'1984' - 2. Teil - Kapitel 06 - 10

Die tiefgreifenden System-Arbeiten sind soweit abgeschlossen. Weitere Arbeiten können - wie bisher - am laufenden System erfolgen und werden bis auf weiteres zu keinen Einschränkungen im Forenbetrieb führen.
  • O´Brien lädt Winston zu sich nach Hause ein, woraufhin letzterer sich in seiner Annahme bestätigt sieht, O´Brien sei ebenfalls ein Parteigegner und wohl Mitglied der Widerstandsbewegung. Winston und Julia, die sich bewußt sind, welches Ende zwangsläufig auf sie wartet, suchen O´Brien auf und geben sich ihm ziemlich naiv nur auf Grundlage eines einstiges Blickkontaktes als Regimefeinde zu erkennen. In weiterer Folge spielt ihnen O´Brien ein Exemplar von Goldsteins Buch zu, aus dem Winston nun erfährt, wie sich die Partei an der Macht hält; auch sonst werden seine Vermutungen bestätigt. Zum Schluß des Abschnitts werden die beiden festgenommen, offenbar hatte man sie schon länger im Visier.


    Die gesellschaftstheoretischen Abschnitte sind interessant und liefern einiges an Hintergrundwissen zu Ozeanien und dem Engsoz, sind aber auch etwas zu ausführlich geraten. Hier wird mir Orwell ein wenig zu schulmeisterlich, er hätte seine politische Botschaft (Warnung vor jeglichem Totalitarismus) etwas subtiler vermitteln können.
    Weiters erstaunte mich die Naivität, mit der sich Winston und Julia dem inneren Parteimitglied O´Brien anvertrauen, auf bloßer Grundlage einer mehrdeutigen Aussage und eines vermeintlich übereinstimmenden Blickkontaktes. In Zeiten der Spitzel und Gedankenpolizei und der ständigen Bedrohung ist ein solches Vorgehen schon erstaunlich gewagt; am Ende scheint die Situation aussichtslos, die erwartete Entlarvung der beiden Regimefeinde tritt ein.

  • Das vertrauen, das Winston und Julia O'Brien nur auf Grund eines Blickes und einer mehr als zweideutigen Nachricht entgegen bringen ist wirklich sehr naiv. Die Festnahme der beiden scheint von langer hand geplant zu sein, der nette Vermieter ist keiner der Proles, sondern ein Mitglied der Gedankenpolizei. Aber wieso hat die Partei so lange gewartet die beiden zu verhaften?

  • Ein großer Teil dieses Abschnittes befasst sich mit dem Buch von Goldstein und vieles was wir dort erfahren ist schon im ersten Teil des Buches beschrieben worden. Das hätte man gut und gerne um die Hälfte, eher mehr, einkürzen können.


    So bekommt man auch die Buchseiten gefüllt.
    Punktabzug auf jeden Fall für diesen Teil des Buches.
    Ich habe mich wirklich durchquälen müssen.


    Ruhrmaus

  • hinsichtlich der einkürzungen stimme ich zu.
    was die naivität betrifft, ebenfalls. aber ich kann mir gut vorstellen, dass es in derartigen fällen der drängende WUNSCH ist, vertrauen zu können, welcher das (eigentlich angebrachte) misstrauen unterdrückt.

    Mögen wir uns auf der Lichtung am Ende des Pfades wiedersehen, wenn alle Welten enden. (Der Turm, S. King)


    Wir fächern die Zeit auf, so gut wir können, aber letztlich nimmt die Welt sie wieder ganz zurück. (Wolfsmond, S. King)


    Roland Deschain

  • Ich fand die Abschnitte aus Goldsteins Buch sehr interessant. Sogar über die Grenzen der 3 Superstaaten konnte man etwas erfahren. Sehr viel Theorie, aber auch notwendiges Hintergrundwissen.


    Die erschreckendste Szene in diesem Abschnitt war für mich der Feindwechsel mitten in einer Kundgebung, ja mitten in einer Rede. Und das Parteivolk stellt sich mit dem Redner zusammen sofort darauf ein, nahtlos. Plakate werden mangels Aktualität heruntergerissen, Namen ausgetauscht - es ist einfach unglaublich!

  • Zitat

    Original von Zwergin
    ...Aber wieso hat die Partei so lange gewartet die beiden zu verhaften?


