Schreibwettbewerb Dezember - Thema "Behinderung"

  • Vom 01. Dezember bis zum 21. Dezember könnt Ihr in diesem Thread Eure Beiträge zum "Schreibwettbewerb für registrierte Mitglieder" reinsetzen. Den Ablauf und die Regeln könnt Ihr hier noch einmal nachlesen: Bitte seid so gut und gebt Euren Beiträgen Titel, damit man sie später besser benennen kann.



    Bitte achtet darauf, nicht mehr als 500 Wörter zu verwenden. Es gibt keine Toleranz mehr. Ab 501 Wörtern nehmen wir die Beiträge aus dem Wettbewerb.


    Ihr dürft nicht mehr nachträglich editieren, egal ob es sich um Rechtschreibfehler oder um zu viele Wörter handelt.



    ==> Schreibt eure Beiträge in Word und nutzt die Rechtschreibhilfe. Im Programm Word findet Ihr unter „Extras“ die Möglichkeit „Wörter zählen“. Nutzt diese Möglichkeit, wir überprüfen so auch Eure Beiträge.


    ==> Wenn Ihr Euren Beitrag ins Forum setzt, könnt Ihr auf Vorschau gehen und so noch einmal einen Blick auf den Beitrag werfen, bevor Ihr den Beitrag endgültig abschickt.



    Das von Tom vorgeschlagene Thema lautet: " Behinderung "



    Wir wünschen Euch dabei wieder viel Spaß und Erfolg!



    Diesen Thread bitten wir nur und ausschließlich zum Schreiben Eurer Beiträge zum Wettbewerb zu nutzen und die Beiträge hier NICHT zu kommentieren!

  • Heute ist eine gute und langjährige Freundin von mir gestorben. Noch vor dem Frühstück habe ich einen Anruf erhalten, wo man mir mitteilte, dass sie vergangene Nacht sanft eingeschlafen sei – mit 37 Jahren!


    Sie ist schon krank zur Welt gekommen. Mukoviszidose. Ihr Schicksal schien vorgezeichnet. Aber sie war eine tapfere Kämpferin. Sie hat die Statistiken ignoriert, wie auch viele ärztliche Anweisungen. Anfangs haben die Ärzte mit ihr geschimpft – später wurde sie bewundert. Sie war ein Vorbild. Sie hatte ihren eigenen Weg gefunden.


    Jede Treppe war eine Plage. Die Lungen waren kaputt. Sie wohnte im 3. Stock. Ohne Aufzug.
    Im Januar hat sie ihre erste Kunstausstellung gehabt. Jahrelang hatte sie im stillen Kämmerlein gearbeitet. Oft ließ es ihre Krankheit nicht zu. Und nur einmal – in einem einzigen Bild – hat sie ihr Leiden auf der Leinwand festgehalten.


    Ich habe ihr das gesagt. Ich habe es allen Gästen gesagt, als ich auf der Vernissage die Laudatio halten durfte. Ich habe gesagt, dieses Bild zeigt mehr von dir als alle anderen. Es zeigt deine Angst. Es zeigt deine Gebrochenheit. Aber es zeigt auch deine außergewöhnliche Kraft und deinen Mut. Sie war eine Persönlichkeit. Was andere als Behinderung betrachteten, hatte sie stark gemacht.


    Sie fand es schön, wenn ich von meinen Bergwanderungen erzählte. Ich glaube, das hätte ihr auch gefallen. Aber die drei Stockwerke waren ihre Berge. Jeden Tag. Höher als meine.


    Die letzten Monate lebte sie mit Atemmaske. Wir sind zum Einkaufen gegangen. Sie hatte ein kleines Wägelchen dabei mit einer Sauerstoffflasche. Die Passanten haben mitleidig geguckt. Sie hat darüber hinweg gesehen. Sie hat gelächelt. Sie hat sich gefreut. Es schien die Sonne und sie konnte auf die Straße. Die vielen Medikamente hatten ihr Gesicht aufgeschwemmt. „Eines ist schade“, sagte sie. „Niemand flirtet mehr mit mir.“


    „Jetzt hat sie wieder Luft“, sagte die Bekannte, die mir heute am Telefon die traurige Nachricht überbrachte. Ich bemühe mich, es so zu sehen.





    Für Viola, 30.11.2004

  • Behinderung


    Ein sonniger, warmer Tag. Die ersten Gehversuche der Tochter, Lachen in der Kaffeerunde. Sie war still, etwas zurückgezogen, fühlte sich nicht wohl. Endlich waren die Gäste weg und sie entspannte sich ein bisschen. Wieder dieser Schmerz im Rücken und die geschwollenen Beine, die so gar nicht machten was sie wollten. Zu viel zu tun um auf die Gesundheit zu achten, zu viel am Hals um die eigenen Befindlichkeiten wichtig zu nehmen. Der Schmerz wurde stärker, fast unerträglich. Der herbeigerufene Arzt schickte sie sofort ins Krankenhaus – Verdacht auf Blinddarmdurchbruch.
    Operationssaal, noch vollkommen bei Bewusstsein nimmt sie die Geschäftigkeit der Mediziner und Operationshelfer wahr. Ein Helfer versucht ihre Beine auszustrecken, sie schreit vor Schmerz auf. Es tut so weh, zieht durch den ganzen Körper. Ein Operateur, der schon im grünen OP-Kittel dabeisteht hilft ihr, weist den Pfleger an, die Beine erst in der Narkose zu strecken. Alles beginnt sich zu drehen, sie hebt ab.


    Kalt – sie zittert unter der Wärmedecke, die im Aufwachraum ein Auskühlen verhindern soll. Artikulation schier unmöglich, der ganze Mund ist trocken wie Sandpapier. Der überwachende Assistenzarzt bemerkt ihr erwachen, stützt sie ab und reicht ihr einen Schluck zum Mundausspülen, steckt die Decke fest.


    Erneutes Erwachen – der Schmerz in den Beinen immer noch unerträglich, sie sind heiß und geschwollen. Hoher Blutdruck, das gegebene Medikament bewirkt nicht das was es soll – Intensivstation, Verdacht auf Thrombose. Rettungshubschrauber bringt sie zur nächstgelegenen, 130 km entfernten, Gefäßchirurgie. Krankenhaus voll, nur noch Platz auf dem Gang. Nachts erneute OP, Versuch die Thrombose auszuräumen, am nächsten Tag wieder zurück ins Heimatkrankenhaus. Holprige Fahrt, Autobahn eine einzige Schotterstrecke und Baustelle an Baustelle.


