Helmut Krausser - Einsamkeit und Sex und Mitleid

  • Titel: Einsamkeit und Sex und Mitleid
    Autor: Helmut Krausser
    Verlag: DuMont Buchverlag
    Erschienen: August 2009
    Seitenzahl: 224
    ISBN-10: 3832180923
    ISBN-13: 978-3832180928
    Preis: 19.95 EUR


    Das sagt der Klappentext:
    Vincent ist Callboy, aber an Weihnachten sitzt er alleine in der Kneipe. Als die dichtmacht, lässt er sich zu Hause eine Badewanne ein. Beim Einsteigen wird er von einer Einbrecherin überrascht. Die beiden freunden sich an.
    Helmut Kraussers neuer Roman bringt zusammen, was nicht zusammengehört: Die unterschiedlichsten Menschen streifen durch Berlin, begegnen sich, kommen einander nah - immer auf der Suche nach dem Glück. Helmut Krausser verknüpft ihre Geschichten zu einem Netz, aus dem es kein Entkommen gibt.
    Ein Kind wird entführt, eine mitternächtliche Hochzeit improvisiert, ein Genickschuss erkauft, der Prophet Jesaja predigt auf dem Kreuzberg und alles ist auf ungeahnte Weise miteinander verbunden.' Einsamkeit und Sex und Mitleid' spielt auf der Klaviatur des scheinbaren Zufalls, mischt Melodram, Ironie, Suspense und Lakonik zu einem bizarren Panorama, zu einem überwältigenden Kaleidoskop des Lebens.


    Der Autor:
    Helmut Krausser, geboren 1964 in Esslingen war u. a. Spieler, Nachtwächter, Zeitungswerber, Opernstatist, Sänger in einer Rock`n`Roll-Band und Journalist. (Halb-)freiwillig verbrachte er ein Jahr als Berber. Nebenbei studierte er provinzialrömische Archäologie. er schrieb Erzählungen, Theaterstücke und ein Opernlibretto.


    Meine Meinung:
    Daniel Kehlmann bezeichnete diesen Roman von Helmut Krausser in der FAZ „als das witzigste deutsche Buch des Jahres“. Vielleicht hätte Kehlmann das Buch auch lesen sollen, denn witzig war es nun eigentlich gar nicht. Es war skurril, an manchen Stellen sehr abgefahren und auch eine kleine Portion Satire trug zum Gelingen dieses Buches bei. Aber „witzig“ ist nun wahrlich etwas anderes.
    Dieses Buch besteht aus mehreren Handlungssträngen und aus mehreren Episoden und das Besondere daran sind die schnellen Schnitte, die die Handlung in einem rasanten Tempo vorantreiben. Alles scheint isoliert, aber alles findet dann irgendwann doch zueinander. Krausser schreibt so, dass man wirklich Schwierigkeiten hat dieses Buch aus der Hand zu legen. Er schildert die Zufälle so, als seien sie Teile eines großen Ganzen. Oder sind es vielleicht gar keine Zufälle. Tiefsinniges und Primitives verbinden sich zu einer wirklich gelungenen Mischung. Gewiss ist dieses kein alltäglicher Roman, ganz im Gegenteil. Es ist ein Roman der immer wieder zeigt, wie absonderlich die Menschen sind, wie absonderlich doch eigentlich die ganze Gesellschaft ist. Menschen auch als Gefangene ihres eigenen Denkens und ihrer eigene Gefühle, die große Schwierigkeiten haben ihre Gefühle und ihr Denken Dritten zu offenbaren. Gerade auch durch die Überzeichnungen der Charaktere schafft es Krausser sie so zu beschreiben, wie sie wohl in diese Romanrealität passen. Ein interessantes Leseerlebnis geht nach 224 Seiten zu Ende – mehr wäre hier in jedem Falle weniger gewesen. Der Autor beendete das Buch dort, wo es eben auch beendet werden musste. Durchaus lesenswert.

    Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst. (Evelyn Beatrice Hall)


    Allenfalls bin ich höflich - freundlich bin ich nicht.


    Eigentlich mag ich gar keine Menschen.

  • Eine schöne Rezi zu einem Buch, das sich, wie es scheint, aus der Masse der Druckerzeugnisse abhebt. Da ich immer auf der Suche nach solchen Büchern bin, kommt es gleich auf die WL. Danke!

