Ein bisschen Heimat

  • Jetzt bin ich 78 Jahre alt und die meisten Menschen halten mich für ein wenig verrückt. Finde ich gar nicht, ich bin nur eben ein bisschen anders. Ich bin noch ganz klar im Kopf und weiß genau was ich will. Erst neulich hörte ich wie Pfleger Tim "völlig verkalkt" seinem Kollegen entgegen-murmelte und eindeutig mich damit meinte. Was weiß dieser junge Bengel schon vom Leben. Nur weil ich sagte: "Ein bisschen Heimat zu Heilig Abend, das wäre das Schönste für mich". Seit Monaten schon bereite ich ihn vor - meinen Ausflug am 24. Dezember. Keiner hat Zeit für mich und hier im Heim möchte ich in diesem Jahr nicht sein. Ich habe mir etwas ganz besonderes vorgenommen, etwas wunderschönes: einen Ausflug in die Heimat. Ich hoffe, sie erwischen micht nicht...


    Seit 8 Jahre lebe ich in diesem Altenheim - 300 km entfernt von meiner Heimat. Meine Tochter war der Meinung, das sei das Beste für mich, hier sei ich versorgt, hier ist immer jemand da und schließlich sei ich ja auch ganz in der Nähe der Familie. Familie, damit meint sie sich und ihren Mann, beide mehr mit dem Beruf als mit dem Ehepartner verheiratet, ganz oben auf der Karriereleiter. Eigentlich haben sie immer etwas zu tun und nie wirklich Zeit. Einmal im Monat kommen sie für eine halbe Stunde und erzählen mir von ihren Erfolgen, von Abschlüsse, Verträgen und Provisionen, die mich, wenn ich mal ganz ehrlich bin, eigentlich überhaupt nicht interessieren.Vielleicht ist es die Zwanghaftigkeit oder Oberflächkeit, die diese Besuche für mich so anstrengend machen. Eine Umarmung oder ein Streicheln über meinen Handrücken, oder ein liebes Wort - so etwas findet hier keinen Raum. Eine halbe Stunde, das sind 30 Minuten. 30 Minuten Familienleben im Monat! Kaum sind sie da, sind sie auch schon wieder im Aufbruch,


    Ich hatte noch einen Sohn, er kam bei einem Verkehrsunfall ums Leben. Meine Schwiegertochter hat irgendwann wieder geheiratet. Ein halbes Jahr nach dem Tod meines Sohnes kam seine kleine Tochter Joline zur Welt. Ich habe sie niemals gesehen. Ab und zu habe ich Fotos per Post bekommen, aber der Kontakt war nie besonders intensiv. Einmal, da konnte ich es nicht mehr aushalten und habe meine Schiegertochter angerufen. Sie flüsterte ins Telefon, dass ihr Mann das nicht will, er sei der Meinung sie müsse mit der Vergangenheit abschließen. Ich weinte, unendlich viele Tränen. Die Sehnsucht mein Enkelkind einmal kennen zu lernen begleitete mich in all den Jahren.


    Die Flucht aus dem Heim hat prima geklappt, niemand hat etwas bemerkt. Einmal noch möchte ich durch mein Dorf spazieren, einmal unser Haus sehen, einmal noch das Vergangene spüren. Nicht all zu viel Menschen sind unterwegs am 24. Dezember. Sie fahren alle irgendwohin, mit mehr oder weniger Gepäck, um die Festtage mit Freunden oder der Familie zu verbringen. Ich habe kein Gepäck - ich werde nicht lange bleiben. Die Fahrt mit dem ICE war problemlos und in Hannover bekam ich sofort die richtige S-Bahn. Nun bin ich da! Bahnsteig Dedensen. Da stehe ich überglücklich und stolz auf mich und meinen Mut. Viele Jahre ist es her, dass ich hier weggeholt wurde, in ein besseres Leben. Für wen es besser sein soll, das habe ich bis heut noch nicht herausgefunden. Ganz langsam gehe ich meinen Weg, durch das weihnachtliche Dorf. Alles ist so vertraut, ich kenne hier jede Straße und jedes Haus. Kaum jemand ist um diese Tageszeit am Heilig Abend noch unterwegs. In den Häusern laufen die weihnachtlichen Vorbereitungen. Der Kanal - wie viele Spaziergänge bin ich hier gegangen, allein und in Gesellschaft, im Sommer und im Winter. Vor unserem Haus bleibe ich stehen. Wie viele glückliche Jahre habe ich hier verbracht. Ich sehe meinen Mann im Garten arbeiten, meinen Son Fußball spielen, meine Tochter schaukeln. Jahrzehnte sind vergangen, jetzt bin ich alt, einsam und allein.


    Ich gehe langsam weiter. Mein Weg führt mich am Kindergarten vorbei zur Kirche. Hier wurden wir getraut, die Kinder getauft und konfirmiert. Ich gehe hinein und setze mich in eine hintere Bank. Heimat, auch hier spüre ich sie ganz stark und intensiv und eine unendliche Traurigkeit und Einsamkeit überkommt mich. Heute findet ein Familiengottesdienst statt und es dauert nicht lange, da kommen die ersten Gottesdienstbesucher und ich werde abgelenkt durch die vielen Gesichter.


    Das Krippenspiel beginnt und ich schaue gespannt zu. Und dann plötzlich sehe ich sie, ein kleiner Engel mit weißen Flügeln, sie spielt eine kleine Rolle in diesem Stück: Joline, meine Enkeltochter. Wie niedlich sie ist! Sie sieht meinem Sohn wie aus dem Gesicht geschnitten ähnlich. Joline! Ich fange hemmungslos an zu weinen, die Trauer, die Einsamkeit und die Verzweiflung der letzten Jahre brechen aus mir heraus. Ich möchte mich zusamenreißen, aber ich kann nicht. Es wird ganz still in der Kirche, nur die Orgel spielt lseise weiter. Eine schluchzende, weinende alte Frau - keiner weiß, wie er auf mich reagieren soll. Da kommt der kleine Engel auf mich zu, krabbelt auf meinen Schoß und legt seine Arme um meinen Hals. "Oma, endlich bist du da", flüster sie in mein Ohr. "Ich habe es mir so doll vom Weihnachtsmann gewünscht".

  • Wow, Esther... Tolle Geschichte. Ich muss mir eben mal die Tränen aus den Augen wischen... Mit so einem Thema kann man mich irgendwie immer rühren... Wirklich toll und einfühlsam geschrieben...


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    "Nicht wer Zeit hat, liest Bücher, sondern wer Lust hat, Bücher zu lesen, der liest, ob er viel Zeit hat oder wenig."

    - Ernst Reinhold Hauschka

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