    Thrombose immer noch da, Bettruhe. 14 Tage vergehen, in denen sie sich nicht bewegen kann, auf Hilfe angewiesen ist. Endlich aufstehen – der Schmerz in den Beinen ist immer noch da, wie frisch. Dauert noch bis das heilt, ist der lapidare Kommentar der Ärzte. Gehversuche auf Station, 5 Meter, auch mal 10 Meter ohne Pause sind schon viel. Der Infusionsständer ächzt unter ihrem Gewicht, verbiegt sich, weil sie sich so fest darauf abstützt.


    Sie ächzt auch, Luftmangel, Husten, Bewusstlosigkeit – erneut Intensivstation, wieder können die Ärzte im Heimatkrankenhaus nichts tun, sind auf Doppelseitige Lungenembolie nicht eingerichtet. Erneuter Flug in das 130 km entfernte Krankenhaus, Familie wird auf das schlimmste vorbereitet. Intensivstation in der großen Klinik, alles fremd, kein bekanntes Gesicht. Körper wie gelähmt, Bewegungsverbot, keine Möglichkeit sich selbst zu säubern oder zu essen.


    Thrombose im Bauchraum, akute Lebensgefahr. Ehemann wird verständigt, kommt noch mal mit Kind ins Krankenhaus, Angst im Gesicht – sie sieht nur ihre Tochter, merkt nichts. Weiß nicht, dass ihr Leben auf der Kippe steht. Erneute Operation. Alles geht gut, sie hat es geschafft. Kann sich nicht bewegen, fühlt sich behindert, gefangen im Körper, der nicht das tut was er soll – auch jetzt nach 10 Jahren noch nicht. Ein Viertel Jahr Krankenhaus , das wichtigste Verpasst – die ersten Wörter, die ersten richtigen Schritte des Kindes. Aber sie hat überlebt und das ist das Wichtigste.

  • Der Idiot


    Da war er wieder. Der Idiot. Er hasste den Typen. Solche Typen musste man einfach hassen. Schon wie er da stand, den Kopf leicht schief, den Mund ein bischen zu weit offen und die Unterlippe nach vorn geschoben. Einfach ekelhaft.


    Einmal ist er direkt an ihm vorbeigegangen und hat ihm ins Gesicht gesehen. Das Schielen irritierte ihn und dazu die dicken Backen. Wenn er nur an diese Begegnung dachte, bekam er augenblicklich wieder dieses Ekelgefühl. Jeden Morgen musste er den Anblick ertragen. Er stellte sich deswegen schon so weit wie nur möglich abseits von diesem Typen auf den Bahnsteig, womöglich war sowas doch ansteckend. Zum Glück war es immer nur einer von denen, die wie er auf die U-Bahn warteten.


    Die Schule von denen war gleich neben seiner Schule. Einmal musste er sogar zu denen rüber. Ein Austauschprogramm! Es war kaum auszuhalten. Er musste sogar auf's Klo rennen und sich dort übergeben, so hat es ihn vor denen geekelt. Nach dem ersten Tag in der Idiotenschule meldete er sich für den Rest der Woche krank.


    Es war eine Zumutung, daß solche Idioten überhaupt frei herumlaufen durften. Er würde die alle wegsperren. Ja, wegsperren war eine gute Lösung, das würde ihm gefallen. Oder vielleicht sollte man gleich Nägel mit Köpfen machen und solche Typen gleich nach der Geburt entsorgen? Für den Idiot da vorn am Bahnsteig käme das ja eh leider schon zu spät. Aber man könnte ja nachhelfen, er könnte nachhelfen.


    Er hob seine Tasche vom Boden, die er zwischen seine Füsse geklemmt hatte und ging langsam auf den Idioten zu. Der schaute schon erwartungsvoll nach links, die U-Bahn müsste bald kommen. Ja, jetzt hörte man bereits das vertraute Rauschen, wie es immer mehr anschwoll. Die Lautsprecheransage ermahnte zur Vorsicht am Bahnsteig, während er sich mittlerweile genau hinter dem Idioten in Position bringen konnte. Aus den Augenwinkeln bemerkte er die einfahrende U-Bahn. Jetzt drehte sich der sabbernde Typ auch noch zu ihm um und lächelte ihn an. Mit einem kräftigen Stoß löste er endlich alle seine Probleme.

  • Marlene


    „Marlene, wann habe ich Geburtstag?“ fragend blicke ich sie an. Sie sitzt auf ihrem Lieblingsplatz neben dem warmen Kohleofen. Gedankenverloren nimmt sie den Saum ihres Rockes zwischen die Finger, hebt ihn hoch und lässt ihn wieder fallen. Immer wieder und immer wieder. Ich stehe vor ihr und warte geduldig auf eine Antwort. „Marlene?“ Als sie endlich zu mir hochblickt, habe ich das Gefühl, sie aus einer anderen Welt gerissen zu haben. Ich wiederhole meine Frage. Ohne zu überlegen antwortet sie mir: „Am 7. Juli 1965. Du bist an einem Dienstag geboren.“
    Ich bin zufrieden. Es stimmt!
    „Wann haben meine Eltern geheiratet?“ Spontan sagt sie: „Am 9. Februar 1964.“
    „Und wie alt bist du?“. Verlegen sieht sich mich an. Sie weiß es nicht. Ich bin überrascht.
    „Sag du es mir!“ erwidert sie. Ich frage nach ihrem Geburtsdatum. Es kommt wie aus der Pistole geschossen. Ich brauche eine Weile, bis ich es ausgerechnet habe. „Du bist 33, Marlene“. „Wirklich?“ fragt sie mich erstaunt.
    Marlene ist meine Tante. Sie kennt alle Daten unserer Familie auswendig. Und das von immerhin weit mehr als 200 Personen. Obwohl noch ein Kind, bin ich erstaunt über ihr gutes Zahlengedächtnis.