  • Kurzinhalt: Verschiedene Menschen in Berlin auf der Suche nach Liebe oder Sinn in ihrem Leben: ein Callboy verliebt sich in eine Hure, ein Ex-Lehrer begegnet einer Tresenkraft, eine Göre kann sich nicht zwischen Jesus-Freak und Araber entscheiden, ein Unternehmer hat eine Geliebte, die ihn jung hält, und eine Frau, die Geheimnisse vor ihm hat, eine Tänzerin hat ein Blind Date mit einem Karstadt-Marktleiter, ein junges Mädchen wird entführt und wieder freigelassen …


    Wie der Inhaltsangabe zu entnehmen ist, handelt es sich bei Helmut Kraussers "Einsamkeit und Sex und Mitleid" um einen Episodenroman mit einer Unzahl von handelnden Figuren, von denen nicht eine einzige als zentraler Protagonist zu bezeichnen wäre. Der Autor legt seinen Roman als Sammelsurium von Schnipseln, Ausschnitten, Episoden, Fragmenten und Erzählfetzen an und lässt die verschiedenen Stränge immer wieder zusammentreffen, indem die Figuren sich über den Weg laufen oder in den jeweils anderen Handlungsfäden kleinere Rollen spielen. Dabei gibt es manchmal Überraschendes oder Unerwartetes, aber manchmal auch Banales und Beliebiges.
    Neben der episodenhaften Erzählweise ist es vor allem die Erzählhaltung und der Gestus, der an dem Roman auffällt. Die zahlreichen Geschichten und Geschichtchen werden sehr skurril, böse, markant oder bissig erzählt, oft ins Groteske tendierend, wie ein ernst gemeinte Farce. Dabei ist auffällig, wie sehr sich der Autor in dieser Haltung gefällt. Das Rotzige, Anti-Bürgerliche, Krude und Sex-Fixierte wirkt wie eine Attitüde, wie eine Masche. Von all den Figuren, die den Roman regelrecht überschwemmen, wirkt nur das frühreife und pubertätsverstörte Gör Swentja lebendig und echt, alle anderen erscheinen aufgesetzt und gewollt. Bemüht und überzogen.

  • Handlungsort ist Berlin der heutigen Zeit. Krausser beschreibt unabhängig voneinander etliche Figuren. Als da wären:


    - Vincent, der in einem Escort-Service, bzw. als Edel-Callboy arbeitet
    - Ekki, der Lateinlehrer, der mit 50 in den vorzeitigen Ruhestand geschickt wurde aufgrund unbegründeter Verdachtsmomente, er habe eine Schülerin sexuell belästigt
    - Uwe König, Filialleiter der Lebensmittelabteilung im Karstadt, der an Heiligabend von seiner Frau vor die Tür gesetzt wird
    - Dr. Thomas Stern mit seiner Sektretärin Carla, die gleichzeitig auch seine Geliebte ist
    - Swentja, ein fünfzehnähriges Mädchen, das einen türkischen und einen christlichen Verehrer hat
    - Janine, von Beruf Tänzerin, die nun verbittert als Tanzlehrerin arbeitet und schwermütig auf die Zeit als Primaballerina zurückblickt


    Die Figuren werden interessant und teilweise sogar recht amüsant eingeführt. Mit Fortschreiten des Romans ergeben sich immer mehr Berührungspunkte zwischen den Personen und das Netz, das sie miteinander verbindet, wird dichter.


    Es liest sich flüssig und schnell und macht Spaß. Allerdings habe ich im Vergleich zu "Der große Bagarozy" das besondere Etwas in der Sprache vermisst. Hätte ich beide Bücher "blind", d. h. ohne Angabe des Autors zu lesen bekommen, ich hätte vermutlich nicht erkannt, dass ein und derselbe Autor dahinter steckt.


    Mir hat es gefallen, weil das Buch spritzig und sehr "heutig", geradezu auf Sneakersohlen daherkommt. Bestimmt nicht mein letztes Buch von Krausser!

  • Das ist eines dieser Bücher, denen ich nach den ersten Sätzen bereits verfallen war. Ich habe Gestern am späten Nachmittag damit angefangen, um es dann um drei Uhr nachts widerwillig aus der Hand zu legen, weil mir die Augen zufielen. Ich habe es auf dem Weg zur Arbeit gelesen, in der Frühstückspause, grade eben in der Bahn die letzte Seite.


    Helmut Krausser erzählt Geschichten von Personen in Berlin, deren Tun und Handeln manchmal lose, manchmal enger verstrickt sind.


    Da ist zum einen der Edelcallboy Vincent, der seine Kundinnen auf Abruf so ziemlich jeden Dienst anbietet, außer seinem Ejakulat. Weil er das seiner Freundin, der Gelegenheitshure Vivian, versprochen hat. Die wiederum kommt nicht mit den Körpersäften ihrer Freier in Berührung, um ihre Liebe zu Vincent rein zu halten.


    Die unter einer Spasmen auslösenden Krankheit leidende Tänzerin aus Darmstadt, die nach Berlin zieht, um dort einen Neuanfang als Tanzlehrerin zu starten und dem Marktleiter Uwe sexuell verfällt, der widerum von seiner Frau verlassen wurde, die sich gerne mal am Wochenende einen Callboy leistet.


    Der ehemalige Lateinlehrer Ekki, der von einer fünfzehnjährigen Göre Sventja aus dem Job gekegelt wurde und der schwarzen Kellnerin Minnie am Weihnachtsabend seinen Soulmate findet.


