Der Mann aus den Bergen – Abdelhak Serhane

  • Verlag: Kinzelbach, 2010, 232 Seiten
    Originaltitel: L’homme qui descend des montagnes
    Aus dem Französischen von Ruth Wentzel


    Kurzbeschreibung:
    Auf bewegende Weise schildert der Autor eine marokkanische Kindheit in den fünfziger Jahren in einer sehr armen Familie im Hoch-Atlas. Materielles und emotionales Elend prägen die Kindheit, die von einem gewalttätigen Vater und einer unterwürfigen Mutter bestimmt wird. Anhand von Zeitungsfetzen, mit denen der Vater die Decke des Hauses tapeziert hat, eignet sich der Protagonist die französische Sprache an. Nach und nach wird er sich der wenig beneidenswerten Lage seiner Landsleute bewusst. Mithilfe einer Fülle von oft bewegenden Anekdoten aus der Familiengeschichte zeichnet Serhane ein genaues Bild einer durch Korruption und religiöse Verbote verdorbenen Gesellschaft. Der Autor legt damit ein ausdrucksstarkes, engagiertes Buch vor.


    Über den Autor
    Abdelhak Serhane wurde 1950 in Azru, Marokko, geboren. Er verfasst seine Werke auf Französisch. Neben der Schriftstellerei lehrt er als Psychologieprofessor an der Universität Ibn Tofail in Kenitra.


    Meine Meinung:
    Abdelhak Serhane Buch beginnt prologartig für kurze Zeit im Jahr 1994, als die Hauptfigur nach Marokko zurückkehrte. Von Anfang an besitzt sein Stil Kraft und Wut. Ohne falsche Rücksicht nennt er den Zustand der Armut und der Korruption des Landes, das unter König Hassan zu dem ärmsten Nordafrika gehörte. Die Regierung unterdrückte die Opposition, Menschenrechtsverletzungen großen Ausmaßes fanden statt.
    Der Autor braucht praktisch nur das Wort Tazmamart nennen, dass dem Leser der Atem stockt. Tazmamart, das geheime Gefängnis für die Oppositionellen, Mit dem noch nicht in Deutsch erschienenen Buch „Kabazal Les Emmurés de Tazmamart“ hat Serhane einen ganzen Roman darüber geschrieben, wie es auch andere bedeutende Schriftsteller, z.B. Tahar Ben Jelloun haben.


    Nach einigen Seiten beginnt dann die eigentlich Handlung, indem sich der Protagonist an seine Kindheit zurückerinnert. Eine harte Kindheit voller Gewalt, durch den Vater, dem sadistischen Lehrer in der Koranschule und manchmal auch durch den Bruder. Das Erlebte erzeugt Hass, solch ein Leben vergisst man nicht und es gibt kein Verzeihen für eine zerstörte Kindheit. In diesem Buch wird nichts geschönt, streckenweise ist es schwer zu ertragen.
    Jedoch beherrscht der Autor auch das Spiel mit dem Leser, lenkt ihn geschickt in die verschiedensten Richtungen. Aufgelockert wird das durch hervorragenden Sprachwitz.


    Die Charaktere werden geschickt aufgebaut, insbesondere der Vater und die Muter des Erzählers, dabei stark subjektiv und es bleibt streckenweise eine deutliche Distanz zu ihnen, ganz so wie sie der Junge auch verspürt. Doch langsam verändert sich der Text, es entsteht auch Verständnis für das Verhalten der Figuren, besonders für die Mutter des Jungen, die schon jung verheiratet und früh Mutter wurde.


    Je weiter man liest, umso tiefer taucht man in das marokkanische Leben. Stilführend ist die suggestive Sprache, die in einer Klageform wie eine Litanei gestaltet ist,
    Mit der Zeit erreicht der Roman einen Inhalt, der einen universellen Anspruch erfüllt.


    Die starke Betonung der sexuellen Komponente wird vom Umfang her ein wenig übertrieben (die Hauptfigur ist schließlich ein pubertierender Junge, der von seiner schönen Tante träumt), doch auch dadurch zeigt der Autor den Stellenwert der Männer-Frauen-Rollen in der Gesellschaft.
    Durch die Erzählperspektive und die Vater-Sohn-Thematik erinnert das Buch ein klein wenig an den bekannten Roman „Die Schuld des Tages an die Nacht“ von Yasmina Khadra, doch die Sprache hat auch etwas von Thomas Bernhard. Abdelhak Serhane erscheint wie ein marokkanischer Chuck Palahniuk.
    Die cholerische Überbetonung seiner Romanfigur wirkt als Gegensatz zu Duldsamkeit und Fatalismus. Dem zweifelhaften Rausch der Kifpfeife setzt er die Hoffnung auf Stolz und Bildung entgegen. Das dürfte eine Botschaft des Buches sein: sich nicht mit Leid abzufinden und nicht abzustumpfen.


    „Der Mann aus den Bergen“ ist ein bitteres Buch, doch es wird abgemildert durch Wortwitz und eine kraftvolle Sprache, wie man sie selten liest.


    Der Roman überzeugt durch seinen energiegeladenen, ausdrucksvollen Stil, der ungekünstelt, aber doch poetisch verdichtet ist.

  • Das Buch wäre ohne diese beeindruckende Rezension völlig an mir vorbeigegangen.
    Vielen Dank Herr Palomar kommt sofort auf meine WL :wave

    Herzlichst, FrauWilli
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    Ich habe mich entschieden glücklich zu sein, das ist besser für die Gesundheit. - Voltaire

  • Danke auch von mir, ist nun ebenfalls auf meiner Wunschliste gelandet. (Man sollte eben besser nicht in den Urlaub fahren, da verpasst man solche Rezensionen noch :grin)

    "Es gibt einen Fluch, der lautet: Mögest du in interessanten Zeiten leben!" [Echt zauberhaft - Terry Pratchett]

  • Ich habe das Buch gestern Abend fertig gelesen und kann mich im Großen und Ganzen der positiven Meinung von Herrn Palomar anschließen.


    Abdelhak Serhane schafft es den Leser mit in die marokkanische Welt zu ziehen und ihm mit seiner gewandten Sprache ein plastisches Bild vom (ländlichen) Leben in Marokko zu geben. Neben diesen gesellschaftlichenen Aspekten war für mich auch die Entwicklung der Charaktere interessant - wie beispielsweise der Junge zunächst seine Mutter für unterwürfig, distanziert hält und sie später schließlich doch noch zu lieben und respektieren lernt.
    Etwas übertrieben fand ich insbesondere im Mittelteil den sexuellen Aspekt. Klar, der Protagonist steckt in der Pubertät und glaubt sich gegenüber den Frauen beweisen zu müssen, aber etwas weniger hätte es in dieser Hinsicht vielleicht auch getan.


    Alles in allem aber ein empfehlenswertes Buch, dem noch viele Leser zu wünschen sind.


    (Ein bisschen störend fand ich den Einband des Buches - Obwohl auf dem amazon-cover ein Hardcover suggeriert wird, handelt es sich um einen kartonierten Einband, der leider ziemlich instabil ist ...)

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