Reise ans Ende der Nacht - Louis-Ferdinand Céline

  • Über den Autor:


    Louis-Ferdinand Céline wurde 1894 in Courbevoie geboren. Nach Kriegsteilnahme- und individalität studierte er Medizin und reiste ab 1925 im Auftrag des Välkerbundes durch Amerika, Europa und Afrika. Nachdem er sich im besetzten Frankreich durch antisemitische Pamphlete und Mitarbeit an der Kollaborationspresse hervorgetan hatte, floh er 1944 aus Frankreich, wo er in Abwesenheit zum Tode verurteilt wurde. Nach der Amnestie kehrte er 1952 nach Frankreich zurück und ließ sich als Armenarzt in Meudon nieder. Er starb am 1. Juni 1961.


    Inhalt:


    Erzählt wird die Lebensreise des Ferdinand Bardamu. Der Medizinstudent meldet sich zur Mobilmachung 1914 als Freiwilliger, doch schnell lernt er den Krieg als einen apokalyptischen Kreuzzug zur Vernichtung der "lästigen Armen" kennen. Nach dem Krieg verschlägt es Bardamu nach Afrika; er erlebt Lüge und Elend des Kolonialismus und wird schließlich todkrank von Eingeborenen auf eine Galeere Richtung Amerika verschachert. Schließlich kehrt er nach Frankreich zurück und wird Armenarzt. Auch dort hat er die gleichen Erlebnisse, die nach Célines Erfahrung das menschliche Dasein ausmachen: Armut, und daraus folgend: Haß, Gemeinheit und Verbrechen - "Die Reise" zeichnet sich durch eine schockierend genaue und düstere Wiedergabe sozialer Verhältnisse aus. Um diese "höllisch reale" Menschenwelt entstehen zu lassen, schuf Céline eine eigene Sprache voller Stilbrüche, zwischen Argot, Hoch- und Kunstsprache, die erst in der Übersetzung von Hinrich Schmidt-Henkel auch auf Deutsch zu ihrem Recht kommt


    Meine Meinung:


    Die Reise ans Ende der Nacht führt von der Front des ersten Weltkriegs, über die französischen Kolonien im tiefsten Dschungel Afrikas, den Großstädten Amerikas zurück nach Frankreich. Hier schließt sich für den Protagonisten der Kreis: Nach abgebrochenem Studium und einem Aufbruch in die Armee, beendet er nach vielen Jahren sein Medizinstudium und fristet fortan an sein Leben als Arzt in heruntergekommenen, elenden Vierteln, in denen die meisten Bewohner zu arm oder geizig sind, um seine Dienste zu bezahlen.


    Soviel zur Handlung, einen roten Faden gibt es nicht. Spannung im eigentlichen Sinn kommt nicht auf, man ist nicht daran interessiert, was als nächstes geschehen wird, wohin die Reise noch führen könnte, sondern wie der Protagonist diese Ereignisse wiedergibt, wie er die Lebensumstände in drastischen Bildern einfängt, und die Personen mit all ihren Schwächen vor dem Leser entblößt.


    Die Stimme, mit der der Protagonist erzählt, ist schonungslos ehrlich und unverblümt. Nichts und niemanden schont er, nicht einmal sich selbst. Er ist kein strahlender Held, kein Außenstehender, kein besserer Mensch der über den Verhältnissen steht, und das weiß er auch. Mitunter radikal, immer authentisch. Die Sprache, die er verwendet, ist so wandelbar wie ein Chamäleon. Sie schwankt zwischen dem Banalen, dem Vulgären, dem Philosophischen und Poetischen. Ziemlich wild. Was er erzählt, ist selten angenehm oder erheiternd. Als Pessimist, Misanthrop und chronischer Pechvogel schildert er die Welt als eine „Kloake des Elends“. Die Menschen, bis auf wenige Ausnahmen, sind Schweinehunde, das Dasein generell bedauernswert. Die Überlegung zum Selbstmord stellt er mehrmals an, prinzipiell stimmt er auch zu, ist aber von seinem Dasein so benommen, so lust- und mutlos, dass er sich nicht einmal hierzu aufraffen kann.


