DEMENZ - Tilman Jens

  • Klappentext:
    Das allmähliche Vergessen begann im Jahr 2004, nur wenige Wochen nachdem in den Medien diskutiert worden war, ob Walter Jens 1942, mit knapp 20 Jahren, dem Nationalsozialismus für kurze Zeit näher stand, als er es selbst später wahr haben wollte. Hat eine alte, verdrängte Geschichte die Demenz, den Verlust von Gedächtnis und Sprache, ausgelöst oder zumindest beschleunigt? Mit der Anamnese beginnen die Fragen.


    Tilman Jens’ Buch ist die Chronik eines Abschieds des Sohnes vom geliebten und bewunderten Vater. Schmerzhaft erzählt er von der Entdeckung eines ganz anderen, hilflosen Menschen, von der Grausamkeit der Krankheit, von einem quälend langen Weg in die letzte Stufe des Dämmerns. Der Sohn berichtet von einem Lebensende, das so gänzlich anders verläuft, als es seinem Vater, dem »Virtuosen des Wortes«, der Anwalt eines selbstbestimmten Todes, erhofft hatte.


    Meine Meinung:
    Dieses Buch ist der Abschied eines Sohnes von seinem Vater, der sich wiederum allmählich vom Leben verabschiedet. Und nur so ist dieser Text zu verstehen, kann er verstanden werden.
    Der Titel mag etwas irreführend sein, das Thema nicht unbedingt im Mittelpunkt stehen; vielmehr setzt sich zwar der Sohn einer wohl bekannten Persönlichkeit, aber doch im Grunde genommen so wie jeder andere – na ja, fast jeder andere Mensch, mit der Frage nach dem WARUM! auseinander. Warum wird mein Vater so wie er wird.
    Der Sohn kann nicht akzeptieren, dass sein Vater, ausgerechnet sein Vater so wird. Es muss einen Grund geben. Und den sucht und findet er in der aufgedeckten Vergangenheit seines Erzeugers.
    Erschreckend wie sich dieser einst so vertraute Mensch in ein Häufchen Elend verwandelt. Fatal die Flucht des Auseinandersetzenden in die Meinung, hätte der Vater diesen Fehltritt beizeiten zugegeben, bräuchte er sich nicht im Vergessen zu verlieren.
    Die Frage nach der Würde wird laut. Schlimm genug, dass so etwas passiert, aber muss über so etwas überhaupt geschrieben werden?
    Ja. Ganz eindeutig.
    Tilman Jens schildert das Unglaubliche in einer sehr angenehmen Sprache. Das Buch liest sich weniger wie ein Sachbuch, eher wie ein Roman.
    Ich denke, der Abstand mit dem er an das Thema ran geht stimmt.

  • So ein schmales Bändchen, 153 und eine halbe Seite, großzügig gedruckt, wie lange liest man daran – eine Stunde, anderthalb?
    Und dazu ein so großes Thema (oder sollte ich besser sagen: zwei große Themen?), tabuisiert immer noch, das die Betroffenen wie die Angehörigen nie mehr loslässt.


    Das Buch hat mich zunächst einmal irritiert, weil ich es für mich nicht recht einordnen konnte:
    Ist es nun Anklage, Klage wider die Umstände, die Krankheit sowieso, die mediale Situation, der Walter Jens und die Famile ausgesetzt waren, ein Stück weit auch gegen Ärzte und zu leicht zu beschaffende Medikamente und vielleicht sogar gegen sich selber, gegen den Vater?
    Ist es Verteidigung für den, der „Vorbild war und dies immer bleibt“ (Seite 72), ohne dessen Verhalten in Bezug auf die Mitgliedschaft in der NSDAP zu rechtfertigen, weil er selber viel zu viele Fragen dazu hat?
    Ist es Suche nach Erklärungen, die es vielleicht gar nicht geben kann, weder für die Krankheit noch für die Nähe zum Nationalsozialismus? Auch, weil es weder das Eine noch das Andere geben durfte bzw. sollte?


    Hat es mich anfangs verwundert, die beiden Themen – Erkrankung des Vaters und Mitgliedschaft – so miteinander verwoben zu sehen, kann ich es im Nachhinein doch zumindest nachvollziehen, warum für Tilman Jens das Eine (nämlich die Krankheit) durch das Andere (nämlich „der – unterschriebene - Wisch“) bedingt, zumindest aber verstärkt bzw. beschleunigt erschien. Zu groß die Reputation, zu hoch das Podest, auf dem der Vater gehoben war, um dann eingestehen zu müssen, dass einem Walter Jens das ganz gewöhnliche, allzu menschliche Verdrängen – sei es in Bezug auf seine Krankheit, sei es in Bezug auf die Mitgliedschaft -, dem so viele, allzu viele erliegen, nicht fremd sein könnte.


    Das letzte Kapitel ist für mich das stärkste, ergreifendste, das die meisten Fragen aufwerfende und doch keine Antwort liefernde - was es wohl auch gar nicht kann -: „Er will, denke ich, manchmal, tot sein, ohne zu sterben“ formuliert es Tilman Jens auf Seite 142. Der Mann, der so denkwürdige, nachdenkliche machende Thesen über ein menschenwürdiges Sterben aufgestellt hat, gerät in die Situation, in der sich die Theorie in der Praxis bewähren soll. Und da auch der Kranke (noch?) weiß, dass man das Sterben nur einmal praktizieren kann, „muss es ja nicht gerade heute passieren“ (Seite 142).


    Ich kenne nur sehr wenige Bücher von Walter Jens, natürlich den Band „Menschenwürdig sterben“, der zusammen mit Hans Küng entstand, natürlich seine Übertragung der Evangelien; diese und das, was ich von ihm hörte, ließ in mir einen großen Respekt vor der „Geistesgröße“ erwachsen. Den Menschen „dahinter“ hat mir erst das Buch von Tilman Jens wenigstens in Ansätzen näher gebracht.