Ich hatte vergessen, dass ich verwundbar bin - Delphine de Vigan

  • Kurzbeschreibung
    Hoffen wir nicht alle immer wieder einmal auf eine Begegnung, die unsere Leben verändert und zum Guten wendet? Mathilde hält sich für eine starke Frau, tatkräftig und entschlossen. Sie ist alleinerziehende Mutter von drei wundervollen Jungen, und sie liebt ihre Arbeit. Wozu sollte sie sich eine Veränderung wünschen? Doch die Veränderung kommt. Mathildes Chef beginnt sie zu mobben, immer stärker leidet sie unter der Situation im Büro. Da prophezeit ihr eine Wahrsagerin eine ganz besondere Begegnung, und Mathilde hofft. Doch worauf? Auf das befreiende Gespräch mit ihrem Chef? Auf die Rückkehr ihrer alten Stärke? Oder auf das Zusammentreffen mit einem Mann? Der prophezeite Tag bricht an ...


    Über die Autorin
    Delphine de Vigan wurde 1966 in Paris geboren, wo sie heute mit ihren zwei Kindern lebt. Sie arbeitet tagsüber für ein soziologisches Forschungsinstitut und schreibt abends, wenn alle schlafen, ihre Romane.
    No & ich wurde in elf Sprachen übersetzt und 2008 mit dem Prix des libraires sowie dem Prix Rotary International ausgezeichnet. (Quelle: Droemer)


    Meine Meinung
    Mathilde ist um die 40 und arbeitet in leitender Position in einem Konzern. Die Stelle hat sie seit 8 Jahren inne und bis vor wenigen Monaten schien der Job der Traumjob schlechthin zu sein. Doch von einem auf den anderen Tag ändert sich das Arbeitsklima zwischen ihr und ihrem Chef. Unmerklich beginnt er sie zu mobben, entzieht ihr Aufgaben, lädt sie nicht mehr zu Meetings ein, teilt ihr wichtige Termine nicht mit. Mathilde ist entschlossen, sich gegen die ungerechte Behandlung zur Wehr zu setzen und sucht immer wieder vergebens das Gespräch mit ihrem Chef. Die angespannte berufliche Situation belastet ihre Psyche und auch ihre körperliche Konstitution verschlechtert sich. Aus einer Laune heraus geht sie zu einer Wahrsagerin, die ihr prophezeit, dass sich am 20. Mai in ihrem Leben etwas entscheidendes verändern würde. Mathilde fiebert diesem Tag nun entgegen. Wird er die erhoffte Wende im Berufsleben bringen? Oder läuft ihr vielleicht sogar ihr Traummann über den Weg? Als der 20. Mai anbricht, ist sie gespannt, was sie erwarten wird. Auch für den Arzt Thibault ist dieser 20. Mai kann Tag wie jeder andere. Er trennt sich von seiner Freundin, eine Entscheidung, die ihm unsäglich schwer fällt. Die Gedanken an die Trennung und die damit einhergehende Veränderung in seinem Leben begleiten ihn auf seinem täglichen Einsatz als mobiler Arzt in Paris. Wie wird dieser Tag für beide enden?


    Delphine de Vigan erzählt im Wechsel die Geschichte von Mathilde und Thibault. Ungewöhnlich war dabei für mich der Wechseln in Zeiten, denn die Ereignisses des 20. Mai sind im Präsens geschrieben, während sie für die Rückblicke auf vergangene Ereignisse den Imperfekt verwendet. Der Wechsel kommt fließend ist mir auf den ersten 50 Seiten zunächst gar nicht aufgefallen, er fügt sich also nahtlos in die Geschichte und die Gedanken der beiden Protagonisten ein. Diese zwei so unterschiedlichen Menschen, die nichts von einander wissen, teilen sich neben ähnlichen oder gleichen Gedanken auch so machen Zweifel, Frust und Niedergeschlagenheit. Ja Delphine de Vigan benutzt gelegentlich sogar die gleichen Sätze in beiden Erzählsträngen, was dazu führt, dass beim Lesen das Gefühl aufkommt, Mathilde wäre für Thibault und Thibault für Mathilde das passende Gegenstück. So fragt man sich während des Lesens, ob sich die beiden in der Millionen-Metropole jemals über den Weg laufen werden. Eigentlich ist das aber gar nicht so wichtig, ob es passieren wird. Wichtig ist die Erkenntnis, dass, mögen die Probleme auch unterschiedlichster Natur sein, wir uns alle in unseren Gedanken und Gefühlen ähnlich sind, auch wenn wir glauben, wir wären die einzigen, denen Ungerechtigkeiten passieren. Wir können von Millionen unterschiedlicher Menschen umgeben sein und ticken doch alle auf die ein oder andere Art gleich.


