Frage zu Zeiten

  • Hallo Zusammen,


    nein, ich hab mich nicht unter die Autoren gemischt. Ich hab nur mal eine Frage.
    Auch, wenn ihr mich jetzt auslacht, aber ich kenne mich eben mit Ausdrucksformen gar nicht aus. Es lässt mir einfach keine Ruhe...


    Ich höre gerade "Chocolat" von Joanne Harris.
    Das Buch ist in der Vergangenheit geschrieben. Zwischendrin schreibt sie aber auch in der Gegenwart. Leider ist mir der Satz entfallen, der mir heute auf der Rückfahrt von der Arbeit nach Hause aufgefallen ist.


    Sinngemäß ungefähr so: Sie arbeitete in meinem Laden als Aushilfe, ich bemerke, dass ihr Rücken gestrafft ist und sie viel Selbstvertrauen ausstrahlt.
    Nagelt mich nicht fest, genau weiss ich es nicht mehr.


    Ich kann mir keinen Reim daraus machen, dass obwohl das Buch in der Vergangenheit geschrieben ist, manchmal eben bestimmte Arten, wie sich jemand verhält in der Gegenwart geschrieben sind.


    Habt ihr dazu eine Lösung?


    Oder drücke ich mich total wirr aus? Dann muss ich den Satz im englischen Buch suchen ;-)

  • Ich kenne das Wechseln aus der Vergangenheit in die Gegenwart in besonders dramatischen Situationen, z.B. während hastiger Kampfszenen, als Stilmittel. Um das Ganze plastischer, näher und akuter wirken zu lassen.
    Ich habe es aber selbst noch nie versucht, da ich befürchte, dass es den Leser raus reißt, weil er einen Fehler vermutet.


    Der von dir erwähnte Satz klingt aber nicht wirklich danach. Mein erster Gedanke wäre ein Übersetzungsfehler. Vielleicht sollte da statt "bemerke" etwas anderes hin, z.B. "erinnere mich".

  • Hmmmm, da müsste dann aber wirklich einiges fehlübersetzt sein. Geht es vielleicht um eine Form der "eigenen direkten Rede"? Ich glaube, ich kann mir vorstellen, was in diesem Buch passiert - habe es auch bei Camilleri schon gesehen. So eine Art Erzählbruch, der die Aufmerksamkeit direkt auf das Geschehen lenkt...

  • Also, ein Kampf hat da nicht stattgefunden ;-)
    Ich habe auch wirklich nie drauf geachtet, ob jemand zwei Zeiten nutzt - diesmal ist es mir aber aufgefallen.


    Ich habe irgendwie versucht, mir das zu erklären, weil ich es mehrmals in dem Buch festgestellt habe. Mal sehen, ob ich den Teil im englischen Buch wieder finde.

  • Booklooker


    es ist ein stilistischer Kniff.


    Was Harris macht, ist folgendes: sie erzählt, was sich zu einer Zeit abspielt, die eigentlich vergangen ist. Bestimmte Situationen aber holt sie in die Gegenwart, wie mit einem Objektiv, sie zoomt sie her, damit man als Leserin ganz dicht dabei ist.
    Das und das ist damals geschehen und währenddesen, in einem bestimmten Moment, bin ich dabei und fühle sozusagen unmittelbar. Als wäre das Vergangene jetzt.


    Das ist einerseits so, wie wenn Leute etwas erzählen:


    Da bin ich an den Schalter gegangen (Vergangenheit) und da stand (Vergangenheit) so' ne Tussi und sagt (! Gegenwart) die doch zu mir: drängel (Gegenwart) doch nich so.
    Manno, war (Vergangenheit) ich sauer. Laß ich mir doch nicht gefallen (Gegenwart) so was! Sag (Gegenwart) ich zu der ...



    Zum anderen verstärkt es das Märchenhaft-Magische ihres Texts, weil es vorgibt, daß ein Kontinuum unterschiedlicher Zeitebenen existiert. Also, als wären Vergangenheit und Gegenwart eins. Magie ist immer und wirkt fort, Liebe ist immer und wirkt fort. Das ergibt so ein schwebendes Gefühl der Zeitlosigkeit, das über die reine Schilderung von etwas Vergangenem hinausgeht.
    Ziemlich knifflige Sache.


    Dieses Vor und Zurück kann beim Lesen sehr irritieren, deswgen verneiden es viele AutorInnen lieber, auch wenn sie es könnten. Es ist nicht allein eine Talentfrage.
    ich habe mir aber noch nie überlegt, was passiert, wenn ein solcher Text gesprochen wird. :gruebel


    Vielleicht stolperst Du nicht mehr, wenn Du jetzt weißt, daß es keine Fehlübersetzung und auch keine falsche Grammatik ist?


    Jedenfalls viel Spaß weiterhin beim Hören.



    :wave


    magali



    edit: Zwei Buchstaben umgetauscht

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

    Dieser Beitrag wurde bereits 1 Mal editiert, zuletzt von magali ()

  • Danke, magali :-)


    Sowas hab ich mir schon gedacht, aber nicht mal mein schlauer Mann konnte mir dazu was sagen. Daher dachte ich, ich frag mal die Eulen, die wissen alles ;-)


    Hier ist aber noch das Zitat aus dem englischen Buch von den Sätzen, die mich heute irritiert haben:


    Zitat

    I kept Joséphine behind the counter with one of my clean yellow aprons to protect her clothes from chocolate spillages, and she managed surprisingly well. She has taken pains with her appearance today. The red jumper and black skirt are neat and businesslike, the dark hair carefully secured with ribbon. Her smile is professional, her head high, and though her eyes occasionally drift toward the open door in anxious expectation, there is little in her bearing to suggest a woman in fear for herself or for her reputation.


    Ich habs wirklich mehrmals gehört, weil ich mir nicht sicher war, ob es tatsächlich so vorgelesen wird, wie ich es gehört habe :lache

  • In der Ich-Perspektive kann das schon vorkommen, wenn die Erzählerfigur über vergangene Ereignisse berichtet, aber dazwischen entweder direkt zu dem Leser/dem Gegenüber spricht und zB sagt "Es war ein schöner Sonnentag Ende Juni. Ich mache mir ja nicht viel aus Sonnentagen, aber weil wir gerade auf dem Weg zum Strand waren, freute ich mich darüber." Das hat den Effekt, dass es die Figur nahe an den Leser holt, als bekäme er grad was erzählt, was bei "Ich machte mir nicht viel aus Sonnentagen..." nicht so wäre. Das verwendet man va bei Dingen, die etwas Allgemeines über die Figur aussagen, was auch vom Zeitpunkt der Erzählung aus noch stimmt. Wenn man die Ich-Perspektive wählt, gibt man der Figur ja einen Zeitpunkt, von dem aus sie die Geschichte erzählt, also etwa nach den Ereignissen in der Vergangenheitsform, mittendrin in der Gegenwart, als alte Person rückblickend, kurz vor dem Höhepunkt, wie auch immer. Sagt die Figur jetzt irgendwo "Ich mache mir nicht viel aus Sonnentagen", so ist das wahrscheinlich immer noch der Fall, wählt man "Ich machte mir...", war das nur zu dem Zeitpunkt in der Geschichte so, würde ich mal sagen.


    Bin keine große Theoretikerin, aber ich hoffe, du verstehst, worauf ich hinaus will.


    lg :wave Claudia