Yann Martel - Ein Hemd des 20. Jahrhunderts [Orig.: Beatrice and Virgil]

  • Es war ja an der Zeit! Endlich ein neues Buch von Yann Martel


    ...derzeit nur auf Englisch! Ich habe es gelesen:


    zum Buch:
    Fate takes many forms. . . .

    When Henry receives a letter from an elderly taxidermist, it poses a puzzle that he cannot resist. As he is pulled further into the world of this strange and calculating man, Henry becomes increasingly involved with the lives of a donkey and a howler monkey—named Beatrice and Virgil—and the epic journey they undertake together.


    With all the spirit and originality that made Life of Pi so beloved, this brilliant new novel takes the reader on a haunting odyssey. On the way Martel asks profound questions about life and art, truth and deception, responsibility and complicity.


    der Autor:
    Yann Martel wurde 1963 in Spanien geboren. Seine Eltern sind Diplomaten. Er wuchs in Costa Rica, Frankreich, Mexiko, Alaska und Kanada auf und lebte später im Iran, in der Türkei und in Indien. Er studierte Philosophie und wohnt derzeit in Montreal.


    meine Meinung:
    Nachdem es ja lange gedauert hat bis etwas neues von Yann Martel erschienen ist, musste ich dieses Buch auf der Stelle haben - Life of Pi ist ja einfach genial.


    Vorweg: die Genialität von Life of Pi wird in diesem Buch nicht erreicht. Das fiktive Theaterstück von einem Brüllaffen und Esel ist aber in vieler Hinsicht sehr lesenswert. Ich habe zwar etwas länger gebraucht, um in das Buch zu finden, aber dafür ist das Ende und die Nachwirkung umso größer.


    Verraten werde ich nicht viel. Aber die Novelle bietet eine sehr neue Ansicht für viele Dinge (Holocaust, Leben, Liebe, Trauer, Horror und ...). Am Anfang versteht man noch nicht wo der Autor wirklich hin will - dies bleibt eigentlich bis zum Ende so. Meiner Meinung nach ist das aber so gewollt - Dieses Buch kann man einfach lesen, doch damit versteht man es nicht. Man muss den Gedanken und den Ansetzen folgen sowie die Gesamtheit der Ideen an- und überdenken. Alte, bekannte und allgemeine Dinge in neuer "schräger" Sichtweise zu erzählen und die Gedanken zu fördern --> das ist das Ziel dieses Buches!


    Damit habe ich alles gesagt :-)

    von 10 Punkten gebe ich 8!


    Edit: Ich habe im Threadtitel den deutschen Titel ergänzt und die ISBN geändert, damit die deutsche Ausgabe über das Verzeichnis gefunden werden kann. LG JaneDoe

    „Die Welt ist ein einziger unaufhörlicher Querverweis.“


    ...who wants to live forever...

    Dieser Beitrag wurde bereits 4 Mal editiert, zuletzt von PhileasFogg ()

  • Verwirrend und schockierend


    Der Schriftsteller Henry hatte mit seinem zweiten Roman weltweit großen Erfolg, und zwar so enorm großen, dass er meinte, danach über die Freiheit zu verfügen, sich auch Themen zuwenden zu können, bei denen die belletristischen Erfolgsaussichten eher gering sind. Er schrieb ein Doppelbuch, einen Roman und gleichzeitig ein Essay, thematisierte den Holocaust, versuchte aber gleichzeitig, sich von den bisherigen Umsetzungen zu lösen und die Fantasie in den Vordergrund zu bewegen, Gewalt und Grausamkeit also auf einer Metaebene zu begegnen. In einer großen Runde mit Verlegern, Buchhändlern und Kritikern wurde er für diese Vorgehensweise abgestraft; das Buch erschien nicht. Henry zog sich zurück, wechselte den Wohnsitz und widmete sich fortan seinen Hobbys. Er entdeckte das Laienschauspiel, nahm Klarinettenunterricht, kaufte einen Hund und eine Katze, und Nachwuchs kündigte sich an. Aus dem Bestsellerautor wurde ein Privatier. Nur die immer noch in großer Menge eintreffenden Leserbriefe zu seinem Erfolgsbuch erinnerten ihn daran, dass er eigentlich Schriftsteller war. Dann bekam er ein seltsames Päckchen. Ein Leser, der ebenfalls Henry hieß, schickte ihm eine Flaubert-Erzählung, in der sämtliche Szenen, in denen die Hauptfigur Tiere metzelte, mit gelbem Markierstift hervorgehoben waren. Außerdem enthielt die Sendung einige Szenen aus einem Theaterstück, das dieser Leser offenbar geschrieben hatte - mit einer alten Schreibmaschine.


