Roman unserer Kindheit - Georg Klein

  • Kurzbeschreibung
    Ein scheinbar ewiger Sommer umfängt Neubaublöcke, amerikanische Kasernen, ein verlassenes Wirtshaus unter uralten Kastanien und die Laubenkolonie, wo die Kinder der Neuen Siedlung sich die großen Ferien vertreiben. Langsam, kaum merklich, sickert das Unheimliche ein: Ein Mord wird angekündigt, dann kommen die Boten, buchstäblich aus einer anderen Welt. Und es sieht aus, als könnten sie zumindest eines der Siedlungskinder auf die Nachtseite dieses Sommers hinüberziehen.


    meine Meinung


    Eine Bande von Kindern Anfang der 60er Jahre. Es ist der Beginn des Wirtschaftswunders, die Neue Siedlung ist sichtbares Zeichen, dass die Nachkriegsnot einem gewissen Wohlstand weicht, vereinzelt haben schon Telefon und Kühlschrank Einzug gehalten in die neuen Wohnungen. Auch wenn der vergangene Krieg noch allgegenwärtig ist, verleben die Kinder doch eine unbeschwerte Kindheit in dieser abgeschlossenen Welt, zwischen Schrebergartenkolonie, Tabak-Geistmann und dem Spielplatz im Wäldchen.
    Unbeschwert? Natürlich nicht. Da ist einmal der Ältere Bruder, der sich bei einem waghalsigen Fahrradmanöver die Ferse zerfetzt und deshalb im umgebauten Zwillingskinderwagen seiner kleinen Brüder durch den Sommer geschoben wird. Oder die Schicke Sybille, die sich mit ihrer zickigen kleinen Schwester und dem überstrengen Vater herumschlagen muss. Und dann sind da noch die Huhlenhäusler, diese Assibande aus dem türkisen Block, von denen nichts Gutes zu erwarten ist.
    In diesem Sommer, dem letzten ihrer Kindheit, die Jugend steht schon vor der Tür, geschehen plötzlich seltsame Dinge. Da tauchen seltsame Gestalten auf, ein Mann ohne Gesicht, es ist ihm im Krieg abhanden gekommen, ein Alter „der schon unter dem Knie aufhört“, er hat seine Füße im Krieg verloren, ein Blinder, der gekonnt aber dissonant das Bandonium spielt. Mysteriöse Dinge geschehen und schließlich landen die Kinder in einem haarsträubenden Abenteuer, in dem Geschichten und Wirklichkeit zu einem nicht mehr zu trennenden Paralleluniverum verschmelzen.


    Die Geschichte wird aus der Sicht eines geheimnisvollen, allwissenden Ich-Erzählers erzählt, der Gedanken und Tun der verschiedenen Protagonisten zu einem faszinierenden Gesellschaftsbild verwebt. Die Sprache ist die eines Kindes, sprunghaft, überraschend, originell, mit teilweise wunderbaren Wortschöpfungen. Diese Sprunghaftigkeit führt zwar zu teilweise gigantischen Schachtelsätzen, wie die Gedanken eben schweifen, die zu erfassen einiges an Konzentration erfordert. Aber wie oft kommt es schon vor, dass man bei der Lektüre eines Romans immer mal wieder denkt: „Was für ein schöner Satz!“


    Obwohl ich von diesem Buch vollkommen hingerissen bin, es sogar zu meinem bisherigen Jahreshighlight zählen würde, bin ich nicht sicher, ob ich es uneingeschränkt empfehlen kann. Ich vermute, der Leser braucht einen ganz bestimmten Resonanzboden, damit dieser Roman „schwingen“ kann. Denn obwohl in dieser Geschichte vieles rätselhaft ist, so manche Information nur als Andeutung daherkommt und die Bedeutung vieler Figuren bis zum Schluss unklar bleibt, riss mein Kopfkino keinen Augenblick lang ab, selbst die abstrusesten Wendungen schienen mir nachvollziehbar und folgerichtig, die vielen Perspektivwechsel zwingend.
    Wen aber der Ton der Geschichte nicht trifft, wen sie nicht mit Hut und Haaren in ihren Bann ziehen kann, wird sich wahrscheinlich sehr schnell fragen, was das alles soll. Trotzdem, einen Versuch ist dieses Buch auf jeden Fall wert.

    Menschen sind für mich wie offene Bücher, auch wenn mir offene Bücher bei Weitem lieber sind. (Colin Bateman)

  • Aufgrund deiner Rezi werde ich mir dieses Buch nun doch kaufen. Bisher habe ich immer geschwankt und schon sehr viele verschiedene Ansichten über dieses Buch gelesen. Deine Rezi aber habe ich als am fundiertesten empfunden, fundierter als die Rezis von so manchem Literatur-Profikritiker.


    Du hast es geschafft, mich sehr neugierig auf dieses Buch zu machen.


    Herzlichen Dank für diese Buchvorstellung. :wave

    Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst. (Evelyn Beatrice Hall)


    Allenfalls bin ich höflich - freundlich bin ich nicht.