    Wenn ich mit ihr draußen spazieren gehe, nehme ich sie an die Hand. Ich weiß sehr genau, dass ich auf sie aufpassen muss. Obwohl sie soviel größer ist als ich.
    „Tun sie mir wirklich nichts?“ fragt sie mich und drängt sich ängstlich an mich. Ihre große Hand liegt verschwitzt in meiner kleinen Kinderhand. Ich antworte ganz ernsthaft: „Nein Marlene, die Autos tun dir nichts. Warum hast du Angst vor ihnen?“ „Können sie wirklich nicht beißen?“, fragt sie mich ernsthaft. Innerlich muss ich kichern, weil ich ihre panische Angst nicht nachvollziehen kann.
    „Nein, ehrlich nicht!“ sage ich zu ihr und als ich merke, dass sie mir immer noch nicht glaubt, füge ich hinzu: „ Sie haben doch keinen Mund und keine Zähne. Wie sollen sie dich da beißen können?“ „Aber sie haben Augen!“ Sie lässt sich nicht davon abbringen, dass es Ungeheuer sind, vor denen sie Angst haben muss. Ich sehe mir das Auto an. Irgendwie hat sie Recht. Mit viel Phantasie sieht das Auto mit seinen zwei großen Schweinwerfern und der Stoßstange wirklich so aus wie ein riesiges Gesicht.
    „Nein, Marlene. Das sind keine Augen, sondern die Lichter vom Auto“, kläre ich sie auf.
    „Wirklich?“ „Ja, wirklich!“
    Marlene strahlt mich an. Sie glaubt mir und ist beruhigt. Für den Augenblick! Aber schon morgen hat sie es wieder vergessen.


    Als wir wieder nach Hause kommen, nimmt sie wieder ihren Platz neben dem Ofen ein. Sie sieht versonnen nach unten, nimmt einen Rockzipfel in die Hand, hebt ihn etwas hoch und lässt ihn wieder fallen. Wieder und immer wieder.
    Ich sehe ihr dabei zu. Sie macht einen zufriedenen und glücklichen Eindruck auf mich.
    Dennoch würde ich manchmal zu gern wissen, worüber sie nachdenkt, während sie so völlig versunken in ihrer Welt, dort sitzt und lächelt.

  • „Ey fuck man, da is‘ noch frei“. Goone streckt den Kopf durch die Schiebetür ins Abteil. „Kommt rein; da sitzt nur so’n Freak mit nem Stock“. Der Wagon ruckt beim Anfahren, ein Schwall Bier schäumt aus der Dose, direkt auf die speckige Jacke, über den Sitz, auf den Boden. „Shit Mann, verdammte Scheisse.“ Er schnippt die gelben Flecken vom Leder. Tropfen spritzen auf die nachtschwarze Sonnenbrille seines Gegenübers. „Blind, was?“. Goone fuchtelt mit der Dose vor dem Gesicht herum. Keine Reaktion. „Hey, Mister Wonder, haste nicht nur was an’n Augen, sondern auch am Gehörgang?“ Die beiden Kumpels lachen. Knack, pffffffsch. Eine weitere Dose.
    „Gib mal eine rüber, Mann.“
    „Yo, Gerd“
    „Halt die Schnauze, Arsch; ich bin Goone, klar? Hier keine Namen. Ich bin G o o n e – bekommst Du das endlich in dein Milchbrain? Und pass auf, wo du die Tasche hinstellst. Die lässte gefälligst nicht eine Sekunde aus den Augen.“
    „Okay, okay, mach ma halblang.“ Knack, pfffffsch. „Der Typ kriegt das doch eh nicht mit. Und wenn: Als Augenzeuge taugt der nix.“ Höhöhö, dieses Mal lacht auch der Boss.
    „Hier dein Bier, G o o n e!“
    „Thanks.“ Noch immer keine Reaktion hinter der dunklen Brille, das Gesicht bleibt versteinert. „Eine echt harte Type, was Jungs?“ Goone nimmt die Bierdose fest in die Hand und lässt sie vorschnellen, vier, fünf Zentimeter vor der Nase stoppt die Faust. Wieder schwappt das Bier über, Tropfen spritzen auf die Wange. Der Mann zieht langsam ein Tuch aus seinem Jacket und wischt sich das Gesicht ab. „Verstehe, Maulwurf, magst kein Bier, was? Okay, dann eben was anderes, gib’ mir mal die Pulle raus.“
    Wodka, ein Liter. „Guter Stoff, Mann; wenn Du zu viel davon kriegst, wirste blind.“ Höhöhö. Die Jungs schlagen sich auf die Schenkel. „Aber bei dir macht das ja nix. Komm sauf endlich. Ansonsten ...“ Goone zieht eine 36er aus der Innenseite der Lederjacke. Klick, die Waffe ist entsichert. „Los, du Blindschleiche“. Er drückt dem Mann die Flasche an den Mund.
    Plötzlich Dunkelheit. Es dauert einige Sekundenbruchteile, bis sich Goones Augen von der Sonne auf das Dämmerlicht einstellen. Doch es geht schnell; er sieht den Mann aufspringen, hört Splittern und Klirren – Plastik, Glas. Nacht.


    Der Commissario beugt sich über die Plastik- und Glassplitter zwischen den Pfützen aus Blut, Bier und Schnaps am Boden des Abteils. „Es muss im Tunnel gewesen sein,“ meint Assistent Federico, „einer hat wohl im Kampf die Beleuchtung zerschlagen. Der hier mit der Lederjacke bekam zuerst mit der Flasche eine übern Kopf. Dann wie bei den beiden anderen ein gezielter Schuss aus einer 36er.“ Je ein Schuss? Genau in den Kopf? Einer gegen drei? Ganz klar ein Profi, mein lieber Federico.
    „Wir vermuten, es war das Trio aus München. Gerd Rubritsch, zwei Komplizen. Ein Raubüberfall, gestern nachmittag. Die waren mit anderthalb Millionen auf der Flucht. Die deutschen Kollegen melden sich.“ Und das Geld? „Keine Spur bislang.“ Der Commissario seufzt. Wie gesagt, ein abgebrühter Hund. Hellwach. Gerissen. Hält immer die Augen auf. Den kriegen wir nie.

