Pascal Mercier: Nachtzug nach Lissabon

  • Pascal Mercier ist das Pseudonym des Berner Philosophieprofessors Peter Bieri, der bereits die vielbeachteten Romane "Der Klavierstimmer" und "Perlmanns Schweigen" vorgelegt hat.


    Raimund Greogius ist Anfang sechzig, Lehrer für Latein und andere alte Sprachen an einem Berner Gymnasium. Der überaus verläßliche, in sich gekehrte Mann wird von Lehrern wie Schülern hochgeachtet; letztere nennen ihn "Mundus". Aber sein Leben ist stagnativ, sein Privatleben könnte - der Gedanke ist ihm allerdings zunächst fremd - als "gescheitert" bezeichnet werden. Gregorius' einziger Freund ist sein griechischstämmiger, etwas ruppiger Augenarzt, mit dem er das Leiden der Schlaflosigkeit teilt und nächtliche Telefonate führt.


    Auf dem Weg zur Schule begegnet Gregorius eines morgens eine Frau, eine Portugiesin, die vermeintlich Selbstmord begehen will. Die Episode ist kurz, aber ein hingehauchtes Wort und die gewaltsame Veränderung von Gregorius' starrem Tagesablauf lösen eine Kettenreaktion aus. Er verläßt den Unterricht, verläßt die Stadt, macht sich auf den Weg nach Lissabon - im Gepäck ein Buch, das er kurz vor der Abreise in einer Buchhandlung gefunden hat; die im Selbst- oder Eigenverlag "Zwei Zedern" erschienenen Betrachtungen des Protugiesen Amadeu de Prado, eine essayistische Abrechnung mit Gott, dem Menschsein, den vermeintlichen Verpflichtungen der Solidargemeinschaft, ein nachdenklicher, hochphilosophischer Rundumschlag, vortrefflich formuliert und brillant ausgedacht. Das Werk erschließt sich Gregorius erst nach und nach; parallel dringt er in die Welt des längst verstorbenen genialen Arztes und Widerstandskämpfers ein, der eine in der Vergangenheit lebende Schwester, einen selbstzerstörerischen Freund und viele andere Menschen hinterlassen hat, deren Leben immer noch durch die Begegnung mit de Prado geprägt ist.


    In Lissabon eröffnet sich dem Protagonisten ein zweites Leben, aber keine zweite Chance - die hat er in seiner frühen Jugend vertan, als er das Angebot, als Hauslehrer nach Persien zu gehen, aus fadenscheinigen Gründen verwarf. Diese vermeintliche und vermeintlich fatale Fehlentscheidung teilt Gregorius mit dem nebulösen und gleichzeitig strahlenden Amadeu, der Arzt wurde, weil ihn der rückenkranke Vater, Richter unter dem Unrechtsregime von Salazar, dazu zwang. Der Focus beider Leben liegt auf dem Zeitpunkt dieser entscheidenden Weggabelung, aber anders als Amadeu de Prado, dessen Selbst- und Menschenzweifel prägten, begibt sich Gregorius in die Rolle des Forschers, des Moderators und des Entdeckers. Die Entdeckung des eigenen Wesens ergibt sich quasi ganz nebenbei. Vordergründig führt er die Beteiligten, fremde Portugiesen, aus denen Freunde werden, in die eigene Vergangenheit.


    Merciers wortgewaltiges, hocheloquentes und meistens sehr spannendes Buch führt durch die portugiesische Geschichte und in die Philosophie, erzählt von Freundschaft und Abhängigkeit, entwickelt überaus interessante und originelle Ansätze, die vermeintlich der Feder des - erfundenen - Portugiesen entstammen, manchmal Banalitäten zu enthalten scheinen, sich aber tatsächlich fast ausschließlich mit den "zentralen" Themen befassen. Eine wunderbare, sehr intelligente Lektüre, originell und nur zuweilen etwas sehr ausführlich. Daß die virtuelle Hauptfigur, Amadeu de Prado, letztlich eine Abstraktion des Autors selbst ist, kann ihm verziehen werden, denn sie ist vortrefflich gelungen.

  • Klingt schön! Hab von Kollegen nen Büchergutschein bekommen, das wirds wohl gleich werden...
    Habt ihr "Der Klavierstimmer" schon gelesen? Hatte das Buch schon in den Händen, aber Kann mans empfehlen, und warum?

  • Ich habe eben mit den Suchworten "Perlmanns Schweigen" das Forum durchsucht, weil ich dieses Buch gerade zum zweiten Mal lese.


