8 ½ Millionen von Tom McCarthy

  • Der namenlose Erzähler wird eines Tages sprichwörtlich wie aus heiterem Himmel von einem nicht weiter spezifizierten Gegenstand getroffen, fällt ins Koma und wacht schließlich mit unzähligen gebrochen Knochen und einem geschädigten Gehirn wieder auf. Sein Anwalt teilt ihm mit, dass man einen Vergleich ausgehandelt hat: der Erzähler hat Stillschweigen über den Unfallhergang zu bewahren (kein Problem, denn er erinnert sich an nichts) und im Gegenzug zahlt ihm die ihm unbekannte verantwortliche Partei 8 ½ Millionen Pfund.


    Nun haben wir hier zwei typische Romanmotive, die die weitere Handlung bestimmen könnten. Wir haben hier zum einen eine Genesungsgeschichte. Ein Mann wacht aus einem Koma auf und muss das Leben von neu auf erlernen (vielleicht wie Harrison Ford in dem Film „Regarding Henry“). Diese Schwierigkeiten werden auch in diesem Roman sehr eindringlich beschrieben:


    Zitat

    „Laufen, zum Beispiel: das ist jetzt sehr kompliziert. Bei einem einzigen Schritt nach vorn sind fünfundsiebzig Manöver beteiligt, und jedes Manöver hat seinen eigenen Befehl. Ich musste sie alle lernen, alle fünfundsiebzig. Und wenn man jetzt denkt, Das ist doch nicht so schlimm: Wir alle mussten einmal laufen lernen; du musstest es eben zweimal lernen, dann liegt man falsch. Vollkommen falsch. Es ist doch so: Normalerweise muss man laufen überhaupt nicht lernen – nicht wie man schwimmen lernt oder Französisch oder Tennis...“


    Diese körperliche Rehabilitierung wird aber sehr schnell abgehakt und was bleibt ist die psychische Komponente und die Idee der Simulation von Realität. In diesem kurzen Auszug lernt der Erzähler sozusagen nicht das Laufen, sondern das Simulieren eines Laufvorgangs und so tragen sich diese Motive durch den weiteren Verlauf des Romans: nach seiner eigenen körperlichen Rekonstruktion konstruiert der Erzähler um sich herum eine neue Realität und seine Antriebsfeder ist die Suche nach Authentizität.

    Und da kommen ihm die 8 ½ Millionen Pfund gelegen. Auch hier gibt es nicht den typischen Verlauf. Es geht hier nicht um den unglücklichen Lotteriegewinner, dem alle nachstellen und der feststellt, dass er sich Glück nicht erkaufen kann. Zumindest nicht so vordergründig. Es gibt ein paar herrliche Szenen wie der Erzähler mit seinem neuen Börsenmakler über Anlageoptionen diskutiert, aber im Prinzip ist die einzige Funktion des Geldes in diesem Roman, dass der Erzähler alle zeitlichen und finanziellen Mittel hat, um Realitäten zu konstruieren. Und das sind zunächst einmal banale Realitäten. Auf einer Party bemerkt der Erzähler einen Riss in der Badezimmerwand, der ihn einen identischen Riss erinnert, den es einmal gab, und den er mit einer bestimmten Alltagssituation erinnert.


    Zitat

    „Plötzlich war mir vollkommen klar, was ich mit meinem Geld machen wollte. Ich wollte diesen Ort rekonstruieren und ihn betreten, damit ich wieder das Gefühl haben konnte, echt zu sein, wirklich.“


    Und das macht er dann auch. Er findet ein zu seiner Erinnerung passendes Mehrfamilienhaus, er kauft es für viel Geld, er heuert Architekten an und Schauspieler, die seine Nachbarn spielen und diese Alltagssituationen nachstellen sollen. Wenn er das Gebäude auf AN stellt, müssen die Schauspieler spielen, wenn er es auf AUS stellt, dürfen sie als einfache Bewohner des Gebäudes ihrem normalen Leben nachgehen. Es bleibt aber nicht beim Nachstellen von Banalitäten. Wie wäre es eine Schießerei nachzustellen? Oder einen Banküberfall? Der Erzähler steigert sich immer mehr in diese Sache und schließlich wird diese Idee zu einem Spiel von Leben und Tod, in der Realität und Fiktion immer mehr ineinander verschwimmen.


    Das ist in Literatur gegossene Performance-Art und also solche vielleicht nicht jedermanns Sache, aber der Roman ist genau nach meinem Geschmack. Die Zutaten sind die psychologische Präzision und die Kompromisslosigkeit eines J.G. Ballard, die Doppelbödigkeit eines Philip K. Dick, der theoretischen Vertracktheit eines Thomas Pynchon und der Originalität und sprachlichen Leichtigkeit eines Jonathan Lethems. Für mich ist der Autor die Entdeckung des Jahres bisher.


    Zum Autor: Tom McCarthy ist 1969 geboren und lebt in London. 8 ½ Millionen, im Original "Remainder", aus dem Jahr 2005 ist sein Debütroman und gewann 2008 den "Believer Book Award". Zadie Smith sagt über den Roman: "one of the great English novels of the last ten years". Eine Verfilmung des Buches ist in Arbeit. Er hat außerdem noch einen zweiten Roman geschrieben "Men in Space" (Übersetzung offenbar in Arbeit) und eine literaturtheoretische Abhandlung über Tintin "Tintin and the Secret of Literature" (erscheint im Juni auf deutsch im Blumenbar Verlag).


    ASIN/ISBN: 3037341874