    Delphine de Vigans Schreibstil liegt mir sehr. Er ist klar, lässt Bilder und Stimmungen entstehen, ist dabei aber nicht überbordend sondern eher schlicht. So geht einem der Frust und die Niedergeschlagenheit der beiden Protagonisten beim Lesen eigentlich noch mehr an die Nieren. Es ist schon ein ziemlich hoffnungsloses Buch, das die Autorin hier vorstellt, eines bei dem man beim Lesen ankämpfen muss, sich von der negativen Grundstimmung nicht anstecken zu lassen. Lichtblicke gibt es keine, statt dessen wächst bei beiden Protagonisten bis zum Abend des 20. Mai kontinuierlich der Frust und der Gedanke: "warum packe ich nicht einfach meine Tasche und lasse den ganzen Mist hinter mir". Genau das ist auch der Grund, der einen beim Lesen ans Buch fesselt. Man will wissen, ob beiden der Befreiungsschlag gelingt.


    Das Ende ist offen und lässt dem Leser viel Raum dafür, die Geschichte nach eigenem Gutdünken weiterspinnen zu können. Für einen Moment, einen ganz kleinen Moment, scheint das Leben in Paris den Atem anzuhalten und genau dieser Moment ist es, der dem Leser dann doch ein kleines Bisschen Hoffnung wieder zurück gibt.

    Diese Rezension wurde im Rahmen des Amazon Vine-Produkttester-Programmes erstellt. Für die vorab erhaltenen Rezensionsexemplare gilt, ähnlich wie bei vorablesen, keine Sperrfrist.

  • Der Tag, an dem sich alles ändern sollte


    Zum Inhalt:
    Was gerade mit Mathilde passierte, konnte sie nur mit ihren heranwachsenden Söhnen besprechen; es Außenstehenden mitzuteilen, war für Mathilde völlig unmöglich. Sowie ihr ältester Sohn in die Vorschule eingeschult wurde, hatte sich die früh verwitwete Mathilde um eine Stelle beworben. Jacques gegenüber, der sie für den verantwortungsvollen Job in einem internationalen Nahrungsmittelkonzern eingestellt hatte, fühlte sie sich seit jener Zeit zu besonderer Loyalität verpflichtet. Nachdem Mathilde ihrem Chef bei der Präsentation einer Kundenumfrage öffentlich widersprochen hatte, wird sie von ihm geschnitten. Ihre Aufgaben erhält Mathilde nur noch auf unpersönlichem Weg. Jacques entzieht sich jedem Versuch eines Gesprächs, kontrolliert Mathilde, kritisiert sie aus banalsten Anlässen. Jacques mobbt Mathilde. Wenn ihr ständig erklärt wird, sie sei erschöpft, sei eine schwierige Kollegin, wird Mathilde bald wirklich erschöpft oder schwierig sein. Mathilde behandelt Jacques zunächst nachsichtig als sei er ein übel gelauntes Kind, versucht durch besonderen Fleiß ihre Situation zu verbessern. Doch schon bald ist nicht zu übersehen, dass sich Mathildes Kollegen von ihr zurückziehen. Statt der besonderen Begegnung mit einem Mann, die Mathilde von einer Wahrsagerin prophezeit wurde, sitzt eine Praktikantin an Mathildes Abeitsplatz. Mathilde muss in ein fensterloses Kabuff direkt neben den Toiletten umziehen; ihr Zugang zu den Firmendaten ist blockiert. Ihre Kollegen sehen betreten zur Seite, niemand wagt, sich auf ihre Seite zu stellen. So kann es nicht weitergehen.


    Auch in Thibaults Leben muss sich dringend etwas ändern. Der junge Arzt arbeitet als angestellter Notarzt. Thibault hetzt von einem Einsatz zum anderen durch den Großstadtverkehr, erledigt die Galeerenjobs, die unangenehmen Aufträge. So manches Mal wird er von alten oder einsamen Menschen gerufen, die seit Wochen mit niemandem mehr gesprochen haben. An seinen freien Wochenenden trifft Thibault sich mit Lila, die sich ihm hingibt, ohne ihn zu lieben. Thibault müsste sich endlich von Lila trennen.


    Thibault und Mathilde sind jeder in seiner Weise in einer düsteren Ecke der französischen Metropole eingesperrt (der Originaltitel lautet Les heures souterraines, die Stunden unter der Erde). Mathilde ist auf besondere Art mit der Welt der Tunnel und Unterführungen verbunden. Sie fürchtet in der ohnehin gespannten Situation, morgens den Zug zu verpassen und zu spät zu kommen. Thibault wird regelmäßig zu Notarzteinsätzen in die U-Bahn gerufen. Werden die Wege des Notarztes und der im Beruf kaltgestellten Mathilde sich kreuzen? Könnte Thibault die besondere Begegnung sein, die Mathilde prophezeit wurde?


    Fazit:
    Delphine de Vigan zeigt in "Ich hatte vergessen, dass ich verwundbar bin" ihr Talent, alltägliche Ereignisse in eben dem Moment zu schildern, in dem beinahe unmerklich die Normalität in eine Katastrophe umzukippen droht. Die Summe der Kleinigkeiten, die sich erst in der Menge als bösartig erweisen, die Alltagsroutine, die sich wie ein ein unüberwindlicher Berg vor den Protagonisten auftürmt, vermittelt de Vigan meisterhaft. Thibault meint an dem geschilderten besonderen Tag im Mai, alles habe sich gegen ihn verschworen. Mathilde hat sich durch den Zuspruch ihrer Freundin Laetitia darin bestätigt gefühlt, dass "es aufhören muss". Wie Mathilde durch die Isolierung am Arbeitsplatz jede Lebensfreude verliert, was Mobbing für den Betroffenen bedeutet, auch wie zermürbend die tägliche Routine für Thibault wirkt, bringt die Autorin uns mit knapp gesetzten Worten nahe. In ihrem kurzen Text lässt de Vigan die Gefühlswelt ihrer Figuren verblüffend lebendig werden.


    Das Buch stammt aus dem amazon-Vine-Programm und soll ab 10.9.2010 erhältlich sein.

  • "There's a crack, a crack in everything. It's how the light gets in."
    Leonard Cohen


    Ich möchte nur eine kurze Rückmeldung zu diesem Buch geben, das Inhaltliche wurde ja schon abgehandelt.
    Ich fand es sehr packend, es hat sich auch sehr schnell lesen lassen und ich habe es innerhalb von einem Tag verschlungen.


    Das Positive:


    De Vigan schreibt meines Empfindens nach sehr ansprechend, ohne Schnörkel aber irgendwie auch sehr lebendig (dazu muss ich aber auch sagen, dass ich die französische Ausgabe gelesen habe, ich weiß nicht wie die Übersetzung ausfällt).


    Mathilde fand ich als Figur sehr gelungen und nachvollziehbar, in ihrer Stärke, wie auch ihrer Verzweiflung. Ich fand auch ihr Thema - Mobbing - sehr ansprechend, es ist mir als solches noch nie in einem Buch begegnet (vielleicht sollte ich auch mal Annette Pehnts gleichnamigen Roman lesen).
    Trotz des schwierigen Themas ließ sich das Buch gut lesen, es handelt von einem relativ kurzem Abschnitt im Leben der Protagonisten, der nur 2 Tage umfasst, es ist auch sehr kurz (um die 200 Seiten, nicht so klein bedruckt).


    Ich fand es packend und berührend und finde auch den deutschen Titel sehr passend (im französischen heißt das Buch 'Die unterirdischen Stunden - auch passend, weniger poetisch).


    Ich finde dass De Vigan wunderbar über die Verletzlichkeit, die Müdigkeit und Abgestumpftheit, aber auch über die kleinen Momente des Glückes der Menschen in der modernen, urbanen Welt schreiben kann. Das hat sie schon in No und ich bewiesen und führt es hier, mit weniger Pathos weiter.


    Das Negative:


    Ich fand Thibault, den zweiten, liebeskranken Protagonisten, als Charakter schwammig und nicht ganz glaubwürdig. Er fühlte sich für mich irgendwie falsch an. Das ist aber ok, im echten Leben kann ich mich auch nicht in alle hineinversetzen.