    Komischerweise stören mich die Längen, die ich beim ersten Lesen vor ca. fünf Jahren zu entdecken meinte, jetzt nicht mehr. Im Gegenteil, ich bin tief beeindruckt von der unglaublichen Genauigkeit der Beobachtung. Mercier beschreibt einen Prozess, den man "Zerfall und Neuorganisation einer Persönlichkeit" nennen könnte, und zwar so akribisch und glaubhaft, als ob er alles selbst erlebt und mitgeschrieben hätte. Ich bin begeistert und werde mir Merciers neues Buch bestimmt auch kaufen.


    Den "KLavierstimmer" kenne ich auch, kann mich aber im Augenblick nur erinnern, dass mir das Buch zwar gefallen hat, aber nicht so gut wie der Perlmann ...


    lG
    Zefira

  • Ich war heute in einem Kurs über journalistisches Schreiben. Das Thema des ersten halben Tages waren Tipps fürs Schreiben insgesamt, z.B. kurze und klare Sätze schreiben, Adjektive sparsam verwenden ("weiss ich!", hätte ich am liebsten gesagt, "das predigen die Eulen-AutorInnen auch immer!" :grin), Füllwörter streichen.


    Der Kursleiter (ehemaliger Chefredakteur der halben schweizerischen Presselandschaft, wie mir das aussah :wow) empfahl ausserdem ein paar wenige Romane, die man sich als Stil-Beispiele zu Herzen nehmen möge; dies war einer davon.

    Surround yourself with human beings, my dear James. They are easier to fight for than principles. (Ian Fleming, Casino Royale)

  • Ich habe es auch gelesen und fand es wirklich viel zu lang geschrieben. Aber die Tiefsinnigkeit hat mich sehr beeindruckt. Da hat wohl jemand meine Gedanken aufgeschrieben. Ich kann mich mit diesem Autoren des Buches (das in dem Buch ist) wiederfinden. Außerdem sind wir ja auch fast alt *g* alle sind geschockt, dass ich es mi 16 sgelesen habe, da es ja so philosphisch beschrieben ist.

  • Das klingt wirklich sehr interessant! Aber nicht umsonst findet das Buch bei uns reißenden Absatz! Mein Chef empfiehlt es auch ständig und viele Kunden kaufen nochmal ein Exemplar, um es zu verschenken. Dann werde ich es doch wohl noch lesen müssen ;)

  • Das Buch gefiel mir sehr gut - so gut, dass ich mir gleich "Der Klavierstimmer" gekauft habe. Bloss auf den letzten 100 Seiten hatte ich das Gefühl, dass ich eigentlich alles schon gelesen hatte und dass er langsam mal zum Ende kommen könnte. Aber ansonsten toll.


    :anbet

  • Das für mich Schönste an diesem Buch waren die philosophischen Abhandlungen. Manchmal gerieten sie für meinen Geschmack etwas zu lang (vielleicht habe ich auch nur zu schnell gelesen, da das Buch mich so fesselte), doch immer regten sie zum Nachdenken an.


    Als Beispiele seien genannt:
    Seite 211 - Aufnahme mit Tonbandgeräten, das gesprochene Wort
    Seite 228 - die Abhandlung über die Pflicht der Ärzte Leben zu erhalten
    oder Seite 432 die Erkenntnis, daß derjenige, über den wir uns ärgern, Macht auf uns ausübt.


    Das Buch hat mir sehr gefallen. Gut finde ich, daß die klugen Abhandlungen des Schriftstellers in Kursivschrift dargestellt sind und man sie in Ruhe nachlesen kann (nachdem man das Buch wie ich vor lauter Eifer zu schnell gelesen hat).


    Ich empfehle es gern weiter!
    Klara

  • Ich fand es sprachlich ausgesprochen gut, aber es hatte seine Längen vor allem gegen Ende.
    Die philosophischen Teile waren sehr interessant, aber mM nach zu viel. Wegen der Thematik fand ich das Buch insgesamt runterziehend, fast schon deprimierend.

  • Am Anfang des Buches, welches mir zum Geburtstag geschenkt wurde, habe ich gedacht: Was soll ich mit der Geschichte eines verstaubten Lehrers, einer unscheinbaren Figur im Schach des Lebens, anfangen?
    Nachdem Gregorius in Lissabon angekommen war und die Gedankengänge do Prados auf mich einstürmten allerdings war ich anderer Meinung. Die Geschichte sog mich auf: Als ob man Geheimnisse entreissen könnte und die Gedankenwelt eines Menschen ganz allein für sich haben könnte. Und ja, ich sah mich auch als jungen, ernsten Schüler in seiner Uniform wieder, nahm Parallelen mit und vergass die Unterschiede. Ich wandelte in Lissabon, wie vor 12 Jahren und fand es schade, dass Mercier kein Wort zu der Bibliothek in Mafra verlor, die für einen Bücherwurm wie Gregorius das Paradies auf Erden hätte bedeuten können.
    Das Ende fand ich genauso uninteressant wie den Beginn, aber das lag wohl daran, dass mich Portugal gefesselt hielt.

