Bloß - die Welt ist eine Sache und Gott eine andere, und noch passen beide nicht zusammen. (Seite 247)
Die Kehilla ist eine festgefügte, enge kleine Welt, ganz besonders für die Frauen. Sicherer Hafen und Kerker zugleich. (Seite 391)
„Elizabeth, wir sind in den Vereinigten Staaten von Amerika. Da können Sie verdammt nochmal tun und lassen, was immer Sie wollen.“(u. a. Seite 413)
445 Seiten, gebunden
Originaltitel: Kaaterskill Falls
Aus dem Amerikanischen von Christa E. Seibicke
Verlag: Albrecht Knaus Verlag, München 2000
ISBN-10: 3-8135-0162-0
ISBN-13: 978-3-8135-0162-9
Zum Inhalt (Quelle: Amazon und eigene Ergänzung)
Nur ein paar Autostunden von New York entfernt liegt in idyllischer Landschaft der Ort Kaaterskill Falls. Jahr für Jahr verbringen hier die Anhänger des orthodoxen Rabbi Kirshner aus Washington Heights die Sommermonate. Doch ihr streng vom Glauben geprägter Lebenswandel täuscht. In der Gemeinde gibt es Zweifler und Querdenker, und so manchen fällt es schwer, sein Leben in ein starres Schema zu pressen. So auch Elizabeth Shulman, Mutter von fünf Töchtern und überzeugter Jüdin, die dennoch eines Tages beschließt, nicht mehr nur Ehefrau und Mutter zu sein. Mit Erlaubnis des alten Rabbi eröffnet sie einen kleinen Laden mit koscheren Lebensmitteln. Nach Rabbi Kirshners Tod weht ein anderer Wind in der kleinen Gemeinde. Kirshners Söhne, der unkonventionelle Intellektuelle Jeremy und sein frömmelnder Bruder Isaiah, streiten um das geistige und weltliche Vermächtnis des Vaters. Ausgerechnet Elizabeth gerät zwischen die Fronten.
Über die Autorin und zum Handlungsort (Quelle: Homepage der Autorin, engl. Wikipedia)
Allegra Goodman wurde 1967 in Brooklyn/New York geboren, wuchs jedoch in Hawaii auf. Ihr Vater war Professor für Philosophie, die Mutter Biologin. Sie studierte u. a. in Harvard, wo sie ihren späteren Ehemann David Karger kennenlernte. Sie haben vier Kinder und leben heute in Cambridge/Mass.
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- < Klick > - der Eintrag im englischen Wikipedia
- < Klick > - die Seite zum Buch im englischen Wikipedia
- < Klick > - die Wikipedia-Seite zum Handlungsort Catskill Mountains
- < Klick > - der Online Guide zu den Catskill Mountains (in englischer Sprache)
- < Klick > - hier noch die Tourismusseite zu den Catskill Mountains (in englischer Sprache)
Meine Meinung
Schon wieder ein „schwieriges Buch“, zumindest was das Rezischreiben betrifft. Zwischendurch ging es selbst mir, der einen gemächlichen Gang der Handlung bevorzugt, zu langsam, passierte zu wenig. Und doch war genau dies notwendig, dieses langsame Angehen, dieses Ausführliche Vor- und Darstellen, dieses solide Fundament legen, damit auf den letzten dreißig, vierzig Seiten in hoher Dichte die Quintessenz um so deutlicher, quasi in Reinstform, zutage treten kann. Ich will mich glücklich schätzen, wenn es mir gelingt, wenigstens ein bißchen davon hier wiederzugeben.
Um mit dem Leichtesten, meinem Kritikpunkt, zu beginnen: es kommen unwahrscheinlich viele Personen vor. Ein Personenverzeichnis wäre sehr hilfreich gewesen. Ich hätte mir eines anlegen sollen, da ich aber oft unterwegs gelesen habe, war nicht immer Schreibmöglichkeit vorhanden, und bis ich daran dachte, war ich schon zu weit im Buch vorangeschritten. Gut ist es auch, wenn man Grundkenntnisse über das jüdische Leben und die Gemeindeorganisation hat. Denn viele Begriffe aus diesem Bereich werden verwendet, jedoch nicht erklärt. Es gibt auch kein Glossar o. ä. Hätte ich nicht in diesem Monat schon zwei Sachbücher über die jüdische Religion gelesen, hätte ich mich mit dem Verständnis so mancher Dinge und Begriffe schwer getan.
So wußte ich beispielsweise, daß ein jüdisches Geschäft, das Lebensmittel verkauft, einer Lizenz durch einen Rabbi bedarf und durch einen Rabbi überprüft wird. Eine solche Lizenz kann einfach so widerrufen werden, ohne daß man groß etwas dagegen unternehmen kann. Was bisher theoretisches Wissen war, kommt hier im Buch ganz praktisch in seinen Auswirkungen vor.