    Eigentlich mag ich gar keine Menschen.

  • Vielen Dank für die Buchvorstellung.
    Der Autor, der für diesen Roman den Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Belletristik erhalten, ist aktuell auf Lesetour.
    Termin: Literaturhaus SH in Kiel, Schwanenweg 13,
    25.Mai 2010 um 20 Uhr


    Die Maitermine sind leider noch nicht auf der Webseite des Autors aktualisiert.


    Beworben wird der Lesetourroman als "dämonisch-phantastisches Buch mit autobiographischen Elementen". Derartige Beschreibungen lösen bei mir leider keinen Beuteschemareflex aus, egal ob es sich um einen Preisträger der Buchmesse handelt oder einen anderen x-beliebigen Autoren handelt.

  • Sorry, aber "dämonisch-phantastisches Buch mit autobiographischen Elementen" ist ja wohl ein echter Abturner :wow wer hat sich denn sowas ausgedacht?


    Der Roman ist phantastisch (zum Glück wusste ich das nicht vorher, ich hätte ihn sonst niemals gelesen), dämonisch-phantastisch aber nur unter einem ganz speziellen Blickwinkel. Eigentlich würde ich ihn eher als surrealistisch bezeichnen.


    Was die autobiografischen Elemente angeht: sicherlich hat der Autor eigenes Erleben verarbeitet, wie könnte man das auch vermeiden, vielleicht ist der größere Bruder sein Alter Ego, aber das ist völlig unwichtig. Es ist jedenfalls keines dieser belanglosen "Mein Jugend in der deutschen Provinz der 70er Jahre"-Romänchen, deren Anziehungskraft in erster Linie am Wiedererkennungseffekt durch entsprechend Geborene liegt und deren Witz sich meist nur aus der Rekapitulation damaliger Modesünden, Fernsehspots und obsoleter Tapetenmuster speist.
    Das hier ist ganz anders, die Darstellung der Kindheit ist authentisch, unabhängig vom "Zeitalter", auch wenn sie natürlich in eine zeitspezifische Umwelt eingebettet ist. Ich habe oftmals gedacht: so habe ich als Kind auch gefühlt, aber nie: solche Hosen hatte ich auch.


    Ähm, kann man das überhaupt verstehen :gruebel

    Menschen sind für mich wie offene Bücher, auch wenn mir offene Bücher bei Weitem lieber sind. (Colin Bateman)

  • Zitat

    Sorry, aber "dämonisch-phantastisches Buch mit autobiographischen Elementen" ist ja wohl ein echter Abturner Wow wer hat sich denn sowas ausgedacht?


    Das kommt nicht von mir. Manchmal merkt die Szene einfach nicht, dass sie das Gegenteil von dem bewirkt, was sie erreichen möchte.

  • Roman unserer Kindheit – Georg Klein


    Mein Eindruck:
    Als Georg Klein für diesen Roman den Leipziger Buchpreis gewann, war ich erstaunt, da ich frühere Texte von ihm als trocken und sperrig empfunden hatte. Davon findet sich hier aber nichts. Mit Roman unserer Kindheit hat Klein aber wirklich eine Form gefunden, die mich anspricht. Es werden viele amüsante oder verblüffende Episoden mit den Kindern in den frühen 60iger Jahren geschildert, die den Leser auch in seine Kindheit befördert, selbst wenn er aus einer anderen Generation stammt. Es bleibt aber auch geheimnisvolles an der Geschichte. So tauchen einig Gestalten auf, die nicht so direkt zur restlichen Geschichte gehören wollen. Zusammenhänge sind und bleiben unklar.


    Die rätselhafte Erzählperspektive funktionierte gut, hätte aber etwas weniger betont bleiben dürfen. Dennoch gehört die Erzählform auch zu der vom Autor gewählten Sprache, die durch ihre Originalität und ihren Wortwitz sehr überzeugt. Sehr lesenswert.

  • Nachdem DraperDoyle das Buch nochmal angepriesen hatte, habe ich es nun auch endlich gelesen. Alles in allem hat es mir besser gefallen, als ich nach den ersten Seiten vermutet hatte.
    Der Erzählstil aus der Sicht des allwissenden und rätselhaft anmutenden Ich-Erzählers und die vielen Handlungs- und Zeitsprünge haben etwas gewöhnungsbedürftiges, aber mit zunehmender (Lese)Zeit auch faszierendes an sich. Sehr schön beschrieben fand ich die Kindheit dieser jungen "Raufbande", allerdings wäre etwas weniger vielleicht mehr gewesen, insbesondere zum Ende hin. Das von DraperDoyle angesprochene Abenteuer war mir teilweise etwas zu fantastisch und langatmig.


    7/10 Punkte. :wave

    "Es gibt einen Fluch, der lautet: Mögest du in interessanten Zeiten leben!" [Echt zauberhaft - Terry Pratchett]