Tagebuch der Trauer – Roland Barthes

  • Oktober 1977 bis September 1979


    Hanser 2009
    Texterstellung und Anmerkungen von Natalie Léger
    Originaltitel: Journal de denil 26.octobre 1977-15.septembre 1979
    Aus dem Französischen von Hirst Brühmann


    Kurzbeschreibung:
    Wem ein geliebter Mensch stirbt, dem fehlen die Worte. Roland Barthes, einer der anregendsten Denker aus dem Frankreich des 20. Jahrhunderts, suchte nach dem Tod seiner Mutter Trost in der Sprache. Auf etwa 250 Karteikarten hielt der Philosoph der Zeichen kurze Notizen fest, die um die Tote, die Trauer und um seine Einsamkeit kreisen. Im Juni 1978 brechen die Aufzeichnungen ab, die jetzt aus seinem Nachlass ediert wurden. Entstanden ist ein ungewöhnliches und bewegendes autobiografisches Zeugnis, das eindrucksvoll die Grenze zwischen der Trauer und der Sprache abtastet.


    Über den Autor:
    Roland Barthes, Literaturkritiker, Schriftsteller und Philosoph des 20. Jahrhunderts, war einer der bedeutendsten französischen Denker der Nachkriegszeit.


    Meine Meinung:
    Einen Tag nach dem Tod seiner Mutter beginnt Rolan Barthes ein Tagebuch, das fast 2 Jahre umfassen wird und sich ausschließlich in genauer Selbstbeobachtung mit dem Thema Trauer befasst.
    Er erfasst die verschiedenen Stadien der Trauer und beschreibt aus den Details heraus komplexe Schlußfolgerungen.
    Gecshrieben wurde das Tagebuch anfangs täglich, später mit größeren Unterbrechungen in Paris und Urt, manchmal auch auf Reisen, z.B. in Marokko.
    Er hat diese Eintragungen auf Zettel geschrieben, daher sind in gedruckter Form manche Seiten nur gering gefüllt. Manchmal umfassten die Eintagungen nur einen Abschnitt, nur wenige Sätze oder auch nur ein Satz.
    Barthes hält seine Sätze knapp, so erreicht er besondere Klarheit.
    Als vergleich dienen ihm wiederholt Sätze von Marcel Proust.


    Ich glaube, Hanser hat mit der Herausgabe dieses Tagebuchs gute Arbeit geleistet.
    Ich selbst bin zum Glück nicht in Trauer und kann das Tagebuch mit Gleichmut, aber auch großen Interesse lesen. Ich halte Roland Barthes Stil für beeindruckend und seine Denkansätze für aufschlußreich und wichtig, daher habe ich dieses Buch vorgestellt.

  • Das hört sich wirklich sehr interessant an, aber ich hätte da noch eine Frage, wie verständlich sind seine Sätze geschrieben? Philosophen etc. schreiben gerne in etwas "höherem Sprachgebrauch", was es mir oft schwer macht, den Sinn zu erkennen.


    Kannst du evtl mal einen kleinen Textauszug geben? :wave

  • Es ist eine Mischung aus klaren Sätzen, die sofort einleuchten und literarisch erhöhten Sätzen, die den Leser innehalten lassen und wo man nachdenken kann.


    Es gibt aber auch hilfreiche Kommentare zu einzelnen Abschnitten am Ende des Buches.


    Hier ein paar wenige Eintragungen von Barthes:


    26. Oktober 1977


    Erste Hochzeitsnacht.


    Doch erste Nacht der Trauer?



    27. Oktober


    – Sie haben nie den Leib des Weibes gekannt!


    – Ich habe den Körper meiner kranken, dann sterbenden


    Mutter gekannt.



    27. Oktober


    Jeden Morgen, gegen halb sieben, draußen in der Nacht das Scheppern der Mülltonnen.


    Erleichtert sagte sie: Endlich ist die Nacht vorbei (sie litt unter der Nacht, allein, unsagbar).



    27. Oktober


    – SS: Ich werde dich bei der Hand nehmen, ich werde dir Ruhe verordnen.


    – RH: Seit sechs Monaten warst du niedergeschlagen, weil du es wußtest. Trauer, Depression, Arbeit etc. – aber diskret, wie gewohnt.


    Verstimmung. Nein, Trauer (Depression) ist etwas ganz anderes als eine Krankheit. Wovon wollen sie mich heilen? Um in welchen Zustand, in welches Leben zurückzukehren? Wenn Trauer eine Arbeit ist, so ist derjenige, der daraus hervorgeht, kein fades, sondern ein moralisches Wesen, ein wertvolles Subjekt – und kein integriertes.



    1. November:
    Was mich am meisten verblüfft: die Trauer in Schichten - wie die Sklerose


    2. November:
    Ich weiß jetzt, dass meine Trauer chaotisch sein wird.


    Paris, 31 Juli 1978:
    Ich wohne in meinem Kummer
    und das macht mich glücklich.
    Mir ist alles unerträglich, was mich daran hindert, in meinem Kummer zu wohnen.



    21.November:
    Ich weiß jetzt, woher die Depression kommen mag:
    Bei erneuter Lektüre von diesem Sommer bin ich zugleich "bezaubert" (gefesselt) und enttäuscht: Selbst im Augenblick seiner höchsten Intensität ist das Schreiben also doch nur lächerlich. Die Depression wird kommen, wenn ich mich im tiefsten Kummer nicht einmal am Schreiben festhalten kann.


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