Verlag: Kinzelbach, 2010
Broschiert: 164 Seiten
Originaltitel: Sous le jasmin la nuit
Übersetzt aus dem Französischen von Christine Belakhdar
Kurzbeschreibung:
Die Algerierin Maïssa Bey thematisiert in ihren Erzählungen die vielfältigen Schicksale und Probleme von Frauen und Mädchen. Sie lässt vergewaltigte, entwürdigte, verstoßene, von der Hoffnung auf Liebe enttäuschte Frauen zu Wort kommen. Aber sie kämpfen um ihre Freiheit und um ihre Identität. Die Autorin nimmt sich dieser Lebensfäden mit Empathie und Liebe an.
Über die Autorin:
Die Algerierin Maissa Bey (*1950) lebt heute in Sidi Bel Abbès. Studium der Romanistik in Algier, danach Lehrtätigkeit. Sie schreibt in Französisch. Maïssa Bey hat bewusst ihr Land Algerien nicht verlassen. Sie ist Gründerin und Vorsitzende der Frauenvereinigung „Parole et écriture“. Von ihr liegen Romane, Novellen und Theaterstücke vor. Mit dem vorliegenden Novellenband erscheint ihr erstes Werk in deutscher Übersetzung.
Über die Übersetzerin:
Christine Belakhdar studierte Romanistik, lebte 10 Jahre in Algerien und seit 1994 wieder in Berlin. Sie ist Vorsitzende des Kulturvereins yedd e.V in Berlin, der für einen kulturellen Austausch zwischen Algerien und Deutschland steht.
Sie übersetzte u.a. auch Tidiane N'Diaye
Meine Meinung:
Diese Erzählungen sind zwar das erste Buch der algerischen Autorin in deutscher Übersetzung, aber offensichtlich haben wir hier keine unerfahrene Autorin vor uns. Sie hat schon einige Bücher veröffentlicht.
Aufgrund der Themen habe ich etwas in Richtung Assia Djebar erwartet, und obwohl es Schnittmengen gibt, besitzt Maissa Bey doch einen eigenständigen Stil, der gleich schon in der ersten Erzählung, der Titelstory, durch seinen lyrischen Sound auffällt.
Maissa Bey, die in französischer Sprache schreibt, hat einen wirksamen Stil gefunden, um beim Leser Emotionen und Anteilnahme auszulösen.
Ihre Heldinnen sind überwiegend islamische Frauen, die um die Momente der eigenen Identität ringen. Sie suchen die Augenblicke der Selbstbestimmung anstatt nur Eigentum eines anderen zu sein.
Was in diesen Geschichten passiert, das erfolgt meistens nicht durch Handlung oder Dialoge sondern in Reflexionen um Nähe und Distanz, um Körperlichkeit und Persönlichkeit. Die Summe der Geschichten ergibt eine kollektive Stimme!
Dabei sind die einzelnen Erzählungen schon unterschiedlich, „Improvisation“ z.B. besteht aus einem Vorsprechen einer Frau in Frankreich für ein Theaterstück, Nora von Henrik Ibsen.
Mit Nora fühlt sich die Schauspielerin solidarisch. Somit ist es auch ein Anklage und ein Ausbruch, da auch Ibsens Nora von ihrem Mann, von der Gesellschaft gestützt, wie ein Besitz ohne Eigenleben behandelt wurde.
In „Komma“ ist ebenfalls eine Identifizierung gegeben, die fast zu einem Verschwimmen von Vergangenheit und Gegenwart führt. Eine 18jährige von heute namens Sarah liest das nach Jahren zufällig gefundene Tagebuch einer Marie. Das Tagebuch stammt aus 1962 in Algier und erzählt vom Kriegsausklang sowie von einer Liebe, es ist wie ein Eintauchen in eine vergangene Zeit. Diese Tagebucheintragungen der ebenfalls 18jährigen Marie wirken stark auf Sarah, sie merkt, dass es Zeit für einen Aufbruch ist.
„Nacht und Stille“: Diese Geschichte berührend durch die Perspektive einer jungen Frau, die schwanger einem Lager entkommen ist, indem sie vergewaltigt wurde. Ihre Eltern und sogar ihr erst 2jähriger Bruder wurden von islamistischen Fanatikern ermordet. Jetzt ist sie in einem Krankenhaus in Algier und fragt sich, wie sie alleine und entehrt weiterleben kann.
„Frauenhand am Fenster“ ist eine melancholische Geschichte mit einem männlichen Protagonisten und lässt den Leser ebenfalls nicht kalt. Dieser Text wurde den Toten und Vermissten gewidmet, die Opfer der Fahrlässigkeit der Zivilbehörden und der Überschwemmung vom 10.November 2001 in Algier waren.
Die Geschichte „Was ist das, ein Araber“ ist ein gutes Beispiel dafür, wie die Autorin auf wichtige Fragen keine oberflächlichen Antworten zulässt sondern in den Erinnerungen immer weiter bis in die Kindheit ins Jahr 1957 zurückgeht und dabei Schicht um Schicht freilegt.
Auch die restlichen Geschichten, auf die ich jetzt nicht mehr im Einzelnen eingehe, überzeugen!
Da die poetischen Sätze auch in Deutsch so gut funktionieren, muss von einer sehr gelungenen Übersetzung durch Christine Belakhdar ausgegangen werden! Fußnoten helfen bei den vielen Zitaten, die Maissa Bey verwendet. Christine Belakhdar schrieb auch das Nachwort, in dem sie die algerischen politischen Ereignisse umreißt und Maissa Beys Stil und Stellung vorstellt.
Fazit: Maissa Bey ist eine Autorin mit einem ganz eigenständigen, originellen und ausdrucksstarken Stil.
Nachts unter Jasmin ist durch die thematischen inneren Zusammenhänge ein ausgezeichnetes Gesamtergebnis. Bei vielen der Geschichten dürfte es sich lohnen, sie nochmals zu lesen. Ein Buch von großer literarischer Qualität!