John Griesemer: "Rausch"

  • Vor nicht ganz 150 Jahren, mitte des neunzehnten Jahrhunderts, bestand zwischen Europa und Amerika keine direkte Kommunikationsverbindung - kaum mehr vorstellbar in Zeiten von Internet, Satelliten und Globalisierung. Informationen wurden "verschifft", die Nachricht von Lincolns Tod (1865) etwa erreichte den alten Kontinent erst Tage später.


    Chester Ludlow, ein junger, charismatischer Ingenieur aus Neu England, wird zum federführenden Leiter des ambitionierten Atlantikkabel-Projektes, das zunächst Irland und Neufundland per Telegraphie verbinden soll. Ein illustres Konsortium aus teilweise recht halbseidenen Industriellen sorgt zwar für die Vorfinanzierung, aber die eigentlichen Geldmittel muß Ludlow aufbringen, indem er wochenlang Abend für Abend als Star einer Art Jahrmarktsshow auftritt, deren Kern ein monströses Illusionsspektakel namens "Phantasmargonium" darstellt. Der Schweizer Joachim Lindt, ebenfalls Ingenieur, hat sich das Spektakel erdacht; seine wunderhübsche und promiske Frau Katarina begleitet am Flügel. Daheim, an der Küste von Maine, sitzt Ludlows Frau Franny tagelang im Kinderzimmer der verstorbenen Tochter Betty, um schließlich mit Chesters esoterischem Bruder Otis Séancen zu verstalten, um mit dem toten Kind in Kontakt zu treten. Währenddessen entspinnt sich eine heiße Liebesbeziehung zwischen Chester und Katarina Lindt.


    Doch die ersten Versuche, das tausende Meilen lange Kabel zu verlegen, scheitern.


    Griesemers Roman, der im Original "Signal & Noise" (Signal und Rauschen) heißt, strickt ein buntes, eindringliches Handlungsmuster, ein Pandämonium von Figuren, eine virtuose Mischung von Esoterik und Technik, allerdings bleibt er sprachlich weit hinter den hoch gehandelten "jungen" Romanciers wie Franzen, Eugenides und Kollegen zurück - auch in der Übersetzung, die immerhin Ingo Herzke verfaßt hat, der u.a. für A. L. Kennedys deutsche Fassungen sorgt. Das Buch nutzt bewußt Techniken, die bei zeitgenössischer Literatur verpönt sind, greift auch gerne auf merkwürdige Zufälle zurück, aber immer mit einem selbstironischen Augenzwinkern.


    Ein lesbarer, etwas zu lang geratener Schmöker, der reichlich Zeitcolorit, halbwahre historische Hintergründe und vergüngliche Ausflüge in die Welt jenseits der technischen Wahrnehmbarkeit bietet. Keine große Literatur, aber ein schönes Feierabendbuch, das ganz nebenbei die atemlose Hetze des Informationszeitalters persifliert.

  • Dieses Buch hat mir sehr gut gefallen. Eine durch und durch runde und stimmige Geschichte. Behutsam wird der Leser vom Autor auf den Takt der damaligen Zeit eingestimmt. Schon bald fühlt sich der Leser den unterschiedlichsten Protagonisten nahe. Die Hauptfigur, Chester Ludlow, hat nicht nur mit der spektakulären Verlegung eines Transatlantikkabels zu kämpfen, sondern muss auch noch eine Lösung für die entfremdete Beziehung zu seiner Frau finden. Immer wieder im Laufe der Geschichte begegnen sich die Protagonisten. Ein jeder von Ihnen erfährt gleichzeitig mit der fortschreitenden neuen Zeit eine ebenso wichtige, persönliche Entwicklung. Durchaus lesenswert.

    Das Leben ist bezaubernd, man muss es nur durch die richtige Brille sehen.
    Alexandre Dumas [fils, Sohn, der Jüngere] (1824 - 1895), französischer Schriftsteller
    LG
    Christiane

  • Hallo Tom und Christiane,


    danke für eure Anmerkungen. Auch bei mir liegt das Buch oben auf dem SUB
    (bei 2001 als Hardcover verramscht).
    Interessant, was du über die literarische Qualität im Vgl. zu Franzen, Eugenides und anderen sagst, Tom.
    Die habe ich nämlich sehr gut gefunden, besonders den Eugenides.
    Hab den Grisemer dazu in mein "gutes" Bücherregal gestellt .Bin schon gespannt, wie er ist und ob er für mich da bleibt oder zur Spannungsliteratur wandert ...


    HG
    finsbury

  • ... ich weiß noch nicht ...


    Ich bin zwar schon auf Seite 300, aber so richtig gepackt hat mich das Buch noch nicht. Vielleicht versucht Griesemer zu viele Themen unter einem Hut zu bekommen, und alles dann ein wenig zu oberflächlich. Anders herum, wenn er sich nur auf das Problem des Kabels eingelassen hätte, driftet er zu weit ab.


    Ja, vielleicht ein "Feierabendbuch" ;-)

  • Hallo,
    ich war in einem Tag sogar soweit gegangen, es als Mamutwerk zu bezeichnen. Aber trotzdem fand ich es sehr lesenswert - ich habe auch das Hörbuch genosssen. Dies tue ich nur bei Büchern, die mir wirklich gefallen haben.


    Gruß
    Leseratte

    ...Dann sagte ein Lehrer: Sprich uns vom Lehren.
    Und er sagte:
    Niemand kann Euch etwas eröffnen, das nicht schon im Dämmern Eures Wissens schlummert.


    Khalil Gibran
    Der Prophet

  • Dieses Buch hat es mir wahrlich nicht leicht gemacht. Eigentlich passte ja alles zusammen: ein spannendes „Zeitfenster“, als die Menschheit zwischen Machbarkeitswahn und spiritueller Sinnsuche hin- und hergerissen war, eine gut konstruierte Geschichte und gründlich recherchierte Details, die nicht wie bloße Dekoration wirken, sondern gekonnt den damaligen Zeitgeist illustrieren. Richtig fesselnd fand ich das Buch beispielsweise, wenn die Vergnügungen des Volkes geschildert worden, wenn sich Menschen aus allen Schichten zusammenfanden, um etwa den Stapellauf des größten Schiffes zu bestaunen, zusätzlich unterhalten durch Freakshows, Gaukler und Theater.


    Leider gab es aber auch etliche Längen, Passagen, die ich streckenweise nur überflogen habe und bei denen ich mich zwingen musste, weiterzulesen, Szenen, die ich einfach nur ermüdend fand und Beschreibungen, die meiner Meinung nach überflüssig waren. Und streckenweise war ich richtig dankbar, einen Ingenieur an meiner Seite zu haben, da ich ob der vielen technischen Details, Impedanz, Galvanometer oder Induktionsspulen etwa, den Überblick verloren habe.


    Zusammengenommen ein Buch also, dass mich zwar nicht richtig fesseln konnte, das aber spannend genug war, dass ich die 700 Seiten doch irgendwie hinter mich gebracht habe.

    Menschen sind für mich wie offene Bücher, auch wenn mir offene Bücher bei Weitem lieber sind. (Colin Bateman)