Oder die verschiedenen Gebetszeiten, die Trennung nach Männern und Frauen. Die Autorin gibt einen tiefen Einblick in das tägliche Leben einer Gemeinde bzw. einiger Familien, die eher orthodox ausgerichtet sind. Ich habe immer wieder gestaunt, welche Beschränkungen da freiwillig auf sich genommen werden, nach welchen uralten Regeln gelebt wird in einer Umgebung, die so völlig anders ist.
Bevor ich es vergesse zu erwähnen: die Übersetzung macht einen guten Eindruck. Ich kenne zwar den Originaltext nicht, doch zu keiner Zeit hatte ich das Gefühl, eine Übertragung aus einer Fremdsprache zu lesen.
Im „Making of“ zum Film „Loving Leah“ hieß es, daß durch diesen Film viele Amerikaner erst überhaupt von der Existenz des jüdischen Lebens in den USA erfuhren; einem Leben, das so ganz anderen Regeln folgt und sich weitgehend im selbstgewähltem Ghetto abspielt (eigene Interpretation der Aussagen wie auch des Buches). Mir ist, um das ganz vorsichtig zu formulieren, beim Lesen des Buches bewußt geworden, woher so manche Vorurteile und Ressentiments gegenüber den Juden kommen. Oder anders ausgedrückt: im Buch gewinnt man einen recht tiefen Einblick in das tägliche Leben „ganz normaler“ jüdischer Familien in den USA. Das läßt sich dann mit den eigenen Vorstellungen vergleichen und kann irgendwo zur Frage führen, ob man selbst so leben möchte.
Der deutsche Titel ist übrigens irreführend. Rabbi Kirshner stirbt erst sehr spät (im Buch), und sein „Vermächtnis“ nimmt nur einen kleinen Teil ein. Allerdings einen durchaus sehr wichtigen. Dabei ist er, wie auch einige andere Protagonisten, noch geprägt von der Erfahrung des Holocaust, der Flucht aus Deutschland. (Die Handlung setzt im Jahre 1976 ein.) Immer wieder taucht das auf, die Erinnerung daran, aber nicht zwanghaft, sondern als Teil der eigenen erlebten Geschichte (aus Sicht der Protagonisten), als etwas, das geschehen ist und mit dessen Folgen man nun auf die eine oder andere Art umgehen und leben muß. Rückwärtsgewandt oder vorwärtsgewandt.
Für mich hat das Buch erst auf den letzten dreißig Seiten seine volle Tiefe enthüllt. Erst mit Kenntnis der, teilweise banalen, Vorgeschichte, erst mit einem soliden, breiten Fundament wird deutlich, worauf die Autorin hinaus will: es ist der Konflikt Alt gegen Neu, Tradition gegen Moderne, Überkommenes gegen Veränderung - selbst gewählte Abschottung und Ghetto oder Integration in die Gesellschaft, nicht im Sinne von Aufgehen in, Aufgeben der eigenen Identität, sondern verändern der eigenen Lebensweise, die das Überkommene da erhält, wo es sinnvoll ist und das „Andere“ der Umgebung da annimmt, wo es sinnvoll ist. Es geht um das, was die Eltern von uns erwarten, was sie für ein Leben für uns wünschen, und den eigenen Wünschen an das Leben, der Verwirklichung eigener Pläne und Vorstellungen, selbst wenn diese den Vorstellungen der Eltern zuwider laufen. Letztlich geht es um das Freischwimmen von von außen aufgelegten Beschränkungen, woher diese auch immer kommen mögen. Ein Buch also mit einem sehr vielschichtigen Inhalt, das sich mMn erst bei mehrmaligem Lesen erschließt.
Nicht immer, wenn über ein Buch gesagt wird: „ein wichtiges Buch“, habe ich einer solchen Aussage folgen oder ihr zustimmen können. Vielleicht weil solches eine sehr subjektive Einschätzung ist. Genau so subjektiv wünsche ich diesem Buch viele Leser, denn ich halte es in der Tat für ein wichtiges und überaus lesenswertes Buch.
Kurzfassung:
Langsam entfaltet sich das Leben einer jüdischen Gemeinde, die Winters in New York, Sommers in den Bergen lebt. Im Konflikt zwischen Tradition und Moderne müssen die Protagonisten ihren Weg suchen, und hoffentlich auch finden. Für mich ein überaus gutes Buch, dem sehr bald ein Zweiter und Dritter Lesedurchgang folgen wird.
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