Alles was du siehst - Stefan Beuse

  • Ich wusste nicht, in welche Kategorie ich dieses Buch einordnen sollte, da sich das Genre schwer festlegen lässt.



    Zum Inhalt


    Der Ghostwriter und Biograf Nathan reist aufgrund eines neuen Auftrages nach Ithaca. In der amerikanischen Universitätsstadt wurden Aufzeichnungen von einem Mann namens Aaron Singer gefunden, dessen Geschichte Nathan nun vervollständigen soll.
    Doch dieser Auftrag gestaltet sich schwieriger als erwartet: Professor Nunn, der vermeintliche Auftraggeber, holt Nathan zwar am Flughafen ab, gibt ihm jedoch vorerst keine genaueren Informationen. Stattdessen wirkt er schweigsam und distanziert.
    Anders verhält es sich mit den Bewohnern des Hauses, in dem der Ghostwriter während seines Aufenthalts untergebracht ist. Sie verhalten sich zwar alle etwas merkwürdig, nehmen den Gast aber wie selbstverständlich auf und sehen ihn vom ersten Tag an als Teil ihrer Gemeinschaft an.


    Nach und nach findet Nathan heraus, dass Aaron und seine Zwillingsschwester Lia zurückgezogen in einer Hütte im Wald lebten, um ihrem verwahrlosten Elternhaus zu entkommen.


    Parallel dazu wird die Geschichte von Ned erzählt. Er begegnet auf der Straße einer jungen Frau, die ihn sofort in ihren Bann zieht. Er kündigt daraufhin seinen Job und verbringt seine Tage von nun an auf einem Baum in ihrem Garten. Doch anstatt mit Kasey zu reden, beobachtet er sie Tag und Nacht und malt sich die schönsten Zukunftsträume aus, bis zu dem Tag, an dem die beiden in Kontakt treten.


    Was zunächst nach drei voneinander unabhängigen Schicksalen aussieht, verwebt sich Schritt für Schritt zu einer großen Geschichte, in der jede der Figuren eine bedeutende Rolle spielt…



    Stil und Umsetzung


    Ich bin beeindruckt – weniger von der Geschichte selbst als von dem wunderbaren Schreibstil. Stefan Beuse schafft auf knappen 175 Seiten eine so dichte und besondere Atmosphäre, dass man vollkommen in das Geschehen eintaucht, ohne zu merken, wie dabei die Zeit vergeht.


    Auf der einen Seite ist das Geschriebene äußerst spannend und mysteriös. Man erahnt hinter den Zeilen ein großes Geheimnis, kann es jedoch nie richtig greifen. Stattdessen verfolgt man gebannt die Ereignisse und rätselt immer wieder, was es mit den verschiedenen Personen und Situationen auf sich haben könnte. Dieser Teil der Handlung ähnelt mit seinen undurchsichtigen Charakteren und unheimlichen Vorfällen einem Psychothriller.


    Auf der anderen Seite steckt sehr viel Poesie zwischen den Zeilen. Gerade die Geschichte um Ned und Kasey wirkt sehr zart und bisweilen auch romantisch, ohne dabei ins Kitschige abzudriften. Man könnte diesen Teil also durchaus als Liebesgeschichte bezeichnen.


    Über all dem schwebt ein Hauch von Philosophie, die in sehr bildhaften Sequenzen zum Ausdruck kommt und trotz ihrer Nebenrolle eigentlich die Basis der Handlung bildet.


    Diese Vielfalt an Genreeinflüssen vermag den Leser zu fesseln, ohne dass die Sprünge verwirren. Die wechselnden Perspektiven nehmen einen auf ihre ganz eigene Art gefangen und lassen sich leicht auseinander halten, sodass man den einzelnen Schicksalen gut folgen kann.


    Zumindest zu Beginn, denn der Inhalt des Buches ist höchst rätselhaft. Immer wenn man glaubt, man habe des Rätsels Lösung, verschiebt sich wieder ein Puzzleteil. Besonders gegen Ende des Buches überschlagen sich die Ereignisse und sprunghaften Perspektivenwechsel, was mir persönlich ein wenig zu schnell ging. Stattdessen hätte ich mir eine langsamere Zusammenführung der Schicksale gewünscht, da man beim Zuklappen des Buches doch sehr verwirrt zurück bleibt und ein großes Fragezeichen in der Luft schwebt.
    Man muss erstmal wieder zu Atem kommen und die Geschichte gedanklich rekonstruieren, um deren Sinn nach und nach zu ergründen. Und selbst dann gibt es keine Garantie für eine unmissverständliche Lösung, was so manchen Leser etwas frustrieren könnte.


    Trotzdem haben die letzten Seiten auch etwas Positives: Durch das teils offene Ende bieten sich dem Leser viele Interpretationsmöglichkeiten, wodurch ganz persönliche Deutungen ihren Platz finden und einen das Buch auch lange nach dem Lesen nicht loslässt.


    Fazit


    „Alles was du siehst“ ist also ein Roman, dessen Wirkung noch lange nachhallt. Zwar kann einen das Ende sehr verwirren, doch allein wegen der wunderbaren Sprache lohnt sich die Lektüre.
    Meiner Meinung nach ist es nahezu unmöglich die Zusammenhänge direkt zu verstehen. Wer jedoch bereit ist, sich auf mysteriöse Geschichten und philosophische, manchmal realitätsferne Hintergründe einzulassen, kann sich hier gedanklich austoben.


    Alles in allem handelt es sich um ein sprachlich beeindruckendes Buch mit großer Sogkraft, das ich all jenen empfehle, die sich gerne in Büchern verlieren und Freude am Interpretieren haben.