    All das Schlechte, was der Roman schildert, ist nicht überzeichnet, sondern glaubhaft. Zudem hat es stark autobiografische Züge, die diesen Eindruck nur verstärken. Die Lektüre empfand ich nicht als deprimierend oder bedrückend. Viele Stellen habe ich mit einem Kopfnicken begleitet, und da der Protagonist allem, was er erlebt, so seltsam apathisch begegnet, von einem ziemlich bescheidenen Zustand in den nächsten gleitet, und all das mit unverblümten Worten kommentiert, ist die Lektüre stellenweise sogar sehr witzig. Beispielsweise sein Aufenthalt in einem Militärkrankenhaus, in dem sich die Soldaten mit erfundenen Heldentaten zu übertrumpfen versuchen; oder seine Überfahrt per Schiff nach Afrika, wo er der Feindschaft der gesamten Besatzung ausgeliefert ist und um sein Leben fürchten muss.


    Der ganze Roman wirkt, als habe Cécile eines Tages entschieden, seine Erlebnisse zu Papier zu bringen, und einfach so in einem Zug alles niedergeschrieben, was ihm gerade in den Sinn kam. Der Text hat außer der zeitlichen Chronologie keine Struktur, keinen Spannungsbogen, mitunter gibt es abenteuerliche Zeitsprünge und Ortswechsel. Zudem ist es selten unterhaltsam, man will auch nicht wirklich wissen wie es denn ausgeht. Die Geschichte endet so abrupt, wie sie anfängt. Interessant und lesenswert war es dennoch, da die Sprache und Ehrlichkeit des Protagonisten erfrischend sind, und all die Missstände und absurden Verhaltensweisen, die er anprangert, von zeitloser Relevanz.


    Kein Roman, den man gelesen haben muss. Ich habe jedoch bislang nichts Vergleichbares gelesen, allein deshalb war es schon lohnenswert. Zudem sind mir solche kritischen, pessimistischen Bücher generell lieber als Alles-ist-gut-Literatur. Empfehlenswert? Ja, aber wohl nur für die Wenigsten. Und die werden nach Lesen der Inhaltsangabe und vielleicht auch dieser Rezension selbst wissen, ob „Die Reise ans Ende der Nacht“ etwas für sie ist.


    „In der Jugend gelingt es einem, noch für die ödeste Gleichgültigkeit, die zynischsten Gemeinheiten Entschuldigungen zu finden, man hält sie für Liebeslaunen und die Auswirkung von Unerfahrenheit in Herzensdingen. Aber später, wenn das Leben einem gründlich gezeigt hat, wie viel Verschlagenheit, Grausamkeit und Bosheit man braucht, um nur einfach bei 37 Grad Celsius zu überleben, dann wird es einem klar, man weiß Bescheid und begreift endlich, wie viel Niedertracht eine Lebensgeschichte enthält. Man braucht für all das nur sich selbst gründlich zu betrachten, wie schäbig man geworden ist. Kein Geheimnis mehr, keine Unverdorbenheit, man hat seine ganze Poesie gefressen, während man bis jetzt gelebt hat. Ein Scheißspiel, das Leben."


    9/10 Punkten

    Was sich überhaupt sagen lässt, lässt sich klar sagen; und wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.
    - Wittgenstein -

  • Vielen Dank für eine Rezension, die ich so nicht zustandegebracht hätte.
    Wer sich an dieses Buch wagt, dem muss klar sein, dass ein hartes Stück Arbeit vor ihm liegt.


    Jahre nach der "Reise ans Ende der Nacht" habe ich "Von einem Schloss zum andern" begonnen und letztlich aufgrund der depressiven Stimmung und außergewöhnlichen Sprache abgebrochen.