    Einfach, weil sie es können!
    Sie haben die Macht, die absolute Macht. Es ist wie die Katze, die mit der gefangenen Maus spielt, obwohl sie sie einfach schnappen könnte.
    Vielleicht hat es sie amüsiert, den beiden bei ihrem Scheinleben zuzusehen, vielleicht wollten sie noch Informationen abfangen. Ich tendiere zu ersterem.

  • Zitat

    Original von Clare


    ... Es ist wie die Katze, die mit der gefangenen Maus spielt, obwohl sie sie einfach schnappen könnte.
    ...


    ein sehr schönes, passendes bild!

    Mögen wir uns auf der Lichtung am Ende des Pfades wiedersehen, wenn alle Welten enden. (Der Turm, S. King)


    Wir fächern die Zeit auf, so gut wir können, aber letztlich nimmt die Welt sie wieder ganz zurück. (Wolfsmond, S. King)


    Roland Deschain

  • Zitat

    Original von Clare
    Die erschreckendste Szene in diesem Abschnitt war für mich der Feindwechsel mitten in einer Kundgebung, ja mitten in einer Rede. Und das Parteivolk stellt sich mit dem Redner zusammen sofort darauf ein, nahtlos. Plakate werden mangels Aktualität heruntergerissen, Namen ausgetauscht - es ist einfach unglaublich!


    Finde ich auch unglaublich - und das ist zur Zeit auch mein Problem mit diesem Buch:
    Es überzeugt mich nicht in dieser radikalen Darstellung ohne Zwischenstufen.
    Gut, vielleicht kann das alles funktionieren, weil die Menschen viel zu viel Angst haben um nicht selbst an diesen Fälschungen mitzuwirken, aber wozu der ganze Aufwand?
    Letztenendes scheint es sowieso keine Rolle zu spielen, gegen wen gerade Krieg ist.
    Und ich tendiere fast zu Julias Meinung, dass es diesen Krieg gar nicht gibt sondern Ozeanien die Bomben selbst abfeuert.
    Das würde auch erklären, warum sie anscheinend immer nur bei den Proles einschlagen.

  • Zitat

    Original von JuHu


    Finde ich auch unglaublich - und das ist zur Zeit auch mein Problem mit diesem Buch:
    Es überzeugt mich nicht in dieser radikalen Darstellung ohne Zwischenstufen.
    Gut, vielleicht kann das alles funktionieren, weil die Menschen viel zu viel Angst haben um nicht selbst an diesen Fälschungen mitzuwirken, aber wozu der ganze Aufwand?...


    Menschen, die in Angst und Unwissenheit bzw. nur mit gefilterten Informationen leben, sind leichter zu kontrollieren. Es gibt nur zwei Möglichkeiten: entweder mitmachen, mitfälschen oder zumindest nach außen hin so tun, als sei man überzeugt bei der Sache oder sich auflehnen, verweigern und dafür in den Knast gehen, Repressalien an der eigenen Familie, an Freunden riskieren, vaporisiert werden...


    Einziges Ziel ist der Machterhalt der herrschenden Klasse.


    Sicher, im Buch ist alles fiktiv und überspitzt dargestellt. Orwell wollte auch schockieren, irritieren, aufrütteln.


    Edit sagt: vertipp dich nicht :rolleyes

  • Ich denke, es geht in diesem Abschnitt außerdem um die Darstellung der Sinnlosigkeit jeder Art von Krieg. Man weiß nicht, ob Krieg herrscht, wer gegen wen kämpft und warum. Ziel allein scheint die Beschäftigung der Bevölkerung zu sein, um sie von den eigenen Missständen und Problemen abzulenken und dem Aufstand gegen das System vorzubeugen. Die Absurdität gipfelt in dem Satz "Krieg ist Frieden".
    Die Ausführungen zu Goldsteins Buch, wenn auch interessant, sind meiner Meinung nach etwas zu lang geraten.

  • Mir waren die Ausschnitte aus Goldsteins Buch nicht zu lang. Ich fand das enthaltene Hintergrundwissen sehr interessant, und an manchen Stellen war auch gar nicht mehr so richtig klar, welche Seite das Buch denn geschrieben hat. Stellenweise hätte es auch ein Buch der Partei sein können :gruebel


    Winston trägt das Buch lange mit sich herum, hat ja auch keine Gelegenheit, es an einem sicheren Ort unbeobachtet zu lesen. Er hätte 1000 mal entdeckt werden können, kompromittiert allein durch den Besitz dieses Buches.