  • Embryo


    „Frau von B., es tut mir wirklich leid, aber, ich muss ihnen die Wahrheit sagen.“ Ich schrie vor Pein, dieses Schwein. „Mama, er lügt, glaubt ihm kein Wort!“
    Meine Mutter war unsicher, wankelmütig. Konnte sie diesem Mann trauen?
    „Frau von B., ihr Kind ist behindert, sogar schwerst behindert. Ich bedaure, aber, ich empfehle ihnen dringend zum Abbruch der Schwangerschaft.!
    Stille. Bedeutungsvolle Leere im Raum des Sprechzimmers. „Abbruch?“ fragte meine Mutter fassungslos
    Der Arzt nickte nur.
    „Mama,“ schrie ich, „er lügt, er lügt er lügt!“
    „Wenn sie es sagen,“ antwortete meine Mutter. Nur ich spürte die heiße Spur der Träne auf ihrer Wange.
    „Er lügt, Mama,“ schluchzte ich nochmals.
    „Dann soll es wohl es so sein.“ Ich schrie und schrie und schrie. Aber sie hörte mich nicht.


    „Und,“ fragte der Unfehlbare? „Diesmal haben wir es noch verhindern können,“ antwortete der Kardinal.
    „Gott sei Dank,“ sagte der Papst.


    „Papa, warum?“ Doch mein Vater schwieg.

    Schon der weise Adifuzius sagte: "Das Leben ist wie eine Losbude, wenn Du als Niete gezogen wurdest, kannst Du kein Hauptgewinn werden.":chen

  • Rollstuhlwalzer


    Der Tag ist grau und kalt wie fast alle Tage im Herbst. Früher fielen mir die Jahreszeiten nicht so auf, aber seit ein paar Jahren ist es anders. Er war betrunken, er hat mich übersehen trotz Fußgängerampel. Jetzt sitze ich im Rollstuhl, meine Füße und meine Beine gehören nicht mehr zu mir. Optisch sind wir eins, gefühlsmäßig sind wir für immer und ewig getrennt.


    Ich lebe allein in einer behindertengerechten Wohnung, ich fahre ein behindertengerechtes Auto, lebe ein behindertes Leben mit Anspruch auf einen behindertengerechten Parkplatz vor der Haustür.


    Nur mein Kopf ist noch normal und mein Herz - aber das sieht niemand. Und wenn ich allein bin und Angst habe, dann lege ich eine CD auf und tanze den Rollstuhlwalzer und für Sekunden kann ich vergessen.

  • Ein heißer Tag


    „Kann ich ihnen helfen?“ Die Frau im Auto lächelt. „Mir wurde schwarz vor Augen, da hab ich einen Moment angehalten.“ Vor uns hält der Rettungswagen „Steigen sie doch aus und schnappen ein bißchen frische Luft?“ Sie schüttelt lächelnd den Kopf, sagt nichts. Ich sehe den Rollstuhl auf dem Rücksitz. Zack, Fettnapf. Ich öffne ihr die Türe und mein hünenhafter Kollege hebt sie lächelnd aus dem Auto. „Schöne Frau, darf ich sie zu ihrem Wagen geleiten.“ Sie lacht und läßt sich zum Rettungswagen tragen. Ich folge, fühle mich befangen, weiß nicht wohin gucken. Sie hat einen kurzen Rock an. Ich stiere auf ihre hellen irgendwie leblosen Beine. Sie merkt es und lächelt mich trotzdem an, während der Sani eine Infusion legt und etwas von Kreislaufzusammenbruch wegen der Hitze murmelt. Unwohl trete ich von einem auf den anderen Fuß. Endlich fällt mir ein was ich tun könnte. „Dürfte ich ihren Autoschlüssel haben? Dann bringen wir ihr Auto zum Krankenhaus.“ Sie nickt und reicht mir ihren Schlüssel. Ihre Hände sind kalt und weich, die Fingernägel rot lackiert. Ich seh sie noch mal an. Sie ist hübsch. Dann entferne ich mich.
    Erleichtert der Situation entkommen zu sein steige ich in den Wagen,stecke den Schlüssel ins Zündschloss, will die Kupplung treten, finde kein Pedal. Schaue mir den Schalthebel an.... Automatik.... hätte ich mir denken sollen. Der Motor läuft. Ich will Gas geben. Fühle kein Pedal unter meinen Füssen. Bücke mich stiere in den Fußraum, tatsächlich keine Pedale da. Mir bricht der Schweiß aus. Hektisch suche ich im Fußraum herum. Ich schlage mir vor den Kopf, als ich die Hebel und Schalter am Lenkrad sehe, klar wie soll sie auch sonst fahren.
    Ratlos sehe ich die Hebel an. Vorsichtig probiere ich einen, der Motor heult auf. Ok. Gas gefunden. Ich lasse das Auto anrollen und drücke auf alle Hebel und Knöpfe. Keine Bremse. Ich seufze und bremse mit der Handbremse, ganz vorsichtig. Funktioniert. Dann geht's los. Der Rettungswagen vorne, dann ich, gefolgt vom Streifenwagen. Seltsam so zu fahren, zweimal trete ich unkontrolliert im Fußraum herum, hab nicht genug Gefühl in der Hand, um vernünftig Gas zu geben und immer wieder ruckelt und schaukelt das Auto. Die Leute starren mich an. Zwei zeigen mir einen Vogel. Ein Kind lacht, als ich an der Ampel den Motor absaufen lasse.
    Ich fühle mich hilflos.
    Als ich im Krankenhaus den Schlüssel zurückgebe, lächelt sie wieder. Ich stiere nicht mehr auf ihre Beine, sondern lächel zurück. „Ich hoffe mein Auto hat ihnen keine Probleme gemacht?“ Ich werde rot, schüttel den Kopf. Sie grinst verschmitzt. Schwingt sich ausm Bett in den Rollstuhl. Rollt vor mir her den Gang entlang zum Fenster. Ich muß fast rennen, um mit ihr mitzuhalten. Bin aus der Puste, als ich am Fenster ankomme. Ich zeige ihr, wo ihr Auto ziemlich schief steht, weil ich zuerst mit den Füssen bremste, bevor mir einfiel, daß das nicht geht. Sie bedankt sich lächelnd.


    Als ich gehe denk ich: „Jane,nicht sie, sondern du bist behindert.“


    (499 Wörter)

  • „K...Ka.....Kanzler! Kanzler, Mama! Siehst du, ich kann es!“ Lennart strahlte. Seine Mutter sah ihn nachdenklich an und schrieb in großen Druckbuchstaben „ICH KANN LESEN“ auf die Rückseite eines Einkaufszettels. Holperig, aber dann doch erfolgreich las Lennart den kurzen Satz vor.


