Der Abend nach dem Begräbnis der besten Freundin - Marlene Streeruwitz

  • Eine namenlose Ich-Erzählerin ist auf dem Weg nach Hause. Zu Hause wird sie auch den Abend verbringen, allein mit sich und dem Gedenken an ihre besten Freundin, deren Beerdigung sie an diesem Tag erlebt hat. Das Gedenken ist weder nostalgisch noch ist es liebevoll. Die Gedanken der Erzählerin sind beherrscht von Wut, Ablehnung, Zorn, Neid. Sie klagt und klagt an, die Freundin, die Familie der Freundin, ihre Lebensumstände, die Erziehung, die Krankheit und nicht zuletzt sich selbst, wenn Schrecken und Verlustgefühle in schlechtes Gewissen und Schuldgefühle umschlagen.


    Der Rückblick und der Versuch einer Bilanz der Beziehung zwischen den beiden Frauen ist aber nur die äußere Schicht der Auseinandersetzung mit einer ganz anderen Frage. Der Kern des Räsonierens und sich Verteidigens, des Wütens, der Verachtung, des Neids und der zornigen Erkenntnis, daß das eigene Leben derweil ungebremst weitergeht, ist die Frage nach dem eigenen Sterben. Immer stärker konzentriert sich ihr Denken auf diese Frage, immer enger kreisen die Gedanken darum. Kann man den Tod erfahren oder erlebt man nur das Sterben? Wie wird es sein, wie geht man damit um, wenn es soweit ist?


    50 Seiten lang läßt Streeruwitz diesen Gedanken im Kopf ihrer Ich-Erzählerin freien Lauf. Dabei fließen die Gedanken keineswegs, sie springen auf, stocken, wandern hierhin und dorthin. Kurze und kürzeste Sätze, nicht selten nur ein Wort, spiegeln die Gedankengänge wider. Oft sind die Sätze unvollständig. Das wesentliche Satzzeichen ist der Punkt am Ende. Es werden keine Fragen gestellt, gegen Ende, wenn die Sprecherin nach Stunden der inneren Auseinandersetzung ruhiger wird, werden die Sätze ein wenig länger und fangen an, kleine Nebensätze zu wagen. Das geschieht aber längst nach der Erkenntnis, daß das Sterben ohnehin nicht in Worten auszudrücken ist. ‚Alles Fluchtsätze das. Alles. Ja alles überhaupt. Jeder Satz so eine Flucht.’


    Trotz der Kürze und sprachlichen Knappheit des Monologs entsteht ein präzises Bild einer Frauenfreundschaft und eines typischen Frauenlebens zwischen gesellschaftlichen Rollenvorstellungen und individuellem Glücksanspruch. Deutlich wird auch, wie sich jedes Leben nur auf sein Ende zu bewegt, und wie hilflos man dieser Tatsache gegenübersteht. Am Ende, zwölf Stunden nach der Beerdigung, ordnet sich das Gedankenchaos scheinbar. Die letzten neun der ohnehin kleinformatigen Seiten füllen nur noch Kurzsätze, in regelmäßigem Abstand untereinandergeschrieben, eine Andacht, ein Gedicht, ein Flehen, ein Gebet, vielleicht. Oder neue Fluchtsätze.


    ...
    besuche mich
    verlornes kind
    und nimm mich mit
    und heim in meiner
    mutter silbermatte scheibe
    und zeige mir
    wo ich ein bleiben
    find

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus