Eigentlich eine Zusammenfassung dieses Threads, aber ich dachte, für das Verzeichnis stelle ich es nochmal als richtige Rezi rein.
Zum Buch
Ein rätselhafter Fremder taucht im Jahre 1223 schwer verwundet in einem sächsischen Dorf auf. Er führt ein Säckchen bei sich, dessen Inhalt, so glaubt man, das Ende der Welt herbeiführen kann: Den Drachensamen. Schon beginnt sich ein Tanz aus Intrigen und Erpressung, geknechteten Minnesängern und rivalisierenden Fürsten, finsteren Mönchen und Frauen in Männerkleidern um das gefährliche Geheimnis zu drehen ...
Die Autoren (in alphabetischer Reihenfolge)
Mani Beckmann - Horst Bosetzky - Guido Dieckmann - Richard Dübell -Rebecca Gablé - Helga Glaesener - Malachy Hyde - Tanja Kinkel - Tessa Korber - Titus Müller - Belinda Rodik - Ruben Wickenhäuser
Dieser Historische Roman entstand durch die Zusammenarbeit von 12 renommierten Autoren des Autorenkreises Historischer Roman "Quo Vadis": Die beteiligten Autoren schrieben auf Grundlage eines Exposés und aufbauend auf den vorangegangenen Kapiteln den gemeinsamen Roman fort. Anstelle einer Anthologie entstand so eine Art "Kettenroman".
Meine Meinung
Ich war ja sehr misstrauisch, was dieses Projekt angeht und hab sofort einen geschickten Marketing-Trick dahinter vermutet. Aber das Cover zog mich magisch an - das Buch musste gekauft werden.
Mein erster Eindruck war, dass die Autoren jedes nur mögliche Cliché in dem Buch untergebracht haben: einen verarmten, aber aus edler Abstammung kommenden, jungen, gutaussehenden Helden, einen dicken, gemeinen Sohn, der mit Freuden seinen halb so schweren, verwaisten Cousin einschüchtert, einen geheimnisvollen zerlumpten Fremden, dessen weiße, schlanke Hände aber darauf schließen lassen, dass er kein Tagelöhner oder Bauer ist und natürlich eine Heldin in Hosen.
Auf den gelungenen Prolog von Guido Dieckmann folgten zwei hervorragende Kapitel von Rebecca Gablé. Ich hätte ja am Liebsten einfach "bei ihr" weitergelesen, aber mit Kapitel 3 kommt wieder ein Wechsel und man muss durch den ersten ganz großen Stilbruch durch. Nachdem ich Kapitel 3 und 4 gelesen hatte, war ich mir nicht mehr sicher, ob das Buch nicht vielleicht doch eher eine Satire ist. Titus Müller schlägt mit Metaphern nur so um sich und mir wurde versichert, dass dies nicht seine normale Schreibweise ist. Zum Beispiel kann man auf Seite 52 lesen:
"Das Nachtgebet verflüchtigte sich zwischen den Balken an der Schlafsaaldecke, und die Mönche lagen stumm, als hätte man ihnen Knebel in die Münder gestopft. Stille, die von den Wänden dröhnte. Es ist Schweigen befohlen! drohten die Steine. Hütet Eure Lippen! wisperten die Kräuter hinter dem Gartenzaun. Am südlichen Stadtrand knarrte die alte Mühle, erschöpft und machtlos."
Über die beiden Kapitel von Titus Müller hab ich mich einfach köstlich amüsiert, ich hoffe nur, er hat sie nicht ernst gemeint!
In Kapitel 8 von Horst Bosetzky dreht sich die Gedankenwelt der Protagonisten hauptsächlich darum, sich selbst Fragen zu stellen, die sich der Leser wahrscheinlich auch selbst stellen würde, ohne dass er mit der Nase draufgestoßen wird. Kapitel 8 hat mich in dem ganzen Buch am meisten geärgert, ich habe das Verhalten der Personen als unglaubwürdig und wenig nachvollziehbar empfunden. Zum Glück war der Spuk nach zwei Kapiteln schon wieder vorbei, so ein regelmäßiger Autorenwechsel kann auch Vorteile haben.