    „Ganz normal“, dachte sie mechanisch. „Er braucht noch ein bißchen, dann liest er flüssiger. Das war bei seinen Geschwistern auch so.“ Es gab allerdings einen gravierenden Unterschied: Lennart war 14 Jahre alt, körperlich und geistig behindert. Die Ärzte und Psychologen, die ihn in unendlich oft untersucht und getestet hatten, hatten prophezeit, dass er nie lesen und schreiben können würde. Wie aus Trotz hatte sie mit ihrem Sohn lesen geübt, ohne Hoffnung, hauptsächlich, weil sie wusste, wie sehr ihm daran lag. Und nun war der Tag da: Heiligabend, 11.42 Uhr. Dieses Datum würde ihr für immer ins Gedächtnis gebrannt sein.


    „Freust du dich gar nicht?“ fragte Lennart besorgt und wischte ihr mit einer ungelenken Bewegung die Tränen ab, die ihr über die Wangen liefen. “Doch, ich freue mich sehr. Jetzt können wir morgens zusammen die Zeitung lesen“, erwiderte sie betont fröhlich. Lennart umarmte sie begeistert und wie immer ein wenig zu heftig.


    „Das Leben ist wunderbar,“ dachte sie.

  • Tag Eins


    Ich atme tief ein, dann trete ich in eine Welt, die vollkommen neu für mich ist.


    Ein undefinierbarer Geruch schlägt mir entgegen, eine Mischung aus Essengerüchen, Kinderschweiß, Erbrochenem und Urin.
    Die Leiterin der Kindertagesstätte, die ich schon vor ein paar Wochen beim Vorstellungsgespräch kennengelernt habe, eilt schon auf mich zu.


    Die Einrichtung ist toll, an alles wurde gedacht: Ein großer Turnraum, mit gut gepolsterten Geräten, ein riesiger Essraum, spezielle Toiletten und ein gemütlicher Therapieraum, der in seinem beruhigenden Blauton nicht im geringsten daran erinnert, wo man sich befindet.
    Der große Garten ist traumhaft schön, auch wenn der angelegte Teich sich hinter einem hohen, sicheren Zaun verbirgt.
    Dann betreten wir letztendlich das Spielzimmer : Eine Lautstärke, als hätte jemand 50 Radios auf einmal eingeschaltet, ein buntes Durcheinander von ca. 25 Kinderkörpern, in allen Größen.
    Man sieht es ihren Gesichtsausdrücken an: Große, erstaunt oder neugierig aufgerissene Augen, die mich, die Neue, misstrauisch und scheinbar mit gemischten Gefühlen mustern. Manche bedecken ihr Gesicht mit ihren Händen, um vorsichtig zwischen gespreizten Fingern hervorzulugen.
    Plötzlich spüre ich eine kleine, warme Hand in meiner, die mich entschlossen in die Menge hineinzieht. Es ist ein kleines, blondgelocktes Mädchen, das sich an mein Bein klettet und lauthals grient : „Spielen !!!“ Das Wort kommt merkwürdig langgezogen heraus und als der Engel zu mir hochlächelt, schiebt sich eine dickliche rote Zunge durch die leicht schiefstehenden Zähne und die Augen verengen sich zu kleinen Schlitzen.
    „Mongolid“, denke ich, und mein Herz zieht sich zusammen.
    Danach bin ich den ganzen Morgen vertieft in Spiele, Geschichten vorlesen, basteln, rumtoben und dem Versuch, den Gesichtern allmählich Namen zuzuordnen :
    Da ist Mike, der an einer agressiven Form von Autismus leidet, und mich mit einem plötzlichen, lauten Wutausbruch erschrickt, als sein Turm aus Holzklötzen zum unzähligen Mal zusammenbricht. Kurz darauf liegt er erschöpft und verschwitzt auf meinem Schoß zusammengekuschelt und schläft tief und fest.
    Währenddessen füttere ich mit der freien Hand Aydugan, das blinde und halbseitig gelähmte Baby, das auf einer Kuscheldecke am Boden liegt, mit Milch aus der Flasche. Trotz seiner Behinderung lächelt er glücklich, den ganzen Tag kommen die anderen Kinder, um ihm ihre Zuneigung mit sanften Küssen und Streicheln zu zeigen.
    Kerstin, 16 Jahre und nach einer nicht erkannten Hirnhautenzündung auf der geistigen Stufe einer 7 jährigen zurückgeblieben, möchte am liebsten den ganzen Tag Knetfiguren herstellen. Sie wird wütend, wenn man sie zu etwas anderem animieren will.
    Maria, die kein Wort spricht, sitzt in einer Ecke und beobachtet das Geschehen um sie rum. Ich kann sie für eine halbe Stunde mit der Geschichte vom Regenbogenfisch fesseln, dann versinkt sie wieder in ihrer eigenen Welt.
    Ich kann mich nicht erinnern, wann ich mich das letzte Mal so gut gefühlt habe : Diese behinderten Kinder geben mir das Gefühl etwas Besonderes zu tun, so offen zeigen sie ihre Zuneigung und Dankbarkeit für jegliche Art von Zuwendung.


    Am Ende des Tages, als die Busse kommen, um die Kinder zurück in ihr Zuhause zu bringen, bin ich erschöpft, aber sehr glücklich.

  • Au, tut das weh, lang halt ich das nicht mehr aus! Die Tabletten helfen nicht, sie betäuben den Schmerz nur. Obwohl ich täglich zehn von den Dingern schlucke.
    Wundfieber, hat der Doktor gesagt.
    In meinem Gedächtnis gähnt ein schwarzes Loch. Zwei Monate soll ich schon im Krankenhaus liegen.
    Ich muß wirklich todkrank gewesen sein, so krank, daß ich sogar die Hochzeit verpasst habe. Nicht, daß wir eingeladen waren, das Miststück hat uns anstandslos vergessen. Das ist nun der Dank dafür, daß wir sie all die Jahre bei uns haben wohnen und essen lassen.


    Ade Zukunftsträume! Von einem Tag auf den anderen sind alle Luftschlößer eingestürzt. Ich habe keine Illusionen mehr, es ist vorbei. Königin wollte ich werden, nun kann ich froh sein, wenn mich überhaupt noch ein Mann haben will.