    An einem kalten Nachmittag macht sich der Autor auf die Suche nach diesem Leser. Er entdeckt ihn in einem Fachgeschäft für Tierpräparationen. Der Mann ist weit über achtzig, ein dürrer, verschlossener, seltsam emotionsloser Typ. Der Schriftsteller ist fasziniert, nicht nur von den Präparaten und der seltsam weltfremden Stimmung zwischen den vielen ausgestopften Tieren, sondern auch und vor allem von jenem Theaterstück, in dem ein Brüllaffe namens Vergil und eine Eselin namens Beatrice merkwürdige, aber sehr feingeistige Dialoge führen. Der Taxidermist liest dem Autor über mehrere Tage hinweg aus diesem Theaterstück vor. Es geht um Formen von Gewalt, die kaum in Worte zu fassen sind, und die diese beiden Tiere offenbar miter- und überlebt haben. Sie entwickeln eine originelle Strategie, um mit der eigenen Vergangenheit zurechtzukommen und gleichzeitig zu verhindern, dass sie in Vergessenheit gerät. Die Mittel, die sie hierfür entwickeln, nennen sie "das Nähzeug", denn das Land, in dem die Ereignisse stattgefunden haben, ist "das Hemd".


    Es ist anzunehmen, dass Yann Martel in diesem Buch zumindest teilweise von sich selbst erzählt, denn die Vita jenes Autors und diejenige Martels ähneln sich. Und tatsächlich wäre ein Buch wie "Ein Hemd des 20. Jahrhunderts" von einem Autor, der nicht zuvor einen weltweiten Bestseller wie "Schiffbruch mit Tiger" vorgelegt hat, kaum erschienen. Der Roman, der eigentlich eine Novelle mit eingebettetem Theaterstück ist, verweigert sich Formalien, verfügt über einen sehr unkonventionellen Aufbau und kommt recht sperrig daher. Ich muss zugeben, dass mich das Buch gelegentlich etwas geärgert hat. Aber es ist auch interessant, sehr kunstvoll, manchmal spannend und fraglos vortrefflich geschrieben.


    Allerdings missfiel mir auch einiges. So hinterfragt der Schriftsteller in seinen Diskussionen mit dem Präparator immer wieder Dinge, die von so eindeutiger Symbolik sind, dass sich Fragen eigentlich erübrigen, wohingegen andere Szenen, deren Metaphorik durchaus erklärungsbedürftig ist, unkommentiert bleiben. Die Bedeutung der privaten Geschehnisse - etwa der grausame Tod des Katers, dahingemetzelt vom Hund, der sich offenbar in der Präparatorenwerkstatt die Tollwut geholt hat - erschloss sich mir nicht immer vollständig, und auch einige, ohnehin nur angedeutete, Nebenhandlungen schienen sich nicht aufzulösen. Tatsächlich aber zieht der Roman vor allem gen Ende stark in seinen Bann, er ist wortmächtig, eindringlich und von großer Wucht, und die dreizehn "Spiele für Gustav" (einer menschlichen Leiche, der die Tiere auf ihrem Weg begegnen), die den Schluss darstellen, erschrecken und verwirren. Das eigentliche Ende, die Klimax der Auseinandersetzung zwischen Schriftsteller und Präparator, musste ich zweimal lesen, um es auch nur ansatzweise zu verstehen.


    Ein sehr seltsames Buch über Gräuel und Bestialität, über Unmenschlichkeit (ein, wie ich finde, ohnehin widersprüchlicher Begriff) und den Umgang mit ihr, über Vergangenheit und jüngere Geschichte, fesselnd und sicherlich auch zwingend, dicht und atmosphärisch, und trotz seines merkwürdigen Aufbaus - das Theaterstück um Vergil und Beatrice nimmt reichlich Raum ein - sehr fließend. Voller Metaphorik und Symbolik, rätselhaft und dann wieder über-eindeutig, aber am Ende ... ich weiß nicht so recht. Es hinterlässt den Leser schockiert (vor allem, wenn man sich traut, die Fragen, die im Rahmen der "Spiele für Gustav" gestellt werden, tatsächlich zu beantworten), und wenn es das erreichen wollte, ist es gelungen. Literarisch sowieso. Trotzdem bleibt das Gefühl, etwas gelesen zu haben, das mehr sein will, als es unterm Strich ist. Oder weniger, und der Rest ist Interpretation.


    (Edit: ISBN nachgetragen)

  • Ein Hemd des 20. Jahrhunderts von Yann Martel


    REZENSION


    Das titelgebende Hemd des 20. Jahrhunderts ist kein simples Kleidungsstück, sondern der Lebensraum eines Esels und eines Affens. Spätestens mit diesem Bild wird jedem Leser klar, dass der kanadische Autor Yann Martel in seinem neuesten Werk mit verwirrenden Symbolen und grandiosen Metaphern arbeitet.


