Über den Autor:
Roberto Bolano, 1953 in Santiago de Chile geboren, war einer der bedeutendsten zeitgenössischen Autoren Lateinamerikas. 1973 Verhaftung und sechs Monate Gefängnis, anschließend Exil in Mexiko und Gründung der Avantgarde-Bewegung „Infrarealismus“ mit einigen jungen mexikanischen Dichtern. 1977 wanderte er nach Europa aus und schlug sich in Spanien mit Gelegenheitsjobs durch, vernachlässigte aber nie seine Passion für das Schreiben. Zuletzt lebte er zurückgezogen mit seiner Familie in Blanes nahe Barcelona. Sein Werk umfasst Romane, Gedichte und Erzählungen und galt viele Jahre trotz zahlreicher Literaturpreise als Geheimtip; die moderne Odyssee „Die wilden Detektive“ wurde mit dem Premio Romulo Gallegos, dem wichtigsten Literaturpreis Lateinamerikas, ausgezeichnet. Bolano starb am 15. Juli 2003 in Barcelona.
Inhalt:
»Sie haben mich eingeladen, am viszeralen Realismus teilzunehmen. Natürlich habe ich ja gesagt... Ich weiß nicht genau, was das eigentlich ist«, vertraut Juan Garcia Madero seinem Tagebuch an. Sie: das sind die Köpfe jener literarischen Avantgarde, Ulises Lima und Arturo Belano. Um Definitionen ihrer Bewegung sind die beiden indes wenig bemüht, und auch dem frühreifen Jurastudenten ist das letztlich egal.
Freimütig erzählt er von seiner literarischen und sexuellen Initiation: vom fiebrigen Künstlerleben in verrauchten Cafes, von ersten Liebesabenteuern, erbitterten literarischen Feindschaften, von den Auswüchsen eines beginnenden Wahnsinns.
Was als Farce begann, wird zu einem irren Unternehmen: Denn als sich Lima und Belano auf die Suche nach einer geheimnisumwobenen Dichterin, der Urmutter des Real-viszeralismus, machen, gehen die beiden zwielichtigen Gestalten dem Leser verloren. Das Detektivische doppelt sich: In Lissabon, Barcelona, Paris, Wien, Tel Aviv wurden sie gesehen.
Unzählige Literaten, Dealer, Huren, Psychopathen und Lebenskünstler wissen immer wieder eine neue Geschichte zu berichten, um das abenteuerliche Leben der wilden Detektive zu rekonstruieren. Sind sie zu greifen?
Meine Meinung:
Wo nur anfangen?
Anfangs ist vor allem Geduld gefragt. Es dauert eine Weile, ehe sich erste Handlungsstränge und Zusammenhänge abzeichnen. Allmählich verdichten sich die unzähligen Biografien und Erzählungen wie Mosaiksteinchen zu einem wilden Gesamtkonstrukt. Sobald die Gruppe um Belano und Lima aufbricht, um nach der verschollenen Gründerin des Realviszeralismus zu suchen, verlieren sich ihre Spuren. Sie gehen selbst verschollen, werden zum Mysterium und Inhalt obskurer Geschichten, die man sich an abgelegenen Orten erzählt. Nun ist es der Leser, der in die Detektivrolle schlüpft, sich an ihre Fersen heftet und begierig den verschiedensten Fährten folgt.
„Die wilden Detektive“ ist insgesamt stimmiger, schlüssiger konstruiert als „2666“, stellt jedoch auch höhere Anforderungen an den Leser. Die ständigen Zeitsprünge zwischen Figuren aus mehr als zwei Jahrzehnten, die Stilbrüche und nicht enden wollenden Lebensläufe beanspruchen viel Aufmerksamkeit. Ein weiterer wesentlicher Unterschied: „Die wilden Detektive“ ist bei weitem nicht so düster und beklemmend, oft sogar ziemlich witzig, sofern man sich mit dem Humor Bolanos anfreunden kann. Vor allem die oft verschrobenen Dichter und den Literaturbetrieb an sich zerpflückt er ausführlich. Überhaupt ist Literatur das bestimmende Thema. Literatur und Sex.
Bolanos Romane gehören für mich zum Aufregendsten, was Literatur zu bieten hat. Rätselhafte, hochintelligente, vor Sprachgewalt strotzende Prosa, die völlig mühelos zwischen den Figuren, Zeiten und Orten hin- und herspringt. Zudem werden einzelne Ereignisse oft aus mehreren Perspektiven beleuchtet, was zusätzliche Spannung schafft. Jede der Figuren, die erzählt, hat eine ganz eigene Ausdrucksweise und entsprechendes Vokabular: Von obszönen Schimpftiraden bis hin zu hochtrabendem Intellektuellen-Gelaber ist alles dabei. All die einzelnen Geschichten sind so raffiniert angeordnet, dass die Zeilen, die anfangs wie willkürlich aneinandergereiht wirken, sich in Wahrheit als stimmige Gesamtkomposition erweisen.
Vermutlich wird aus dieser Rezension niemand so richtig schlau. Vielleicht ist es die eigene Unfähigkeit, das Wesen des Romans zu erfassen und begreiflich zu machen. Vermutlich aber ist es dieses Wesen, das sich gar nicht erfassen lässt. Man kann sich kaum eine Vorstellung davon machen, ehe man es nicht selbst gelesen hat. Und das sollte man unbedingt.
„Über einen gewissen Zeitraum hinweg begleitet die Kritik das Werk, ehe sie entschwindet und die Leser seine Begleiter werden. Die Reise kann von sehr langer oder sehr kurzer Dauer sein. Danach sterben die Leser einer nach dem anderen, und das Werk setzt einsam seinen Weg fort, obwohl sich immer wieder neue Kritiken, neue Leser seiner Reise anschließen. Dann stirbt die Kritik ein weiteres Mal, es sterben die Leser, und auf dieser nach und nach mit Gebeinen bedeckten Straße setzt das Werk seine Reise in die Einsamkeit fort. Sich ihm zu nähern, in seinem Kielwasser zu schwimmen bedeutet den sicheren Tod, und dennoch nähern sich ihm unermüdlich andere Kritiken, andere Leser, die allesamt von Zeit und Geschwindigkeit verschlungen werden. Am Ende reist das Werk in absoluter Einsamkeit durch die unendlichen Weiten. Und eines Tages stirbt es, so wie alle Dinge sterben, so wie die Sonne vergeht, die Erde, das Sonnensystem und die Galaxien und noch die verborgensten Teile des menschlichen Gedächtnisses. Was als Komödie beginnt, endet als Tragödie.“
10 / 10