OT: When The Moon Comes Over The Mountains 1996
„An einem warmen Sonntagmorgen im Oktober 1953, stand meine Tante Belle auf, verließ das Haus und verschwand spurlos.“
So beginnt ein Familienroman für Teenager, überraschend, rätselhaft, spannend, und genau das bleibt die Geschichte auch, gute 180 Seiten lang. Erzählt wird sie von Gypsy, der zwölfjährigen Protagonistin. Für Gypsy beginnt die Geschichte erst richtig, als ihr Cousin Woodrow, Tante Belles Sohn, zu den Großeltern ins Haus nebenan zieht, weil sein Vater sich kaum noch um ihn kümmert. In der Familie wird schon lange nicht mehr über das Verschwinden von Belle gesprochen, aber Gypsy ist unverändert neugierig. Zu ihrer Überraschung ist Woodrow ihren Fragen gegenüber durchaus offen. Die Gespräche bringen über die Wochen einige schwere Konflikte innerhalb der Familie an den Tag, mit denen Gypsy nie gerechnet hätte und zwingen sie, die eigentlich Woodrow mit einer ‚Wahrheit’ konfrontieren wollte, dazu, sich einer Sache zu stellen, der sie immer ausgewichen ist.
Die Autorin löst eine Geschichte, die eigentlich eine düstere und sehr traurige Liebesgeschichte als Kern hat, auf eine ungewöhnliche Art. Was sie erzählt, hat alle Ingredienzien eines Melodramas, aber eben dem weicht sie souverän aus. Die Familie Prater ist eine liebevolle Familie, voller Verständnis für die Schrecken, die das Leben bietet und voller Akzeptanz der Schrecken, ohne aber zu resignieren. Die traurigen Ereignisse spielen sich vor einem warmen Hintergrund ab, eine heikle Mischung, die hier aber perfekt gelingt. Die fünfziger Jahre bilden den Rahmen, White zeichnete sie als eine Zeit der Gelassenheit, nicht der Friedhofsruhe, die Atmosphäre ist beschützend, aber nicht erstickend. Der Ausblick auf die Welt ist konservativ, aber es ist Raum genug für durchaus waghalsige Teenager-Unternehmungen, für Frechheiten und Trotzreaktionen und für viel Witz. Der sonntägliche Kirchgang ist ebenso selbstverständlich wie die Grillfeste mit den Nachbarn, auch wenn man nicht jeden davon sympathisch findet. Erwachsene werden respektiert, aber das heißt nicht, daß ihr Wort das Gesetz schlechthin ist. Die Jugendlichen dürfen ihre eigenen Erfahrungen machen, das gehört zum Erwachsenwerden, auch wenn es die betroffenen Erwachsenen schmerzt. Die Gemeinschaft bietet dem Einzelnen einen sicheren Raum, sowohl um zu reifen, als auch, um Fehler zu machen. Ziel ist es, die Verantwortung dafür zu übernehmen, und zwar jede auf ihre Art.
Beschrieben wird fast ein ganzer Jahresverlauf, poetisch-schön und streckenweise geradezu lustvoll, egal, ob es der Natur oder den üppigen Mahlzeiten gilt. White schafft eine Idylle ohne Kitsch.
Gypsy trifft am Ende ihre eigene Entscheidung, sie tut allen Betroffenen weh. Zur Illustration von Gypsys Entwicklung wählt White eine ganz alltägliche Sache, so banal, daß man sie zunächst nur nebenbei wahrnimmt. Erst als Gypsy gehandelt hat, wird ihre Bedeutung klar und dann erschließt sich auch, daß es in dieser Geschichte nicht um das Verschwinden von Tante Belle, sondern tatsächlich um die Beziehungen in einer großen Familie geht, um Zusammensein und Auseinanderstreben, um Verbindung und Abstoßung, um individuelle Positionen innerhalb einer Gemeinschaft.
Die Lösung des Rätsels ist ebenso überzeugend wie schmerzlich, schön und unheimlich zugleich, wenn man an Gypsys Beispiel begriffen hat, was die Entscheidung für die Freiheit mit sich bringt.