  • Hallo, Bouquineur.


    Danke. War ich schon irgendwie mal drauf gestoßen. Ich frage mich nur immer noch, warum der - überaus positive Auszug aus meiner Rezension - mit "kritischer hingegen wertet ..." überschrieben ist. :wow

  • Eines der Bücher, die mich nicht mehr loslassen. Auch mich hat es förmlich in sich hineingesaugt und mich von der ersten bis zur letzten Zeile gefesselt. Sich selbst finden, in dem man Stück für Stück die Lebensgeschichte eines anderen zusammensetzt, sich seinen Ängsten stellen, obwohl man am Liebsten davor weglaufen möchte, sich die Frage zu stellen, was passiert wäre, wenn der Zug des Lebens an einer Weiche in eine andere Richtung gefahren wäre...
    Es fordert zum Nachdenken heraus, zum sich Auseinandersetzen mit seinen Gedanken. Wenn man sich dem nicht stellt, dann erschließt es sich einem nicht. Absolut lesenswert. Am Besten mehrmals :-)

  • Ich hab dieses Buch auch vor ca. einem Monat begonnen, aber es hat mich nicht wirklich in seinen Bann gezogen. Ich hab es jetzt mal zur Seite gelegt und lese es jetzt dann im Urlaub vielleicht fertig. Ich hoffe, es zieht mich auch noch irgendwann in seinen Bann!!!

  • Nach den Begeisterungsstürmen, die dieses Buch nach seinem Erscheinen ausgelöst hat, habe ich es auch gelesen & mich auf etwas ganz Besonderes eingestellt und gefreut. Leider wurde ich enttäuscht. Vielleicht waren meine erwartungen zu hoch, meine Stimmung nicht passend oder was auch immer ...
    Nachtzug nach Lissabon hat mich nicht abgeholt, mich kalt gelassen. Die Ausgangssituation, die Begegnung mit dieser Frau, schien mir zu unmotiviert, erschloss mir nicht, weshalb die Hauptfigur ihr hübsch eingerichtetes Leben zurücklässt. Mir hat einfach das Besondere gefehlt ...

  • Ich habe das Buch schon so oft empfohlen bekommen, dass ich es auch angefangen habe zu lesen. Doch genauso wie mein/e VorschreiberIN schon sagte, habe ich auch Probleme in Stimmung zu kommen.
    Ich weiß auch nicht, auf was ich es zurückführen soll, aber es klappt nicht so recht.
    Trotzdem werde ich es weiterlesen, zumindest diese Woche noch und dann bekomme ich den Potter und dann schau ich mal weiter.

    ... Liebe, die, weil sie nie genung bekommt,
    stets schon im Augenblick lebt, der noch kommen wird.
    Marcel Proust

  • Hallo und Dankeschön an alle kritischeren Stimmen.
    Ich höre nur völlig begeistere Stimmen über diesen Roman und ich kann ihn einfach nicht anfangen zu lesen. Vielleicht muss man dazu über 40Jahre alt sein? Immerhin habe ich dann "Lea " vom selben Autor gelesen und das hat mich völlig begeistert!

  • Ich habe es noch nicht auslesen können, nach etwa einem Drittel wieder weggelegt, aber ich nehme es mir bei Gelegenheit bestimmt noch einmal vor. Dergleichen passiert mir oft.


    Da mir Lissabon sehr gut gefallen hat, als ich vor zwei Jahren da war, war ich sehr bereit, mich von dem Buch fesseln zu lassen, aber es hat nicht geklappt. Schon die Eingangsszene hat mich sehr befremdet. Dieses Notieren einer Telefonnummer auf der Stirn eines Fremden scheint mir an den Haaren herbeigezogen (passendes Bild, hihi) ... Warum schreibt sie nicht gleich auf ihre eigene Hand? Und versucht mal, jemand anderem was ins Gesicht zu schreiben, wenn er nicht darauf gefasst ist. Da würde doch ganz instinktiv jeder ausweichen, so dass es Gekrakel würde. Ich finde das eher unfreiwillig komisch, und das hat für mich die ganze Begegnung irgendwie unernst gemacht.


    Mit Grüßen
    Zefira