    Dabei hatte es so vielversprechend angefangen. Der König gab ein fest, drei Tage lang, und alle jungen Singlefrauen der gehobeneren Gesellschaft waren geladen. Eine Party speziell für den Kronprinzen. Der einzige Sohn der Royal Family war ja schon 38 und noch immer Junggeselle. Zugegeben, attraktiv ist er nicht, aber bei dem Geld und Status....


    Kurzum, ich und meine Schwester waren auch unter den Gästen.
    Alles verlief wunschgemäß. Ich konnte schon schnell einen Tanz mit dem Prinzen ergattern.
    Doch dann kam sie, in aufsehenerregendem Kleid, das Gesicht verschleiert, und der Prinz tanzte nur noch mit ihr und schenkte den anderen Damen keinen einzigen Blick mehr.
    Die Stiefschwester, das Aschenputtel, ich glaub’s immer noch nicht. Wer konnte das ahnen? Und woher hatte sie die Designerklamotten und die Brillianten, irgendetwas war da faul. Weiß der Teufel was sie nachts machte, wenn alle schliefen. Tagsüber kroch sie immer in der Asche vor dem Herd herum, die Schlampe.

    Sie hatte ihren Schuh verloren, einen goldenen High Heel Stiletto, und sie klapperten alle Häuser der Stadt ab, der Prinz mit seinem Butler. Wem der Schuh passte, der sollte seine Frau werden.


    Auch bei uns klingelten sie.
    Nichts leichter als das, dachte ich, als der Schuh mir überreicht wurde. Aber oh weh, wie ich auch presste und knetete, mein Fuß wollte nicht hinein, die Ferse war zu breit. Shit, es waren nur Millimeter! Millimeter, die mir den Weg zur goldenen Zukunft versperrten. Da kam Mama mit ihrem genialen Einfall und schließlich saß ich auf dem Pferd des Prinzen. Aber leider wurde mein Betrug bemerkt noch ehe wir die Straßenecke erreicht hatten.


    Jetzt wird unser Aschenputtel also Königin, diese falsche Schlange, und was aus mir wird, weiß Gott allein. Hätte ich doch nicht auf Mama gehört. Ich sehe sie noch, wie sie da steht, mit dem großen Messer in der Hand. Erst wollte ich nicht, aber na ja, was tut man nicht alles wenn man verzweifelt ist.
    Und nun war alles umsonst.


    Der Doktor ist vorhin wieder da gewesen. Sie dachten, daß ich schlafe, daß sie ungestört reden könnten.
    Wenn sich die Infektion noch weiter ausbreitet, hat der Arzt zu meiner Mutter gesagt, muß der Fuß vielleicht doch amputiert werden.

    Lieber Gott, nein!

  • Der zweite Marc


    Mit zweiunddreißig Jahren erfüllte sich Marc, mein bester Freund, endlich seinen Traum: Er kaufte einen alten Jaguar E-Type, baute ihn monatelang auf, manchmal war ich dabei, konnte aber mit meinen zwei linken Händen höchstens Werkzeug zureichen. Als das feuerrote Cabrio fertig war, fuhr er wochenlang damit herum, bis ihm eines Nachts auf der Landstraße ein besoffener Discoheimkehrer entgegenkam. Marc verriß das Lenkrad, sein Wagen überschlug sich, Marcs Schädel wurde aufgerissen. Er lag im Koma, drei Monate lang, dann wurde er „medizinisch“ wach.


    Vom alten Marc war nicht mehr viel übrig. Sein Kopf war aufgedunsen, sein Gesicht verzerrt, seine Motorik reduziert auf die spastischen Zuckungen, die gelegentlich in Arme und Beine fuhren und das Krankenhausbett klappern ließen, als gäbe es ein Erdbeben. Sprechen konnte er nicht mehr. Seine einzige Kommunikationsmöglichkeit bestand darin, zu blinzeln: Einmal hieß ja, zweimal hieß nein.


    Ich saß fast täglich an seinem Bett, wagte aber kaum, ihn richtig anzusehen. Ich fragte leise: „Ist alles okay?“ – zweimal blinzeln; ich beließ es dabei. „Hast Du Hunger?“ – „Brauchst Du Wasser?“ – „Soll ich den Fernseher einschalten?“. Einmal blinzeln, zweimal blinzeln, zweimal blinzeln.
    Ich fragte nicht: „Vermißt Du Dein altes Leben?“ – „Wärst Du lieber tot?“ – „Hast Du Lust auf Sex?“ – „Bist Du traurig?“ – „Wütend?“ – „Hast Du Angst?“ – „Hast Du noch Hoffnung?“ – „Weißt Du überhaupt, wer ich bin?“.
    Nein. Ich fragte Belanglosigkeiten, sah nur kurz hin, wenn Marc blinzelnd antwortete, und mied ansonsten seinen Blick, starrte auf die Bettdecke, die blaßgelbe Wand des Krankenhauszimmers, sogar auf die blindgraue Röhre des ausgeschalteten Fernsehers. Wenn ich weinen mußte, und das war oft der Fall, tat ich so, als müßte ich mir die Nase putzen.


    Sein Zustand verbesserte sich nicht. Er kam nach Hause, wurde von seiner Mutter gepflegt, unterstützt durch zwei Krankenschwestern, die abwechselnd kamen, Nahrungsinfusionen legten, Katheter wechselten, ihn drehten und wendeten, damit er keine Decubiti bekäme, wunde Stelle vom ewigen Liegen. Ich saß daneben, mit dem Gefühl, neben einem Menschen zu sitzen, den ich noch nie zuvor getroffen hatte, einen ganz anderen, nicht meinem alten Kumpel Marc, der alles von mir wußte und bei den meisten Sachen sowieso dabeigewesen ist.


    Eines Tages gesellte sich seine Mutter zu uns. Sie war fröhlich, strahlte Zuversicht aus – ich bewunderte sie für ihre Kraft und die Art von Liebe, die sie offensichtlich empfand. Sie setzte sich so, daß ich Marc und sie ansehen mußte, als sie ihn fragte: „Freust Du Dich, daß Dein Freund Ralf immer bei Dir sitzt?“
    Marc antwortete erst nicht, und dann blinzelte er - einmal. Eine Träne löste sich aus dem Blinzelauge. Da begriff ich. Nicht er war der Behinderte.


    Ich war es.

