Grüningers Fall. Geschichten von Flucht und Hilfe - Stefan Keller

  • Kurzbeschreibung
    Die große historische Reportage über den St. Galler Polizeihauptmann Paul Grüninger, der in den dreißiger Jahren, seinem Gewissen und nicht den Gesetzen folgend, zahlreichen Juden und Jüdinnen das Leben rettete.


    Pressestimmen:
    »Es passiert nicht alle Tage, dass ein Buch Regierungen zum Sinneswandel zwingt. So eines ist Grüningers Fall.« (Die Zeit)


    »Stefan Kellers erschienene Biografie von Paul Grüninger wurde in der Schweiz ein Bestseller und war entscheidend für die Kampagne, mit der die Ehre des Polizeihauptmanns wieder hergestellt worden ist.« (Los Angeles Times)


    »Kellers Buch löste einen öffentlichen Sturm aus. (...) Es zerstörte die Gerüchte über Grüningers angeblich unlauteres Verhalten und beschreibt ausführlich, auf welche Art und Weise viele der damals zuständigen Beamten mit den jüdischen Flüchtlingen umgingen.« (Peter Gumbel, The Wall Street Journal)


    Eigene Meinung:
    Zu diesem Buch habe ich - in gewissem Sinne - eine persönliche Beziehung. Ich bin in der Gegend aufgewachsen, von welcher in diesem Buch die Rede ist, in einem Dorf im st.gallischen Rheintal. Mit dem Fahrrad war ich in 1 Minute am Ufer des Rheins, der ungefähr von Bendern (Fürstentum Lichtenstein) an flussabwärts bis an den Bodensee die Grenze zieht zwischen der Schweiz und Oesterreich. Durch die Rheinkorrektur (abgeschlossen in den Anfangsjahren des letzten Jahrhunderts) wurde das Dorf Diepoldsau - jenes Grenzdorf, auf welches sich die Geschehnisse in diesem Buch konzentrieren - sozusagen von der Schweiz abgeschnitten, dort bildet nämlich der alte Flusslauf die Grenze.


    Mein Dorf liegt aber etwas weiter unten in Richtung Bodensee. In meinem Dorf gab es in meiner Kinderzeit noch eine schmale, gedeckte Holzbrücke, die über den Rhein führte, genau so eine, wie sie in einem der untenstehenden Links abgebildet ist. Ob es sich da um die Brücke unserers Dorfes handelt kann ich nicht sagen, denn es gab damals noch einige solcher Brücken über den Rhein. Auf der einen Seite der Brücke befand sich das schweizerische Zollhäuschen, auf der anderen Seite das österreichische.


    Ich kenne die meisten Grenzorte mehr oder weniger gut, von denen in diesem Buch die Rede ist, vor allem aber kenne ich jene Gegend zwischen Diepoldsau (CH) und Hohenems (A), dort wo eben der alte Rhein die Grenze bildet. Der alte Flusslauf wies einige Stellen mit niedrigem Wasserstand auf – und in diesem Gebiet haben während der Nazizeit Tausende von Flüchtlingen versucht ohne gültigen Ausweis/Visum in die Schweiz zu gelangen. Manchen ist die Flucht gelungen, manchen nicht. Wenn sie von den patroullierenden Grenzwachen erwischt wurden, dann wurden sie in den meisten Fällen wieder zurückgeschickt, viele davon in den sicheren Tod. Was diese Menschen dort erwartete, das musste den verantwortlichen Behörden nämlich aufgrund der Berichte schon recht bald klar geworden sein, welche die befragten Flüchtlinge zu Protokoll gaben. Ein Grossteil dieser sogen. "Juden-Dossiers" ist heute noch vorhanden und einsehbar. Einiges jedoch fehlt, vermutlich ein paar brisante Sachen in Falle Grüningers, denn vieles deutet darauf hin, dass der eine und andere seiner Vorgesetzten diese Rettungsaktionen billigte oder gar tatkräfig unterstützte. Jedoch ist keiner von denen letztlich zu ihm gestanden. Man hat ihn fallengelassen wie eine "heisse Kartoffel".