    Die Naivität von Winston und Julia ist haarsträubend. Gerade sie, die doch so vorsichtig sind vertrauen z.B. auf die Sicherheit ihres Zimmers. Vielleicht war ihnen unbewusst aber auch klar, dass es nur eine Frage der Zeit sein würde, bis sie entdeckt werden, ganz egal wo. Trotzdem ist die Festnahme ein Schock, das plötzliche Auftauchen der Stimme im Raum :yikes

  • Zitat

    Original von Clare


    Vielleicht war ihnen unbewusst aber auch klar, dass es nur eine Frage der Zeit sein würde, bis sie entdeckt werden, ganz egal wo.


    Nicht nur unbewußt, sondern vollkommen bewußt. Die beiden unterhalten sich ja auch im Vorfeld darüber, daß sie früher oder später geschnappt werden würden und wie es ihnen dann erginge. Da geben sie sich keinen Illusionen hin, täuschen sich aber in einem Aspekt, wie der Rest des Buches zeigt.

  • Die Verhaftung von Julia und Winston findet genau dann statt, als Winston erkennt, daß die Initiative für eine Revolution nur von den Proles ausgehen kann und bei ihnen die eigentliche Chance auf Freiheit liegt. Ein Gedanke also, der im Sinne der Partei definitiv nicht weitergedacht werden darf.
    Den beiden war von Anfang an klar, welche Konsequenzen ihr Zusammensein haben kann, sie haben ja geradezu auf ihre Abholung gewartet (Zit.: Endlich ist es soweit.)

  • Zitat

    Original von mankell


    Nicht nur unbewußt, sondern vollkommen bewußt. Die beiden unterhalten sich ja auch im Vorfeld darüber, daß sie früher oder später geschnappt werden würden und wie es ihnen dann erginge. Da geben sie sich keinen Illusionen hin, täuschen sich aber in einem Aspekt, wie der Rest des Buches zeigt.


    Ich weiß schon, dass sie darüber gesprochen haben. Aber hofft man nicht trotzdem immer wieder oder wiegt sich in trügerischer Sicherheit, wenn lange nichts passiert?

  • Zitat

    Original von Clare


    Ich weiß schon, dass sie darüber gesprochen haben. Aber hofft man nicht trotzdem immer wieder oder wiegt sich in trügerischer Sicherheit, wenn lange nichts passiert?


    Ich hatte auch das Gefühl, dass die beiden die Hoffnung hatten, dass ihnen nichts passiert, zumindest nicht so bald. Sie haben die Treffen ja lange Zeit arrangieren können ohne dass es schien, dass die beiden in Gefahr waren. Obwohl sie darüber geredet haben, dass sie eines Tages gefasst werden, schien es für die beiden doch noch in ferner Zukunft zu liegen.
    Die Naivität der beiden ist aber seltsam. Als die beiden sich noch im Wald getroffen haben, hat Julia ja noch geschaut, dass keine Mikros und Abhörgeräte in den Bäumen versteckt waren. Das Zimmer allerdings haben sie kaum untersucht. Das Gemälde wurde ja immer wieder mal explizit erwähnt und doch sind die beiden nicht auf die Idee gekommen, das Gemälde genauer zu untersuchen.Die beiden wissen ja auch, dass sie immer beobachtet werden können von der Partei und der Gedankenpolizei.


    Ich persönlich war aber auch überrascht, dass Charrington ein Mitglied der Gedankenpolizei ist. Dass die Beziehung zwischen Winston und Julia nicht gut ausgehen wird, war absehbar, aber dass ausgerechnet Charrington die beiden beobachtet, kam für mich überraschend.
    Auch wenn man es sich wahrscheinlich hätte denken können :gruebel


    Die erschreckenste Szene war am Ende, als Winston und Julia beide nacheinander sagen: "We war the dead" und dieser Satz plötzlich von einer metallischen Stimme ("iron voice") hinter ihnen wiederholt wird. Das gleiche ist ja auch der Fall bei den anderen Sätzen, die die beiden darauf sagen.


    Die Auszüge aus Goldsteins Buch waren mir auch etwas zu langatmig. Sie waren notwenig, um mehr Hintergrundwissen zu erlangen, aber Orwell hätte das ruhig ein wenig kürzen können :grin


    Julia ist mir in dem Teil auch nicht sympathischer geworden. Es ist komisch, dass sie einschläft, während Winston ihr aus Goldsteins Buch vorliest, obwohl sie doch gegen die Partei ist. Da sieht man, wie desinteressiert sie in Wirklichkeit doch ist :gruebel
    Aber darüber hatten wir es ja schon im Thread zu Kapitel 1 bis 5 des 2. Teils.