  • „Wie ist es, behindert zu sein?
    Jedenfalls, will ICH es nicht sein“,
    schnaufte die Liesl zur Guthrun hin,
    „Das Leben hätte doch dann keinen Sinn.“


    „Wie wahr, wie wahr ...“ stoßt die Guthrun hervor
    „Dieser Sepp, zum Beispiel, ist ein armer Thor.
    Seit Kindertagen gelähmt, unfähig zu gehen,
    kann er ja nicht mal seine eigenen Finger kaum sehen.“


    „Und zurückgeblieben ist er auch noch, der arme Mann,
    nicht einmal ordentlich reden, er kann“.
    „Ja, ja,“ stimmt da die Liesl zu.
    „Der weiß ja nicht mal, dass ein Schaf macht mäh, und eine Kuh macht muh“.


    So wie es ist, wenn man vom Teufel spricht,
    rollte der arme Sepp daher, ganz erpicht,
    schaute auf zu den Nachbarsleut, und stottert etwas flau:
    „Wie es gehen, meine Frau!“


    Die Gutrhun und die Liesl,
    hintertückisch wie ein Wiesl,
    machten einen auf nett,
    „Na wie geht’s denn unseren lieben Sepp?“


    “Gut gehen mir!“ stammelte der arme Sepp.
    Die Guthrun denkt: „Was für ein Depp!“
    Die Liesl sagt ganz langsam: „Du müssen verstehen, wir
    müssen nun gehen“.


    Die Liesl und Guthrun, still lachend über den Rollstuhlfahrer,
    wollten nun gehen besuchen, den feschen neuen Pfarrer,
    wispernd und voller Mitleid oder gar Verachtung ohne Maße,
    überquerten sie unachtsam die Straße.


    „Halt“ schrie plötzlich der Sepp ganz laut, und fuhr gleich los wie der Blitz,
    nein, das war kein Witz.
    Mit aller Kraft zog er im letzten Moment die Guthrun und die Liesl,
    von der Straße weg, flink und stark wie ein Wiesel


    Denn im nächsten Moment schoss ein Lastwagen daher,
    viel zu schnell, wie ein Speer.
    Geschockt drehten sich die beiden Weiber um,
    sie glotzten zuerst auf die Straße, dann auf Sepp, eher ziemlich dumm.


    Später in einem Kaffee, im Separee, sprach die Guthrun zur Liesl,
    „Wir verdanken Sepp unser Leben. Was waren wir nur ungerecht zum armen Mann?
    Nein, Mitleid ihm nicht helfen kann“.
    Da meinte die Liesl plötzlich ganz sacht:
    “Behindert ist nur der, der Behinderte zu Behinderte macht.“

  • Vorträge und Seminare, das war sein Leben. Mit seiner Stimme andere und sich begeistern, mal laut und deutlich, mal leise und eindringlich, aber immer oder fast immer überzeugend.
    Und jetzt? Alles vorbei oder zumindest fast vorbei.
    Seine Stimme ist schwach und viel zu hoch. Immer wieder muss er sich am Telefon anhören: „Guten Tag, Frau ….könnte ich bitte man Herrn….sprechen“. Die Luft fehlt ihm um einen längeren Satz zu sprechen. Die Stimme trägt nicht mehr, eine Modulation derselben ist kaum mehr möglich. In einem Laden oder im Lokal etwas zu bestellen, ist nur noch möglich, wenn er sich ganz nahe zu seinem Gegenüber vorbeugt und wenn es keinen Geräuschpegel gibt, jetzt zur Weihnachtszeit mit der immer gleichen Musik nahezu unmöglich. Doch je mehr er sich anstrengt, um deutlicher zu sprechen, umso weniger ist er verständlich.
    Wenn er einige Minuten spricht, folgt ein kaum zu überwindender Räusperzwang und dann das hilflose Ausgesetztsein eines minutenlangen Hustenanfall, der jedes Gespräch tötet und beim Gegenüber Ärger oder Mitleid, bei ihm aber Frust auslöst.
    Auch seine Frau hat manchmal Schwierigkeiten, ihn zu verstehen. Er stellt das Reden ein, ganz. Er benutzt den PC als seine Stimme, doch die Unterhaltung gestaltet sich entsprechend schwierig und langatmig. Das Geschriebene ist unpersönlicher, wirkt kalt und manchmal allzu hart. Missverständnisse sind vorprogrammiert, es ist kein Weg.
    Und morgen die nächste Operation an, was wird sie bringen? Eine Verbesserung, ganz sicher nicht, denn was weg geschnitten ist oder wird, ist weg, unwiderruflich weg. Im besten Fall, nur eine geringfügige Verschlechterung. Aber dann ist wirklich alles vorbei, keine Chance mehr den geliebten Job, nein es war viel mehr als nur ein Job, auszuüben. Kein Job, kein Geld oder zumindest fast kein Geld, von dem leben, was die Frau nach Hause bringt. Verzicht auf die vielen Hobbys und jetzt hätte er endlich Zeit für sie.
    Noch ein letzter Versuch: „Muss die Operation wirklich sein? Gibt es keine andere Chance?“. Es gibt keine. Es klingt für ihn wie Hohn, als ihm sein Arzt sagt: „Seien Sie doch froh, dass die Krankheit sich hier gezeigt hat, deshalb haben wir sie rechtzeitig erkannt und sie haben eine Chance“. Eine Chance, länger zu leben, vielleicht. Aber will er so überhaupt weiterleben. Ist das überhaupt noch Leben zu nennen. Er gibt sich auf. Ihm ist alles egal.
    Noch eine Computertomografie, warum denn nur. Der Morgen ist da. Er bereitet sich auf die OP vor, die Beruhigungstablette hat er schon genommen, da kommt der Oberarzt in sein Zimmer. Was will der denn jetzt? Nach der Auswertung der CT müssen sie nicht mehr schneiden, sie wollen in Narkose nur noch einmal alles genau untersuchen.
    Seine Stimme wird nicht noch mehr geschädigt, vielleicht kann er sogar mit logopädischen Übungen eine Besserung erreichen. Er will, er hat Hoffnung, er gibt nicht auf. Er wird wieder Vorträge und Seminare halten, er wird wieder Menschen überzeugen und begeistern, auch wenn er vielleicht ein Mikrofon und einen Lautsprecher benötigen wird und er am Telefon mit Frau angesprochen wird.
    Das Leben ist lebenswert.

  • Das Nein.


