Auf’m Flur…
Ich habe Urlaub. Ich genieße ihn, nur heute nicht, heute hab ich einen Gerichtstermin. Trotz freundlicher Anrufe bei dem Herrn Richter und seiner Justizangestellten muß ich erscheinen. Urlaub als Ausrede fürs nicht Erscheinen zieht nicht. Na gut.
Der Wecker klingelt und nach einer kalten Dusche bin ich tatsächlich trotz Hitze soweit gesellschaftsfähig, dass ich mich ins Gerichtsgebäude wagen kann. Wie immer zum Gerichtstermin seriös in ein Kostümchen gekleidet, dezent geschminkt und mit geordnetem Haar, stöckele ich auf die Einlaßkontrolle zu. Die beiden Justizvollzugsbeamten heben bereits ihre Metalldetektoren, als ich ihnen meinen Dienstausweis unter die Nase halte und auf die hochgezogene Augenbraue hin erwidere: „Unbewaffnet und leider auch im Urlaub!“ Man lacht und wünscht mir einen angenehmen Aufenthalt, ich darf in den Justizpalast.
Hinter mir lautes Geschrei. „EY ALTER WARUM DARF DIE DA EINFACH SO DURCH!“ Mr. Vollasi weigert sich augenscheinlich sich abtasten zu lassen. „Weil DIE DA ne Bulette ist und jetzt Taschen leeren zack zack!“ In mich hineinlächelnd gehe ich weiter, selbst schuld, wer nörgelt bekommt halt das volle Programm. Während ich wie immer überlege, auf welchem Weg ich am Schnellsten zu meinem Sitzungssaal komme, wird die Diskussion hinter mir immer leiser. Um mich herum herrscht viel Betrieb. Anwälte und Mandanten lehnen an den Wänden, auf den Wartesitzen lungert man herum und erzählt sich möglichst lautstark, wie unschuldig man ist, wie dumm die Bullen sind, dass der eigene Anwalt ja keine Ahnung hat oder wie oft man selbst schon hier gesessen hat und immer wieder gehen durfte. Warum hier auf dem Gerichtsflur so ein Seelenstriptease vollführt wird, ist mir auch nach 12 Jahren Polizeidienst immer noch schleierhaft. Versucht man andere zu beeindrucken? Sich selbst abzulenken? Zeugen zu beeinflussen? Was soll das?
Nachdenklich lasse ich mich vor Sitzungssaal 13 nieder. Kurz an der Tür gelauscht, verraten mir die Stimmen, dass man noch bei der vorherigen Verhandlung ist. Ich lasse mich auf einem der Hartplastikstühle nieder. Werfe einen vorab bereits tödlichen Blick in die Runde, damit mir bloß niemand von den Anwesenden auf de Senkel geht und packe mein Buch aus. Den leicht ranzig riechenden älteren Herrn neben mir hab ich offenbar nicht giftig genug angesehen, während ich unauffällig meinen Ausweis wegstecke, berichtet er, dass er gar nicht weiß, was er hier soll. Er habe 3 Promille gehabt und könne sich an nichts erinnern, er habe wohl `nen Bullen beleidigt und in der Zelle randaliert. Bevor er sich weiter in seine Ausführungen reinsteigern und mich mit seiner Fahne anhauchen kann, klappe ich mein Portemonnaie wieder auf, so dass er meinen Ausweis sieht. Sofort herrscht Stille. Danke.
Mir gegenüber sitzen Mann und Frau samt Kleinkind und Buggy. Der Zwerg zwinkert mir recht witzig aus seinem Kinderkarren zu, die Mutter geht trotz etwas desolatem Erscheinungsbild tatsächlich liebevoll mit dem Mini um und spricht sogar in ganzen Sätzen. Ok, Enrico hätte ich meinen blondschöpfigen und blauäugigen Sproß jetzt nicht genannt, aber gut, ich bin ja schon froh, mal ausnahmsweise eine Mutter der unteren Gesellschaftsschicht zu erleben, die sich tatsächlich um ihr Kind kümmert und Getränke, Spielzeug und feuchte Tücher dabei hat. Fasziniert kann ich mich nicht auf mein Buch konzentrieren und beobachte, wie der Zwerg aus der Kinderkarre krabbelt und sich auf einem Stuhl neben mir niederlässt. „Mama liest au oft!“ nuschelt er in seinen Teddy und ich ärgere mich über meine Vorurteile und werfe der Mutter einen freundlicheren Blick zu. Sie zuckt die Achseln, „Leider reicht das Geld oft nicht für so teure Bücher.“ Sie sieht verschämt zu Boden und ich habe mir wirklich noch nie Gedanken gemacht, welchen Eindruck ich im schicken Kostümchen und mit einem gebundenen Hardcover in den Fingern mit meiner Prada Tasche hier zwischen den häufig gescheiterten Existenzen mache. Mit leicht roten Wangen klappe ich das Buch zu und höre ihren Ausführugen über den Zwerg zu, der fasziniert mit meinem Lesebändchen spielt.