    Von allen Welten, die der Mensch erschaffen hat, ist die der Bücher die Gewaltigste. (Heinrich Heine)


    :lesend Jeffery Deaver: Allwissend

  • Zitat

    Original von Clare


    Ich weiß schon, dass sie darüber gesprochen haben. Aber hofft man nicht trotzdem immer wieder oder wiegt sich in trügerischer Sicherheit, wenn lange nichts passiert?


    Natürlich gibt es so etwas wie einen menschlichen Selbstschutzmechanismus, der einen selbst dann hoffen läßt, wenn die Indizien in eine ganz andere Richtung weisen, zB bei Krankheiten.
    Aber ob Winston und Julia sich tatsächlich Hoffnungen hingegeben haben, es könnte immer so weitergehen? Ich denke, wenn man in einer solchen Umgebung in einem totalitären Regime, wo ständig Leute schon wegen Kleinigkeiten auf Nimmerwiedersehen verschwinden, lebt, wird man rasch desillusioniert und rechnet mit dem Schlimmsten, auch wenn man natürlich über jeden Tag Aufschub froh ist.

  • Zitat

    Original von bücherwurm2612
    Julia ist mir in dem Teil auch nicht sympathischer geworden. Es ist komisch, dass sie einschläft, während Winston ihr aus Goldsteins Buch vorliest, obwohl sie doch gegen die Partei ist.


    Ich denke, Julias Protest im Kleinen, nämlich dort, wo sie sich selbst eingeschränkt fühlt durch die Parteilinie (zB im Bereich Sexualität) sowie ihr Desinteresse an allem Weiterführenden soll ein Sinnbild sein der Einstellung vieler Menschen - solange´s mich nicht unmittelbar betrifft, ist es mir wurscht. Es gibt ja auch heute genügend Leute, die sich null für das politische Tagesgeschehen interessieren (solange keine Belastungwelle ansteht, die sie ja auch erfassen würde) oder nichts kritisch hinterfragen, was ihnen medial vorgesetzt wird.

  • Zitat

    Original von bücherwurm2612
    ...
    Die Naivität der beiden ist aber seltsam. Als die beiden sich noch im Wald getroffen haben, hat Julia ja noch geschaut, dass keine Mikros und Abhörgeräte in den Bäumen versteckt waren. Das Zimmer allerdings haben sie kaum untersucht. Das Gemälde wurde ja immer wieder mal explizit erwähnt und doch sind die beiden nicht auf die Idee gekommen, das Gemälde genauer zu untersuchen.Die beiden wissen ja auch, dass sie immer beobachtet werden können von der Partei und der Gedankenpolizei.
    ...


    Das fand ich auch seltsam, zumal Orwell ja eigentlich fast schon auf das Bild hinweist. Immer wieder geht es um diesen Kinderreim über die Glocken der Kirchen, den Winston in mühsamer Kleinarbeit Stück für Stück von verschiedenen Leuten ergänzt bekommt, z.B. auch von Charrington. Und dann hängt da im Zimmer ein Bild, das genau dazu zu passen scheint. Man sollte nicht glauben, dass Winston nach allem, was er täglich erlebt, noch an Zufälle glaubt.


    Zitat

    Original von mankell


    Natürlich gibt es so etwas wie einen menschlichen Selbstschutzmechanismus, der einen selbst dann hoffen läßt, wenn die Indizien in eine ganz andere Richtung weisen, zB bei Krankheiten.
    Aber ob Winston und Julia sich tatsächlich Hoffnungen hingegeben haben, es könnte immer so weitergehen? Ich denke, wenn man in einer solchen Umgebung in einem totalitären Regime, wo ständig Leute schon wegen Kleinigkeiten auf Nimmerwiedersehen verschwinden, lebt, wird man rasch desillusioniert und rechnet mit dem Schlimmsten, auch wenn man natürlich über jeden Tag Aufschub froh ist.


    Auch Selbstschutzmechanismus, aber nicht nur.
    Ich denke, es gibt den Punkt, wo die beiden leichtsinnig geworden sind oder besser nachlässig, weil sie ständig unter der Anspannung stehen, erwischt zu werden und es ja so wie so passieren wird. Es gibt immer so einen Moment, wo die Aufmerksamkeit nachlässt, einfach weil kein Mensch immer wachsam sein kann, auch nicht unter diesen Lebensbedingungen, wo Verfolgte sich "nur kurz" hinlegen zum Ausruhen, wo Verstecke nicht richtig durchsucht werden, einfach aus einer Art Erschöpfung heraus.