Kurzbeschreibung
Ein scheinbar ewiger Sommer umfängt Neubaublöcke, amerikanische Kasernen, ein verlassenes Wirtshaus unter uralten Kastanien und die Laubenkolonie, wo die Kinder der Neuen Siedlung sich die großen Ferien vertreiben. Langsam, kaum merklich, sickert das Unheimliche ein: Ein Mord wird angekündigt, dann kommen die Boten, buchstäblich aus einer anderen Welt. Und es sieht aus, als könnten sie zumindest eines der Siedlungskinder auf die Nachtseite dieses Sommers hinüberziehen.
meine Meinung
Eine Bande von Kindern Anfang der 60er Jahre. Es ist der Beginn des Wirtschaftswunders, die Neue Siedlung ist sichtbares Zeichen, dass die Nachkriegsnot einem gewissen Wohlstand weicht, vereinzelt haben schon Telefon und Kühlschrank Einzug gehalten in die neuen Wohnungen. Auch wenn der vergangene Krieg noch allgegenwärtig ist, verleben die Kinder doch eine unbeschwerte Kindheit in dieser abgeschlossenen Welt, zwischen Schrebergartenkolonie, Tabak-Geistmann und dem Spielplatz im Wäldchen.
Unbeschwert? Natürlich nicht. Da ist einmal der Ältere Bruder, der sich bei einem waghalsigen Fahrradmanöver die Ferse zerfetzt und deshalb im umgebauten Zwillingskinderwagen seiner kleinen Brüder durch den Sommer geschoben wird. Oder die Schicke Sybille, die sich mit ihrer zickigen kleinen Schwester und dem überstrengen Vater herumschlagen muss. Und dann sind da noch die Huhlenhäusler, diese Assibande aus dem türkisen Block, von denen nichts Gutes zu erwarten ist.
In diesem Sommer, dem letzten ihrer Kindheit, die Jugend steht schon vor der Tür, geschehen plötzlich seltsame Dinge. Da tauchen seltsame Gestalten auf, ein Mann ohne Gesicht, es ist ihm im Krieg abhanden gekommen, ein Alter „der schon unter dem Knie aufhört“, er hat seine Füße im Krieg verloren, ein Blinder, der gekonnt aber dissonant das Bandonium spielt. Mysteriöse Dinge geschehen und schließlich landen die Kinder in einem haarsträubenden Abenteuer, in dem Geschichten und Wirklichkeit zu einem nicht mehr zu trennenden Paralleluniverum verschmelzen.
Die Geschichte wird aus der Sicht eines geheimnisvollen, allwissenden Ich-Erzählers erzählt, der Gedanken und Tun der verschiedenen Protagonisten zu einem faszinierenden Gesellschaftsbild verwebt. Die Sprache ist die eines Kindes, sprunghaft, überraschend, originell, mit teilweise wunderbaren Wortschöpfungen. Diese Sprunghaftigkeit führt zwar zu teilweise gigantischen Schachtelsätzen, wie die Gedanken eben schweifen, die zu erfassen einiges an Konzentration erfordert. Aber wie oft kommt es schon vor, dass man bei der Lektüre eines Romans immer mal wieder denkt: „Was für ein schöner Satz!“
Obwohl ich von diesem Buch vollkommen hingerissen bin, es sogar zu meinem bisherigen Jahreshighlight zählen würde, bin ich nicht sicher, ob ich es uneingeschränkt empfehlen kann. Ich vermute, der Leser braucht einen ganz bestimmten Resonanzboden, damit dieser Roman „schwingen“ kann. Denn obwohl in dieser Geschichte vieles rätselhaft ist, so manche Information nur als Andeutung daherkommt und die Bedeutung vieler Figuren bis zum Schluss unklar bleibt, riss mein Kopfkino keinen Augenblick lang ab, selbst die abstrusesten Wendungen schienen mir nachvollziehbar und folgerichtig, die vielen Perspektivwechsel zwingend.
Wen aber der Ton der Geschichte nicht trifft, wen sie nicht mit Hut und Haaren in ihren Bann ziehen kann, wird sich wahrscheinlich sehr schnell fragen, was das alles soll. Trotzdem, einen Versuch ist dieses Buch auf jeden Fall wert.