Der Vater ist sichtlich nervös, reibt sich die Hände, steht auf geht im Kreis. Offenbar hat er meinen Ausweis ebenfalls gesehen, denn er lässt sich neben mir nieder. „Ähm, Sie scheinen sich hier auszukennen. Wie läuft das denn gleich ab?“ In einer Geste deutet er auf den Sitzungssaal und fährt sich nervös zweimal durchs Haar. Kurz erläutere ich, was da drinnen auf ihn zu kommt und erfahre, dass er einen Unfall gebaut hat und abgehauen ist. Weder sind die anderen es schuld, noch versucht er sich hinter den Umständen zu verstecken. Ich bin überrascht, das erlebe ich nicht häufig und die Richter hier vermutlich auch nicht. Einen Anwalt hat er zwar, der ist aber noch nicht da, kein Geld, also bemühen die Herren in den Roben sich auch nicht sonderlich. Während ich ihm den Ablauf schildere wird er ruhiger, sicherer. Eigentlich vermeide ich solche Gespräche immer, hier erscheint es mir notwendig. Die beiden werden in ihren Sitzungssaal gerufen, der Zwerg bleibt bei mir hocken, bis seine Mama nach der Zeugenbelehrung wieder raus kommt. Ihr Blick liegt immer noch auf dem Buch, das aus meiner Tasche ragt und sie zupft an ihrer schlecht sitzenden Jeans und der zu knappen Bluse herum. Unsicher lächelt sie an und ich überlege fieberhaft, wie ich ihr das Buch zustecken kann, ohne dass sie ablehnt, oder gar beleidigt ist. Für ihre Aussage nimmt sie den Zwerg mit in den Sitzungssaal, lässt aber den Buggy draußen stehen. Ich zücke meinen Kugelschreiber, verfasse eine kurze Notiz und lege Zettel und Buch in den Buggy. „Viel Spaß beim Lesen“ denke ich, „und alles Gute.“
Dann verschwinde ich um die Ecke und lasse mich im anderen Wartebereich nieder, wo sie mich nicht sehen kann, wenn sie den Saal verlässt.
Hier herrscht wilder Trubel eine Hauptschulklasse auf Exkursion hat offenbar gerade einer Verhandlung über Sexuelle Nötigung beigewohnt und muß dies jetzt diskutieren. Zwei Jungs mit offensichtlichem Migrationshintergrund, Irokesenhaarschnitt sind die Wortführer. Gelangweilt schaue ich aus dem Fenster und lausche den Stammtischparolen der etwa 15 Jährigen. „Alter, die fette Sau soll doch froh sein, dass sie überhaupt einer anfasst. Da macht die so ne Welle wegen bisschen Tittengrapscherei.“ Die eine Hälfte der anwesenden Jungs nicken und rufen herum. „Fette Sau genau!“ schallt es aus der Ecke. Sein Kontrahent, der im Grunde genauso „mein Block“-mäßig gestylt ist, denkt kurz nach und erwidert gar nicht unklug: „Ach Wichser, jetzt stell dir aber doch mal vor, dass wär deine Schwester, der wer an die Titten gegrapscht hat.“ „Kann ja gar nicht, meine Schwester ist nicht so eine fette Sau! Alter die konnte ja nicht mal sprechen. Hat immer nach Luft gejapst, so fett war die.“ Lachen schallt über den Flur, die Lehrerin sitzt daneben und sieht schon vom Nichts tun überfordert aus auch mein fixierender Blick kann sie nicht dazu bewegen für Ruhe zu sorgen. Mein Schnauben und genervtes Augenrollen ist ebenfalls nicht dazu geeignet, die Kids in ihre Schranken zu weisen. Die Jungs diskutieren weiter, in wie weit man Tittengrapschen bei fetten Frauen darf und in wie weit nicht und wie fett genau die Zeugin denn nun war. Die kleine Gruppe Mädchen steht eher am Rand und schweigt. Kurz bevor mir der Kragen platzen kann, sehe ich aus dem Augenwinkel, wie eines der Mädchen sich strafft und zweimal tief durchatmet, dann geht sie mit erhobenem und strahlend weiß verschleiertem Haupt auf die diskutierenden und lachenden Kerle zu.