    Und so weiter. Die Geschichte wimmelt nur so von skurillen, lebendigen Protagonisten, die alle gleichwertig liebenswert, abartig, nervig, merkwürdig sind. Allerdings sollte man dem Blurb auf dem Buchrücken nicht glauben.


    Das witzigste deutsche Buch des Jahres - Daniel Kehlmann


    Nein. Es ist nicht witzig. Es ist kurzweilig und unterhaltsam, lässt einen manchmal schmunzeln, aber es ist ganz gewiss nicht witzig. Die Figuren berühren sich alle im Laufe der hinreißend erzählten Geschichte, sind manchmal eng aneinander oder gar verwoben, könnten aber einsamer nicht sein. Und in dieser Einsamkeit liegt auch tiefe Tragik. Und mehr Mitleid könnte man deswegen mit ihnen nicht mehr haben. Wir alle sind eigentlich allein. Und manchmal kommt man sich näher und berührt sich und vor lauter Erschrockenheit darüber sucht man die Flucht in die Einsamkeit. Und ja- Sex gibt es auch und der ist gut.


    Ein wunderbares Buch, passend zu dieser kalten, grauen Jahreszeit in Berlin. Ich liebe jeden einzelnen Satz und bedanke mich herzlich für dieses Leseerlebnis. Es hätte nochmal in der gleichen Länge weiter gehen können, mich hätte es nicht gelangweilt. Mein erstes Buch dieses Autors. Wahnsinn!

    Ailton nicht dick, Ailton schießt Tor. Wenn Ailton Tor, dann dick egal.



    Grüße, Das Rienchen ;-)

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  • Ein Kleinod


    Natürlich ist man versucht, den an die erste Zeile der Nationalhymne angelehnten Titel wortspielerisch zu missbrauchen: "... sind des Peches Unterpfand" oder ähnlich. Tatsächlich aber geht es in diesem Buch nicht um so simple und kaum greifbare Kategorien wie Glück oder Pech, sondern um Begehrlichkeiten, Träume, Wünsche und diesen bei Scharlatanen so beliebten Begriff "Selbstverwirklichung" - unterm Strich also: Das Leben. Und darum, was das Leben mit einem macht. Denn so herum funktioniert es meistens, und nicht etwa umgekehrt, wie wir alle glauben wollen.


    Es beginnt irritierend und bleibt das auch über weite Strecken. Krausser erzählt von einem Typen, bei dem eingebrochen wird, dann von einem Ehepaar, dessen spontane Trennung von der Gattin ausgerufen wird, anschließend von einem fünfzehnjährigen Mädchen, von dem sich ein kaum älterer arabischer Junge Oralsex wünscht, danach von einem mittleren Manager, dem auf der Bahnfahrt von Berlin nach Bielefeld die Sneakers geklaut werden. Und so weiter. Jeweils personal, also aus Sicht und im Duktus der Hauptfigur der Episode, reiht der Autor in enormer Taktung Ereignisse aneinander, skizziert eine Flut von Personen, die jeweiligen Lebenssituationen, die soziale Verortung und all das. Wir bewegen uns durch die Lebensmittelabteilung von Karstadt, durch Kreuzberger Parks, Sozialbauwohnungen, Vorstadtvillen, Bahnhofsvorplätze und Kneipen.


    Die Schlagzahl in dieser Episodenerzählung ist hoch, die Wechsel folgen rasch, manchmal innerhalb weniger Sätze, um dann wieder etwas länger bei einer Figur zu verweilen. Nach und nach formt sich aus dem vermuteten Durcheinander etwas Strukturelles, lässt sich die Gemeinsamkeit erahnen, und am Ende gibt es die auch faktisch. Krausser verknüpft alle Handlungsstränge, überrascht mit einer subtil vorbereiteten Schlusspointe, und danach, am Ende der rasanten Tortur, kann man endlich durchatmen, um sofort wieder zu erstarren, weil einem klar wird, was da nicht direkt gesagt worden ist, aber gemeint war.


    Wow. So etwas habe ich schon lange nicht mehr gelesen. Ja, mag sein, dass der kleine König Zufall hin und wieder zu regieren versucht hat, aber wer das als Kriterium ansetzt, hat die Sache nicht verstanden. Äußerst cool, äußerst lässig - vor allem literarisch -, und zugleich tiefgründig, rührend, schockierend, anschaulich. Packend erzählt, sauber konstruiert, da ist keine Zeile zu viel oder zu wenig. Ein Kleinod.

  • In meinem Bekanntenkreis überschlagen sich alle förmlich, die haben sich aber nicht die Mühe gemacht, das Buch zu lesen. Ich habe es dreimal gelesen und bin schon vom Trailer irgendwie... genervt. Erwartungen sind ohnehin eher niedrig.

    Ailton nicht dick, Ailton schießt Tor. Wenn Ailton Tor, dann dick egal.



    Grüße, Das Rienchen ;-)