    Die erste grosse Flüchtlingswelle begann im Jahre 1938, als die Nazis in Oesterreich die Herrschaft übernahmen. Bei diesen Flüchtlingen handelte es sich in erster Linie um Menschen jüdischen Glaubens, die bis zu diesem Zeitpunkt relativ unbehelligt in Oesterreich gelebt haben. Aber es waren auch manche politisch Verfolgte darunter.
    Einer der Prominentesten, dem die Flucht via vorarlberisch-st.gallischer Grenze gelungen ist, das ist der Carl Zuckmayer. Er war aber nicht zu Fuss unterwegs, er überquerte die Grenze per Bahn. Ueber diese seine ganz persönliche Köpenickiade erzählt er in seinem Erinnerungsbuch ALS WÄRS EIN STÜCK VON MIR.


    Und nun zu Paul Grüninger, der Hauptperson dieses Buches. Paul Grüniger verbrachte seinen letzten Lebensabschnitt (ca. 25-30 Jahre) in demselben Dorf, in dem auch ich aufgewachsen bin. Auf meinem Weg zur Grundschule ist er mir bereits aufgefallen, dieser Mann mit dem ernsten, beinahe abweisenden Gesicht. Der schmallippige Mund mit den leicht nach unten gezogenen Mundwinkeln verlieh seinem Gesicht noch zusätzlich eine ganz besondere Tragik. Mich dünkt es rückblickend, als ob er immer alleine unterwegs gewesen wäre, ich kann mich nicht daran erinnern, dass er irgendwann mal mit irgendjemandem plaudernd zusammengestanden hätte.
    Ob wir Kinder ihn gegrüsst haben? Ob er zurück gegrüsst hat? Ich weiss es nicht mehr. Die Geschichten über ihn, die hinter vorgehaltener Hand kursierten, die habe ich damals wohl noch nicht verstanden…..erst viele Jahre später ist mir dann diesbezüglich „ein Licht aufgegangen“, konnte ich einigermassen einordnen, was der Paul Grüninger tatsächlich gemacht hat. Sein Name und seine Geschichte tauchten im Laufe der Jahre auch immer öfters in den Medien auf.


    Grüninger hat in seiner Funktion als Kommandant der St. Galler Kantonspolizei in den Jahren 38/39 vielen Menschen zur Flucht in die Schweiz verholfen, die Zahlen schwanken zwischen einigen Hundert und einigen Tausend. Er versuchte auf möglichst „legalem“ Wege die schweizerischen Einreisebestimmungen zu umgehen, diese Einreisebestimmungen änderten sich in jener Zeit alle Augenblicke, das zeitweilige undurchsichtige Chaos in der Rechtslage kam ihm dabei in vielen Fällen entgegen, in einigen Fällen aber hat er dann doch ganz eindeutig gegen die herrschenden Gesetze gehandelt, was ihm letztlich auch zum Verhängnis wurde. Er wurde auf der Stelle vom Dienst suspendiert, etwas später durch Gerichtsbeschluss entlassen. Rückwirkend wurden ihm sogar noch Lohnzahlungen aberkannt, er musste eine happige Geldbusse bezahlen, und das Recht auf eine Beamtenrente wurde gestrichen….