    Nein, ich werde nein sagen, denke ich und grinse blöd, während mein Mund ja sagt. Meine Hausaufgaben, meine Mitschriften, meine Tests. Sie nehmen, was sie kriegen, schreiben ab, wo immer sie können. Ich lasse sie und schiebe ihnen mein Heft rüber. In diesen Augenblicken huscht für Sekunden so etwas wie Dankbarkeit über ihre Gesichter. Ich sehe es, oder bilde mir ein es zu erkennen. Ja, sie sind angewiesen auf mich, rede ich mir ein, als meine saubere Schreibschrift auf fremdem Papier zu Krakeln mutiert.
    Später auf dem Pausenhof stehe ich allein herum. Freizeit ist nicht meine Zeit. Die anderen spielen fangen, stecken die Köpfe zusammen und lästern, die ganz coolen rauchen. Und da bin ich. Ich gehöre zu denen mit den blauen Pullundern und den karierten Kragenhemden darunter, die natürlich fein säuberlich in die Hose gesteckt sind, welche wiederum von braunen Gürteln auf Taillenhöhe gehalten werden. Meine Nase ziert eine Brille, die ich abgrundtief hasse, die schon mehrere Male gesprungen ist - auf die ich angewiesen bin. Ohne sie verschwimmt die Welt zu einem farbigen Brei. Sie macht meine Augen kleiner als sie sind und gibt mir die intellektuelle Note, die hier unerwünscht ist und andererseits doch so gefragt. Ich bin einer von denen, die auf der Bank im Pausenhof sitzen und ein Schulbuch lesen oder ein Was-Ist-Was-Buch oder vielleicht ein Physikbuch der fünften Klasse, obwohl ich erst in der dritten bin. Wenn Mädchen kommen verdrücke ich mich in die andere Ecke.


    Im Winter sind Pausen schrecklich. Man kann nichts lesen, weil einem dabei die Finger gefrieren. Man kann auch sonst nichts tun außer rum zustehen und seinen Atem zu beobachten, wie er in kleinen Wölkchen vom Mund aufsteigt, zu fühlen, wie ein Tropfen sich den Weg zur Nasenspitze bahnt und es sich dort bequem macht.


    Und dann kommen sie. Ich sage noch „Aber ich hab Euch doch…“


    Batsch. Eisige, krümelige Nässe rinnt innen an meiner Jacke hinab und es prickelt im Gesicht. Die Welt verwässert hinter den Brillengläsern. Ich rücke sie zurecht und höre sie lachen. Bunte Schemen hüpfen auf und ab.


    „Haha, steht da und wehrt sich nicht einmal, der Streber…“.


    Batsch. Diesmal trifft es den Hinterkopf. Meine Mütze fällt in den Schnee. Ich taste nach ihr.


    „Hört doch auf mit dem Unfug…!“ protestiere ich schwach und merke, dass ich wie ein Lehrer klinge.


    Ein harter Tritt befördert mich zu meiner Mütze. Ein kurzes Zappeln, dann gebe ich auf, während schrilles Lachen eisige Schneemengen in meine Kleider begleitet. Nach einer halben Ewigkeit naht die Rettung. Ein Lehrer natürlich. Die Jungs verziehen sich und lassen einen nassen Sack zurück. Ich bleibe noch ein bisschen liegen und frage mich, woran es liegt. Erst als die Pausenglocke klingelt rappele ich mich mühsam auf die Beine und schlurfe Richtung Klassenzimmer. Mathestunde.


    Ich werde nein sagen, denke ich entschlossen.


    Und mein Mund sagt ja.

  • „Schwester!!!!“ brüllt es lautstark von nebenan, „Schwester!!! So helfen Sie mir doch endlich! Ich will nach Hause!“ Ein Blick auf die Uhr neben ihrem Bett sagt ihr, dass das nun schon wieder seit Stunden so geht. Es ist 2:30 Uhr morgens. Langsam schiebt sie sich aus dem Bett. Sie ist nicht mehr die Jüngste, ihre Beine tun weh und widerwillig schleppt sie sich in Richtung des Gebrülls. Im Nebenraum liegt das, was von ihrem Ehemann übrig geblieben ist: eine leere Hülle ohne Verstand und Erinnerung. „Wer sind Sie?“ herrscht der Alte sie an. Wie so oft in der Nacht hat er sich freigestrampelt, seine Windel ist nass. Mechanisch und wortlos, weil ihr Mann sie ohnehin nicht versteht, wechselt sie die Windel und die Betteinlage. Seit 5 Jahren pflegt sie ihn ganz allein zu Hause. Es ist die Hölle. Seit 3 Jahren erkennt er sie nicht mehr. Alles, was diesen Menschen ausgemacht hat, ist verschwunden. Sein Charakter, alles, was sie an ihm einmal geliebt hat, ist zerfallen.


    Zuerst waren es nur harmlose Gedächtnislücken bis alle Erinnerungen ihres gemeinsamen Lebens zerstört waren. Nächstes Jahr ist ihre goldene Hochzeit, aber sie wird sie nicht feiern. Mit wem auch? Wenn die Lebenserinnerungen in Büchern aufbewahrt würden, dann erscheint es ihr, als wären im Laufe der Jahre immer mehr Bücher aus den Regalen gefallen, für jedes Lebensjahr eines, die neueren zuerst und danach die älteren. Jetzt lebt ihr Mann irgendwo in der Vergangenheit, dort, wo sie und ihre Familie nicht vorkommen.


    Alzheimer heißt ihr ganz persönliches Gefängnis, ihre Hölle auf Erden. Jeden einzelnen Tag verflucht sie ihre Entscheidung kurz vor Ausbruch der Krankheit, als sie ihre Zustimmung gab, ihm den Herzschrittmacher einsetzen zu lassen, der ihn jetzt nicht gehen lässt. Sie schafft es nicht mehr, jede Nacht wird schlimmer und sie weiß nicht wie lange das noch gut geht. Ins Heim geben kann sie ihn auch nicht, ihr Pflichtgefühl und ihr Gewissen lassen das nicht zu. Immerhin hat er sie und ihre Kinder in all den Jahren ernährt. Es käme ihr vor, wie Verrat.


    Langsam und müde geht sie in die Küche, holt die Medizin, die ihn beruhigen soll. 20 Tropfen soll er in unruhigen Nächten bekommen. Einmal nur durchschlafen können, das würde schon helfen. Sie zieht die Küchenschublade auf und lässt die Tropfen langsam auf den Löffel fallen…