  • Sehr schöne Rezi.
    Gerade bei diesem Buch sollte man aber darauf achten, dass man es in der neueren Übersetzung liest. Die Übersetzung aus den dreißigern (?) Jahren hat für mich das Buch damals ziemlich unverständlich werden lassen.


    Celine ist in Frankreich immer sehr umstritten gewesen, nicht zuletzt auch im Hinblick auf seine politische Gesinnung.

    Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst. (Evelyn Beatrice Hall)


    Allenfalls bin ich höflich - freundlich bin ich nicht.


    Eigentlich mag ich gar keine Menschen.

  • Zitat

    Original von Voltaire
    Sehr schöne Rezi.
    Gerade bei diesem Buch sollte man aber darauf achten, dass man es in der neueren Übersetzung liest. Die Übersetzung aus den dreißigern (?) Jahren hat für mich das Buch damals ziemlich unverständlich werden lassen.


    Danke für den Hinweis, da werde ich drauf achten, wenn ich mir das Buch kaufe. Ich wollte mir eigentlich gerne auch die von Voland verlinkte Ausgabe besorgen.

  • Im Nachwort wird noch einmal auf die Unterschiede zwischen neuer und alter Übersetzung eingegangen, ich zitiere mal:


    "Die Arbeit an der Neuübersetzung war für mich auch eine Gelegenheit, Satz für Satz zu untersuchen, wie sie sich die alte Übersetzung zum Original verhält. Der Befund ist allerdings frappierend. Je weiter der Text voranschreitet, desto stärker ist die Tendenz zu Straffungen, Streichungen, Kürzungen. Vor allem im letzten Drittel haben wir es nicht mehr nur mit einer Bearbeitung von Grünbergs Übersetzung, sondern mit einer des Originals selbst zu tun, einer Bearbeitung voller Eingriffe tief in die Substanz des Textes. Absätze, ganze Passagen werden in ein, zwei Sätzen zusammengefasst, mal sinngemäß, mal sinnentstellend. Formulierungen oder ganze Sätze, die schwierig zu verstehen sind (und das sind nicht wenige), werden ungeniert weggelassen. Bardamus oft reichlich verschrobene Gedankengänge werden vielfach unterschlagen."

    Was sich überhaupt sagen lässt, lässt sich klar sagen; und wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.
    - Wittgenstein -

  • Schön, auf ein Literaturforum zu stoßen und bei der schelmischen persönlichen Qualitätskontrolle auf einen Thread mit seiner aktuellen Lektüre zu finden. :)


    Ich habe derzeit so ca. 230 Seiten des Buchs durch und Cèline's Werk ist in der Tat sehr beachtlich, vor allem was seinen Zynismus, jedoch auch den für mich ebenso sehr präsenten Schwarze Humor betrifft.
    Die Rahmenhandlung [Krieg, Kolonialismus und was noch folgen mag...] dient dabei nicht unmittelbar als narratives Mittel, viel mehr dreht sich im Buch alles um die überwiegend misanthrope Stimmung und Gedanken des Hauptprotagonisten: Das Leben ist nur dann schön, wenn man zu jenen zählt, die sich auf der sonnigen Seite des Lebens befinden und dabei handelt es sich meist um die Reichen und Mächtigen.
    Cèline schreibt dabei so eindringlich und man möchte meinen wie aus der Schulter heraus, in einem Atemzug, ohne unnötige Zeit oder Papier zu verlieren, eben wie ein Ruheloser, der beschlossen hat seine Erfahrungen zu Papier zu bringen.


    Definitiv nicht was für jede Seele, ich kann mir gut vorstellen, dass Manch einer das Buch als ermüdend und am Hahn vorbei gezogen finden wird, da nun so ziemlich jede Person, die im Verlauf der Geschichte mit dem Hauptprotagonisten in Kontakt kommt, als niederträchtiges Wesen beschrieben wird.
    Dennoch, für mich [bis jetzt und glaube nicht, dass das Buch in den folgenden 400Seiten viel an Qualität einbüßen wird] ein Werk mit erfrischender Direktheit und viel Biss.