    Unglaublich, was dieser Mann in der Folge alles ertragen musste. Irgendjemand von behördlicher Seite wollte ihn gar in die Psychiatrie einweisen lassen, mit der Begründung, er wäre vermutlich nicht mehr im Besitze seiner geistigen Kräfte.
    Der Verlust der beruflichen Existenz (er hat nachher nie mehr eine Vollzeitstelle gefunden), dazu noch diese ganze Menge von erfundenen Geschichten und Anschuldigungen, die nie mehr so ganz aus den Köpfen der Menschen verschwanden: er sei durch das Einkassieren von Fluchtgeldern zum Millionär geworden, er hätte vor allem gutaussehenden Frauen geholfen, die ihm dafür sexuell zu Diensten sein mussten. Kein einziger dieser Vorwürfe konnte ihm nachgewiesen werden, in allen diesen Punkten wurde er vom Gericht freigesprochen.
    Diesen Anschuldigungen wurde auch von den geretteten Menschen vehement widersprochen. Manche von ihnen konnten erst Jahre später, nach dem Krieg, dazu Stellung nehmen, viele haben die Schweiz damals nur als Durchgangsland genützt, die meisten davon um nach Uebersee oder nach Palästina zu gelangen.


    Der Kampf um seine Rehabilitation, die von diversesten Seiten angestrebt und unterstützt wurde - von seiner Tochter, von jüdischen Verbänden, von SP-Nationalrat Paul Rechsteiner, uvm. – zog sich über Jahrzehnte hin.
    Erst im Jahre 1971, ein Jahr vor seinem Tod, hat sich die St. Galler Regierung zumindest mal dazu durchringen können, Grüninger für sein menschliches Verhalten zu gratulieren.
    Die eigentliche Rehabilitation erfolgte dann aber erst nach mehr als 20 Jahren nach seinem Tod, im Jahre 1993 die politische, im Jahre 1995 die juristische.


    Sein Wohnhaus sieht heute noch fast genauso aus wie damals, nur die Fassade wurde erneuert. Auch die anliegenden Häuser sind nicht gross verändert worden. Eine jener wenigen Ecken unseres Dorfes, die sich im Laufe des letzten ½ Jahrhunderts erhalten haben. An Grüninigers Wohnhaus wurde vor einigen Jahren eine Gedenktafel angebracht….


    Link zu einer Seite mit weiteren Informationen zur Geschichte Paul Grüningers (mit einem Bild von den typischen Holzbrücken jener Zeit)
    Link zu einer Seite, mit einem Foto von Grüninger, so wie ich ihn gekannt habe. Es ist das erste Foto auf dieser Seite und wurde ca. im Jahre 1960 aufgenommen.
    Link zu einer Seite, auf der ganz eindrücklich der alte gewundene und der neue gradlinige Rheinlauf zu sehen sind. Dazwischen das schweizerische Diepoldsau. Am oberen Bildrand die Schweiz, am unteren Bildrand Hohenems/A

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    Diese Plastik steht auf seinem Grab. (Friedhof Fluntern, Zürich)
    "An Joyces Grab verweht die Menschensprache." (Yvan Goll)

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  • Herzlichen Dank für diese sehr interessante Buchvorstellung. Ich habe es gleich einmal bestellt. Bin sehr gespannt auf dieses Buch. :wave

    Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst. (Evelyn Beatrice Hall)


    Allenfalls bin ich höflich - freundlich bin ich nicht.


    Eigentlich mag ich gar keine Menschen.

  • Das freut mich aber jetzt ganz besonders, Voltaire, dass Du Dich für dieses Buch, und das darin enthaltene Stückchen Schweizer Geschichte interessierst.


    Ich hoffe jetzt bloss, dass ich nichts durcheinander gebracht habe in meiner Rezi, denn dieses Buch über Paul Grüninger habe ich grad anschliessend an ein anderes, ein viel dickeres und ausführlicheres Buch mit beinahe derselben Thematik gelesen.


    Wenn Du Dich noch weitergehend über die Schweizerische Flüchtlingspolitik der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts, mit Schwerpunkt Nazizeit, informieren möchtest, dann kann ich Dir auch dieses Buch sehr empfehlen.
    Eine Flüchtlingspolitik welche von Bern aus bestimmt wurde, welche aber von den betroffenen Grenzkantonen kaum umgesetzt werden konnte, vor allem für die diensttuenden Grenzbeamten waren die Bestimmungen unglaublich belastend, alle diese um Einlass bittenden, verängstigten Menschen wieder zurück schicken zu müssen....