    Ich fand das Ende des Romans zwar konsequent (offen), hätte aber auch dem Roman ein glückliches Ende gewünscht. Somit ist das zwar einerseits positiv, weil unkitschig, gleichzeitig aber halt traurig, weil wie das Leben, ohne Happy End. Irgendwie geht es ja immer weiter.


    Zudem fand ich den Roman etwas bruchstückhaft, unfertig. Er erzählt keine wirkliche Geschichte, eher ein Gefühl, einen Gemütszustand, der sich zuspitzt.
    Aber auch dies kann als bewusstes Stilmittel gewertet werden.


    Alles in allem


    ...schön und traurig und menschlich. Vor allem menschlich und das macht dieses Buch für mich wertvoll, wenn auch nicht genial oder lebensverändernd.


    8 von 10 Punkte.

  • Ich erinnere mich, dass mich die Lektüre ziemlich aufgewühlt hat, nicht nur, weil ich die Grundsituation kenne, sondern weil die Autorin so einfühlsam und zugleich schonungslos davon erzählt, was ihrer Mathilde widerfährt, dass ich eigentlich die ganze Zeit über ein Knäuel aus Wut, Traurigkeit und Resignation im Bauch hatte.


    Wie Bouqui schreibt, ist der Stil schlicht, stellenweise schon beinahe reduziert. Aber genau das lässt dem Leser viel Raum, die Empfindungen der Figuren nachzuspüren.


    Im Laufe der Geschichte lässt die Autorin ihre beiden Hauptfiguren aufeinander zu driften - äußerlich wie innerlich - und immer wieder fragt man sich, ob es zu einer Begegnung zwischen Mathilde und Thibault kommen wird und wagt zu hoffen, dass ein Zusammentreffen für beide heilsam sein könnte ...


    Mit No & ich konnte die Autorin mich bereits bezaubern und jetzt werde ich Delphine de Vigan erst recht im Auge behalten.
    Ich hatte vergessen, dass ich verwundbar bin ist ein unbequemer und alles andere als belangloser Roman, der lange nachhallt und mich sehr bewegt hat.
    Definitiv ein Buch, dem ich viele, viele Leser wünsche!

  • Besser kann man Mobbing nicht beschreiben. Mathilde verliert quasi ihr Leben, weil ihr Chef aufgrund einer Präsentation in der sie sich eine eigene, von seiner abweichenden Meinung leistete, anfängt sie zu zerstören. Alles ist sehr echt erzählt. So spielt es sich millionenfach in Unternehmen ab.


    Die Geschichte von Thibault konnte ich auch gut nachvollziehen, Hamsterrad in einem Beruf der so nicht sein sollte.


    Das eigentlich furchtbare an diesem Buch ist für mich, das niemand wirklich eine Änderung herbeiführt. Alles läuft weiter, an jedem Tag geht die Sonne auf und nichts wird anders. Jeder sieht das Elend, sieht das etwas falsch läuft, findet aber nicht die Energie einzugreifen. Weder die Betroffenen noch die Zuschauer. Hier fehlt mir in diesem Buch der Ansatz einer Änderung. Auch wenn es die Wirklichkeit gut darstellt, sollte man seine Leser nicht in diesem Loch alleine lassen.


    von mir 8 Pkt

  • Meine Meinung


    Ich hatte beim Lesen den Eindruck, dass der Vorgesetzte bei der Präsentation deshalb austickt, weil er seine Eifersucht nicht in den Griff kriegt - Er hat eine extreme narzisstische Persönlichkeitsstörung. Die Schilderung dieser Szene gehört fast schon in überfüllte Psychopathologie-Vorlesungen. Ich war einfach nur perplex und fragte mich, ob das nun wegen des dramatischen Effekts total überzeichnet geschildert wird, oder ob Eifersucht wirklich so abläuft.


    Da kommt natürlich noch etwas dazu: Man(n) kann es nicht ertragen, dass frau einen anderen Mann BESSER findet. Sie die alleinerziehende dreifache Mutter, die vor dieser Anstellung ein 48-monatiges Loch im Lebenslauf hat.


    Ich finde den Titel extrem langatmig und irgendwie unpassend. Wäre interessant, wie der Originaltitel lautet...