie eine Vorstellung von Finø bekommen: die Insel ist so klein, dass dort alle Kinder gemeinsam in einen Kindergarten und in eine Schule gehen können. Viele der tatkräftigen Inselbewohner üben mehr als einen Beruf aus. Bermuda ist Hebamme und zugleich für die Beerdigungen zuständig, Peters Mutter spielt die Orgel und sorgt als Pyrotechnikerin auf der Insel für Feuerwerkszauber. Fein ziselierte Spitznamen der Inselbewohner verdeutlichen, dass der Erzähler nicht der einzige fabulierfreudige Insulaner ist. Mit der Gelassenheit, die ein Pfarrerskind zum Überleben braucht, berichtet Peter von seiner 93-jährigen buckligen Urgroßmutter, die sich noch an den Ersten Weltkrieg und an die Spanische Grippe erinnern kann. Nach Meinung des jungen Erzählers sind er selbst und sein Hund die einzig Normalen in der Pfarrersfamilie. Einen Eindruck von Peters Talenten zum Spinnen von Seemannsgarn erhalten Sie auf www . tiltes-insel . de. Um den Tourismus anzukurbeln, erfanden Peter und seine Schwester Tilte für den Insel-Prospekt Tierarten, die es nirgendwo sonst auf der Welt gibt.
Peters altkluge, bildhafte Erzählweise hat mich sofort gefesselt. (Der Übersetzer Peter Urban-Halle gibt Høegs jungem Erzähler eine charakteristische Stimme, die Peters nachdenklicher wie abenteuerlustiger Art entspricht.) Peter - nach Autor und Übersetzer der dritte dieses Namens - kündigt an, dass er als Erzähler nicht auf eine Tür zeigen möchte, die in ein Zimmer führt, sondern auf die Tür, die aus dem Gebäude herausführt. Peter bezeichnet seine Eltern als Elefantenhüter; denn im Leben des Pfarrer-Ehepaars gibt es Ereignisse oder Sehnsüchte, die selbst Eltern nicht unter Kontrolle haben. Peters Mutter hat zuletzt an einem Stimmerkennungsmechanismus getüftelt, mit dem sich Türen öffnen oder Lampen anschalten lassen. Nun sind beide Eltern verschwunden. Dass die Gemeindeverwaltung die kurzfristig elternlosen Peter und Tilte in Obhut genommen hat, passt den beiden gar nicht; denn sie wollen dringend mit Unterstützung eines weiteren Bruders eigene Ermittlungen zum Verschwinden der Eltern anstellen. Schwester Tiltes Interessen drehen sich alle um den Tod; Tilte hat in der Familie die Rolle der religiösen Zweiflerin übernommen, die mit Vater Konstantin Grundatzdiskusisonen über Fragen der Religion führte. In einer Nebenrolle der ältere Bruder Hans, Student der Astrophysik. Zu klären ist nun, ob Peters Eltern etwa religiöse Scharlatane sind, Anlagebetrüger oder sogar in eine weltweite Verschwörung verwickelt wurden? Mit ausgeprägt makabrem Humor erzählt Peter von der märchenhaften Villa Kalle Kloaks, des Kanalisations-Baumeisters, und schleicht sich schließlich als blinder Passagier auf die "Weißen Dame", bevor das Schiff in Richtung Kopenhagen ablegt. Als das Figurenarsenal Zuwachs durch eine saudische Prinzessin und eine gut gekühlte Leiche erhielt, hing meine Aufmerksamkeit kurze Zeit durch, doch Peter bekam die Sache schnell wieder in den Griff. Beim Verfassen des Touristen-Prospekt hatte der Erzähler ja gelernt, wie man sein Publikum fesselt und manipuliert.
Mein Eindruck:
Peter Høeg lässt seine abenteuerliche Geschichte von einem hinreissenden Erzähler mit Anspielungen auf Religion, Fundamentalismus und Hirnforschung untermalen. "Wenn ein Erzähler den Leser erreicht, öffnet sich eine Tür", teilt Peter uns aus seinem reichen Erfahrungsschatz mit. Peter erreicht seine Leser mit dem Bild von den elefantengroßen Geheimnissen, die seine Eltern zu verbergen haben. Høegs jugendlicher Ich-Erzähler kokettiert schamlos mit seiner Jugend und verkündet zugleich erstaunlich tiefgründige philosophische Gedanken. Der makabre Humor des Erzählers, verknüpft mit übersprudelnder Lust am Fabulieren, haben mich in Peter Høegs neuem Roman sofort in ihren Bann gezogen. Die enge Geschwisterbeziehung und die spürbare Liebe der Kinder zu ihren exzentrischen Eltern holen den Leser aus den Höhenflügen ins Absurde immer wieder auf den Boden der Realität zurück.
Wenn Sie auf groteske Ereignisse in protestantischen Pfarrhäusern empfindlich reagieren, sollten Sie diese temporeiche Geschichte meiden. Wer sich von Larsens "Die Karte meiner Träume" oder Chabons "Die Vereinigung jiddischer Polizisten" gut unterhalten fühlte, sollte dagegen unbedingt zugreifen.