    In diesem Buch wird auch eingehender auf die Bedingungen/Bestimmungen eingegangen, welche diejenigen Flüchtlinge erwarteten, welche in der Schweiz aufgenommen wurden: ihre Unterbringungen, wer der Grossteil der Kosten für die Unterbringung diese Menschen übernommen hat, etc.
    Einiges ist da auch nachzulesen über Sidney Dreifuss, dem Vater unserer Ex-Bundesrätin Ruth Dreifuss, welcher zu jener Zeit Leiter der israelitischen Flüchtlingshilfe St. Gallen war...


    Sehr interessant sind auch die Erzählungen über diverse Hilfsorganisationen im Untergrund.....bei denen die div. Menschen mitgehofen haben, Hand in Hand gearbeitet haben, um Flüchtlingen über die Grenze zu helfen....


    Kurzbeschreibung
    Nicht nur Prominente wie Carl Zuckmayer, Walter Ulbricht oder Marschall Pétain gelangten während der Nazizeit nach St. Gallen: Fedora Curth etwa, Besitzerin einer kleinen Pension in Berlin, schwimmt durch den Rhein, darf in St.Gallen bleiben und entgeht so dem sicheren Tod. Der Kellner Hans Stricker aus Wien hingegen ist bereits gerettet, als er sich in eine St. Gallerin verliebt. Er wird deshalb wieder ausgewiesen und später in Auschwitz ermordet. Es sind zwei von über 40000 Flüchtlingsschicksalen aus dem Kanton St. Gallen. Jörg Krummenacher hat eine Gesamtdarstellung der St. Galler Flüchtlingspolitik von 1920 bis 1950 verfasst. Er erhielt exklusiven Zugang zu Akten, sprach mit vielen Zeitzeugen und fand bisher unbekannte Dokumente. Er legt dar, dass die Schweiz Zehntausende Flüchtlinge mehr aufnahm als bisher angenommen, aber auch, wie Familien mit Kindern ausgeschafft wurden. Die Brüche der Schweizer Flüchtlingspolitik treten nirgends so deutlich zutage wie im Kanton St. Gallen – im Guten wie im Schlechten.


    Über den Autor
    Jörg Krummenacher-Schöll, geboren 1960, begann seine journalistische Laufbahn als Auslandredaktor beim St.Galler Tagblatt. Er arbeitete als Zeitungs- und Radioredaktor und als freier Journalist u.a. für «Die Süddeutsche Zeitung», Geo, Du. Er ist Ostschweiz-Korrespondent der «Neuen Zürcher Zeitung» und lebt in St.Gallen.

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  • Gestern waren wir in jenem Dorf, in dem ich aufgewachsen bin, und wo Paul Grüninger 30 Jahre lang, bis zu seinem Tod gewohnt hat.
    Ich besuchte meine Pflegeeltern, die Mama im Altersheim und den Papa auf dem Friedhof.


    Auf demselben Friedhof befindet sich auch das Grab von Paul Grüninger.


    Was mich sehr verwundert hat, dass auf den Grabstein von Grüninger kein einziger Stein lag....denn Besucher jüdischen Glaubens legen bei ihren Besuchen einen kleinen Stein auf den Grabstein. Bei Grüninger müssten doch jede Menge Steine liegen....
    Beim Nachhausefahren sagte ich zu meinem Mann, dass vielleicht irgendjemand der ein Grab in der Nachbarschaft besucht, und der sich nicht auskennt mit diesem Brauch, die Steine jeweils wieder wegräumt, weil er/sie meint, dass vielleicht Kinder einen Schabernak getrieben hätten..... :rolleyes





    DAS WOHNHAUS GÜNINGERS



    DIE GEDENKTAFEL AM HAUS



    DIE GRABSTÄTTE


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