    Im Zentrum dieser Neuerscheinung steht der Schriftsteller Henry, der sich nach einer frustrierenden Ablehnung seines neuesten Werkes durch seinen Verlag eine Auszeit mit seiner Familie gönnt. Während er fern der Literatur als Kellner in einem Café sein Glück findet, findet ein Leserbrief aus der unmittelbaren Nachbarschaft seinen Weg zu ihm. Ein unbekannter Leser bittet Henry um literarische Unterstützung. Es stellt sich heraus, dass es sich bei dem Absender um einen Tierpräparator handelt, der unweit von Henrys Wohnung den Laden 'Taxidermie Okapi' betreibt.


    Den Präparator erlebt Henry als einen alten, einsamen und verschlossenen Mann, der von dem Wunsch getrieben wird, ein eigens begonnenes Theaterstück zu Ende zu bringen. Da er jedoch gleich bei mehreren Passagen Schreibhemmungen verspürt, erhofft er sich Hilfe von einem professionellen Autor. Dazu trägt der Präparator Henry bei einer Reihe von Treffen die verschiedenen Teile seines Theaterstückes vor. Henry sowie der Leser macht somit erstmalig Bekanntschaft mit dem Esel und dem Affen.


    Die Eselin Beatrice und der Brüllaffe Vergil fungieren als Hauptdarsteller in diesem Theaterstück – die Rolle dieser beiden umfasst vor allem das 'Erzählen.' Es soll berichtet werden: Über die Vergangenheit, über das Grauen und über 'das Hemd des 20. Jahrhunderts'. Obwohl die verschiedenen Akte des Theaterstücks in loser Reihenfolge präsentiert werden, wird rasch deutlich, dass die beiden Tiere eine unbestimmte Zahl Vertriebener repräsentieren und dass das Hemd eine Metapher für die Grausamkeit des letzten Jahrhunderts darstellt.


    Martel war von dem Wunsch getrieben, den Holocaust literarisch in nie dagewesener Form aufzuarbeiten. So auch sein Protagonist Henry und so offensichtlich auch der eigenbrödlerische Tierpräparator. Um sich diesem unverändert hochsensiblen Thema nähern zu können, hat Martel eine Kombination aus einem Roman und einem Theaterstück gewählt.


    „Ein Hemd des 20. Jahrhunderts“ enthält zweifelsohne autobiographische Züge und verwirrende Passagen. Wer jedoch im letzten Drittel des schmalen Buches die Auflösung all dieser Symbolik erfährt, wird dieses Buch mit großer Begeisterung beenden. Um auch diese Rezension mit einem sehr starken Bild abzuschließen, sei verraten, dass das Hemd des 20. Jahrhunderts breit gestreift ist. So wie es die Jacken in den Konzentrationslagern waren…

  • Der Präparator


    Der Schriftsteller Henry hat bereits sehr erfolgreich zwei Bücher veröffentlicht. Sein drittes jedoch, das vom Holocaust handelt, wird von den Verlegern verrissen. Frustriert gibt Henry das Schreiben auf. Er nimmt einen Job als Kellner in einem Café an, nimmt Klarinettenunterricht und schließt sich einer Theatergruppe an.


    Eines Tages erreicht ihn der Brief eines Lesers, der ihn um Hilfe bittet. Henry besucht den alten Mann, der als Tierpräparator arbeitet. Ihm gehört die „Taxidermie Okapi“ (daher das Okapi auf dem Schutzumschlag). Er hat angefangen, ein Theaterstück zu schreiben, kommt aber nicht recht weiter. Das Stück heißt „Ein Hemd des 20. Jahrhunderts“. Es spielt in einem Land namens Hemd und handelt von Tieren, genauer gesagt, von Gräueln, die den Tieren angetan worden sind. Henry besucht den Alten immer wieder, lässt sich von ihm Szenen des Theaterstücks vorlesen und erläutern. Nach und nach dämmert es ihm, dass es ein Stück über den Holocaust ist. Er ist fasziniert davon, dass es dem Präparator gelungen ist, über den Holocaust zu schreiben, woran er selbst ja gescheitert ist.


    Yann Martel kommt in seinem neuen Buch nur langsam zur Sache. Die erste Hälfte dümpelt etwas vor sich hin. Ich habe mich immer wieder gefragt: Was soll das? Wo führt das hin? Es wirkte auf mich doch alles sehr bizarr, zuweilen auch zusammenhanglos. Doch dann wird man immer tiefer in dieses Theaterstück hineingeführt, man kann sich nicht mehr entziehen. Man ist gefesselt davon. Genau so erlebt es auch Henry. Obwohl er ja eigentlich nicht mehr schreiben wollte, muss er sich einfach mit diesem Stück beschäftigen und auch einen Teil davon schreiben. Erst gegen Ende erkennt man, was hinter dem Präparator steckt, und hier kommt enorme Spannung auf.


    Die Sprache ist wunderbar gehoben, jedes Wort pfeilgenau gesetzt. Das Buch ist nicht einfach zu lesen. Man muss sich schon ganz darauf einlassen, damit es vom Leser Besitz ergreifen kann. Aber dann bin ich davon überzeugt, dass es noch lange nachhallen wird.