Oft hatte ich das Gefühl, dass die Autoren große Schwierigkeiten damit hatten, die Charaktere konsistent zu halten. Rebecca Gablé hat einige der Figuren auf ihre übliche gekonnte Art zum Leben erweckt und in den folgenden Kapiteln verhalten sich die Protagonisten dann zum Teil nicht konsistent. Sie sind „out of character" und ich hatte mehrfach das Gefühl, dass da etwas nicht stimmen kann.
In Kapitel 11 (Mani Beckmann) wird unser junger Held von gottlosen Slaven als Geisel genommen. Ich musste sofort an Iris Kammerers "Der Tribun" denken, und tatsächlich, einige Seiten später fand ich einen Dialog über den Cheruskerfürsten Arminius, den man mir problemlos hätte unterjubeln können, wenn ich nicht zufällig im gleichen Bücherforum wie Iris unterwegs sein würde und sie mich nicht darauf hingewiesen hätte, dass die Theorie, über die die beiden Protagonisten im Jahre 1223 plaudern, eigentlich erst im 19. Jahrhundert aufgekommen sei.
Insgesamt hat mir die zweite Hälfte des Buches (ab Kapitel 11) besser gefallen als die erste. Dort sind mir auch Stilbrüche nicht so sehr aufgefallen - vielleicht hatte ich mich auch nur eingelesen und nicht mehr so darauf geachtet. Auf jeden Fall hatte ich im zweiten Teil des Romans (mit den Autoren Mani Beckmann, Malachy Hyde, Guido Dieckmann, Richard Dübell und Belinda Rodik) weitgehend das Gefühl eines flüssigen und stimmigen Lesevergnügens.
Trotz aller Kritik und meinem anfänglichen Misstrauen dem Projekt gegenüber fand ich den Roman gar nicht mal so schlecht. Vielleicht liegt es daran, dass ich mich dank Titus Müller und seinen Metaphern schon ziemlich früh entschlossen habe, den Roman mit einem Augenzwinkern zu lesen.
Die Grundidee der Geschichte ist eigentlich ganz witzig. Verschiedene Leute laufen hinter einem Säckchen mit „Drachensamen" her und da den wenigsten die Bedeutung des Inhalts klar ist, tappen sie dabei die meiste Zeit im Dunkeln. Zu noch mehr Verwirrung führen weitere Säckchen mit anderen Inhalten, die ebenfalls wieder für einige Personen Bedeutungen haben, die aber nicht sofort ersichtlich sind. Das Ganze liest sich wie eine Operette. Immer, wenn man denkt, dass alle Fäden zusammenlaufen und einigermaßen entwirrt sind, kommt irgendetwas dazwischen. Die wenigsten Personen sind nur gut oder nur böse und der junge Held ist kein toller Muskelprotz sondern ein romantischer Minnesänger, der von einem Pech ins andere tappt. Das Ende hat mich wirklich verblüfft, weil es nicht dem Cliché entsprach, das ich erwartet hatte. Man hat mich also erfolgreich in die Irre gleitet.
Ganz ernst darf man das Buch wohl nicht nehmen, aber ich fand, es war eine recht amüsante Lektüre und ich habe mich gut unterhalten gefühlt. Meine Neugier auf Experimente dieser Art ist erstmal gestillt, die Fortsetzung werde ich mir also wohl nicht kaufen. Oder vielleicht doch? Ich kenn' mich doch...
lg Iris
@ Morgana und Wolke: Ich wusste nicht, welchen Autor ich für das Verzeichnis nehmen sollte. Quo Vadis stimmt eigentlich nicht, weil es ja nur 12 bzw. 13 Autoren aus dem Autorenkreis Quo Vadis sind. Herausgeber sind Titus Müller und Ruben Wickenhäuser.