Als sie bei ihnen ankommt herrscht augenblicklich Ruhe. Nur der Mr. Cool spuckt sie fast an: „EY FATIMA MACH DICH WIEDER WEG!“ Sie sagt keinen Ton, lediglich ihre Hand schnellt vor und kneift den Wortführer in den reichlich vorhandenen Bauchspeck, während sie ihm in die Augen blickt. „Mir scheint, hier auf dem Flur gibt es noch ne zweite fette Sau, die jetzt besser die Klappe hält, wenn sie nicht Klügeres zu sagen weiß.“ Sie wendet sich ab und geht wieder zu der Mädchengruppe hinüber und würdigt die Jungs keines Blickes mehr. Viel hat sie nicht erreicht, Ziel der bissigen Bemerkungen ist nun sie, aber immerhin haben die Kids das Thema gewechselt, als tatsächlich die Zeugin aus dem Gerichtssaal kommt und die Gruppe passiert. Kopfschüttelnd betrachte ich den Angeklagten, der tatsächlich in Badelatschen, Shorts und einem Muskelshirt vor Gericht erschienen ist und vor dem Gerichtssaal seine Kumpels mit Handschlag begrüßt. Als die Zeugin an ihm vorbei geht, ballt er die Fäuste und schiebt die Hüfte zackig vor und zurück. „Dich fick ich auch noch!“ Zischt er deutlich hörbar. Weder sein Anwalt noch sonst jemand erwidert irgendwas, seine Kumpels lachen und klatschen sich ab. Das dickliche Mädchen zieht den Kopf ein und verlässt den Flur mit eiligen Schritten. In mir brodelt es, Worte wie Respekt, Anstand, angebrachtes Verhalten schießen durch meinen Schädel, aber ich schaffe es tatsächlich die Klappe zu halten und auf meinem Stuhl sitzen zu bleiben. Die Schulklasse hat sich vom Acker gemacht, auch der Badelatschenmensch ist mit seinen Kumpels verschwunden. Ich lehne mich zurück und betrachte die beschmierten Wände.
Nein, Respekt hat diese Institution Gericht hier in Köln schon lange nicht mehr gesehen, wenn ich mich hier so umsehe, dann könnte man meinen die meisten wären unterwegs zum Strandurlaub oder sind gerade erst aus dem Bett gefallen. Mir gegenüber schläft ein Obdachloser schnarchend im Wartesesselchen. Zwei auf den ersten Blick als leichte Mädchen zu identifizierende Damen lehnen rauchend unter dem Rauchen verboten Schild an der Wand. Hinter mir diskutieren zwei Frauen lautstark darüber, dass ihre Kinder in Pflegefamilien untergebracht sind und wie sie gegen die Schnepfen vom Jugendamt vorgehen wollen. Ich schließe die Augen und warte auf die erlösende Durchsage: Frau Binder bitte in Saal 13.
Aber sie kommt nicht. Als der Obdachlose erwacht und beginnt an seinen Füßen herumzupuhlen stehe ich auf und gehe den Gang auf und ab. Opfer und Täter für meine Verhandlung sind inzwischen auch eingetroffen und sitzen nebeneinander auf den Wartesitzen. Mir werfen sie gleichermaßen giftige Blicke zu, als wäre ich und nicht ihr Verhalten Schuld daran, dass sie hier sitzen müssen. Ich nicke freundlich und setze meinen Weg den Gang auf und ab fort. Vor einem Gerichtssaal bricht ein kurzer Tumult aus und ein Herr mit weit offenem Hemd und tausend Goldkettchen wird von zwei Justizbeamten freundlich bestimmt weggeführt.
„Zeugen und Beteiligte bitte in Saal 13“ erleichtert betrete ich den klimatisierten Gerichtssaal, höre mir die Belehrung an und verlasse ihn wieder. Weiter schreite ich über den Gang und kann bezüglich der meisten hier anwesenden eine aufkeimende Arroganz und Überheblichkeit kaum unterdrücken. Am Liebsten würde ich laut schreien: „LEUTE IHR SEID BEI GERICHT, BENEHMT EUCH SO!“ Aber ich habe mich im Griff, ich ignoriere die beiden Dreadlockfreunde, die drei Meter gegen den Wind nach Gras riechen, die total besoffene Kneipenwirtin aus der Innenstadt, die mich lallend fragt, wo denn meine Uniform heute sei und wo bitte schön es zum Gerichtssaal 214 geht, sogar die Reporterin, die direkt neben einem kleinen Mädchen sitzend von einer Verhandlung nach einer Messerstecherei die schaurigsten Details in ihr Telefon brüllt und mich dabei auch noch ansieht, als hätte sie für diese Reportage den Pulitzer-Preis verdient, kann ich ignorieren.
Seufzend betrete ich den Gerichtssaal wieder, heute wird meine Aussage nicht gebraucht, der Angeklagte hat gestanden, warum er das nicht schon vor drei Monaten getan hat und ich meinen Urlaubstag hier auf den Fluren verbringen durfte, darf ich leider nicht fragen und ist mir schleierhaft. Ich nehme meine Zahlungsanweisung für die Fahrtkosten entgegen. Und stöckel zur Zahlstelle. 23 Euro 50 Cent bekomme ich ausgezahlt für 2 mal 28 km Fahrt und fast zwei Stunden herumsitzen auf den Fluren des Gerichts. Die beiden Justizbeamten an der Schleuse wünschen mir eine gute Heimreise und hoffen, ich hätte meinen Aufenthalt genossen.
Als ich mein Auto erreiche, habe ich immer noch nicht zu Ende gelacht.
Richter Alexander Hold, Barbara Salesch, was ist das schon?
Das echte Leben steht dem schon lange nicht mehr viel nach.