Inhaltsangabe (dem Buchrücken entnommen)
Die Ehe von Pamela und Michael Lindberg ist in Routine und Entfremdung erstarrt. Eigentlich leben beide nur noch ihrem Sohn Jakob zuliebe zusammen. Der aufgeweckte College-Student hat sich ein ganz besonderes Ziel gesetzt: Er hat eine Liste mit waghalsigen Abenteuern erstellt, die er unbedingt erleben will, bevor er „alt und langweilig“ wird. Doch bei einem schrecklichen Autounfall stirbt Jakob. Bedeutet diese Tragödie das endgültige Aus für die Ehe der Lindbergs oder werden sie wieder zueinander finden? Nach und nach stellt sich heraus, dass Jakobs Liste in diesen Fragen eine wichtige Rolle spielt.
Die Autorin (dem Buch entnommen)
Stephanie Grace Whitson ist 1952 geboren und hat vier inzwischen erwachsene Kinder. Nach dem Tod ihres ersten Mannes hat sie sich noch einmal getraut und lebt heute mit ihrem zweiten Mann in einer fröhlichen Patchworkfamilie in Nebraska. Wenn sie nicht schreibt, fährt sie Motorrad oder befasst sich mit historischen Themen und anderen Sprachen und Kulturen.
Meine Meinung
„Durch die Trauer hindurch musst du dir eine neue Welt aufbauen, in der du leben kannst.“
(Seite 307)
Pamela und Michael, ein Ehepaar, das nur noch wegen des Sohnes Jakob den Status des Veerheiratetseins aufrecht erhält, erleben einen entsetzlichen, schmerzhaften Verlust, nämlich den (Unfall-)Tod des einzigen Kindes. Auf diesem in so wenigen Worten erzählten Fakt, der aber für die Betroffenen praktisch der Untergang ihrer bisherigen Welt bedeutet, beruht der Roman „Jakobs Liste“.
Stephanie Grace Whitson hat höchst unterschiedliche Figuren in ihrem Buch lebendig werden lassen, Pamela und Michael, ihre Freunde, besonders Betty und Daniel, deren Sohn Andy, aber auch der Unfallverursacher Eddie und seine Frau Lisa haben mein Leben für wenige, viel zu wenige Stunden bereichert. Pamela gehörte sozusagen mein Herz, mit ihr habe ich gelitten. Auch wenn ich Mitleid mit dem untröstlichen Vater hatte, war sein bis zum Tod des Sohnes geschildertes Verhalten allerdings nicht ansatzweise dazu angetan, mich für ihn einzunehmen. Zu sehr hatte er sich auf seine Interessen gestürzt, hatte darob einiges vergessen, was aber nun einmal nicht besonders klug ist, wenn man Familienvater und Ehemann ist.
Verblüffenderweise war es jedoch Michael, der eine aus meiner Sicht aber keinesfalls unwahrscheinliche Entwicklung nahm. Für mich war es sehr gut nachzuvollziehen, wie und warum das Umdenken, das Sichwiederbesinnen auf seine alten Werte und Ideale langsam in seinen Gedanken Fuß fasste, wie er nachdenklich wurde, wie er nach einem anderen Weg suchte und ihn schließlich auch fand. Man könnte eventuell einwenden, dass der moralische Aspekt dieser Umkehr der Autorin vielleicht ein wenig zu sehr am Herzen lag – mich hat er allerdings nicht gestört. Was mich – wieder einmal – sehr nachdenklich gemacht hat, ist die schlichte Tatsache, dass viel zu oft es eines nicht nur nicht schönen, sondern auch alptraumhaften, schockartigen Erlebnisses bedarf, um den eigenen Weg, den Stand der Dinge zu überdenken, nicht mehr nur die eigene Bequemlichkeit und das Erfüllen der eigenen Wünsche im Auge zu behalten, sondern den Menschen in der Familie, im Freundeskreis die Aufmerksamkeit zu schenken, die sie verdienen.
Auch die Entwicklung Pamelas selbst war für mich ... hier wäre ich geneigt zu sagen logisch. Aber Logik und Trauer, das Verharren in der Trauer, das anfängliche Ablehnen dessen, was helfen kann und will, was eventuell aus der Trauer herausführen kann, das schließliche Verändern im Trauerprozess und das Finden der eigenen, neuen Mitte passen nicht so recht zueinander. Die gefühlsmäßige Achterbahnfahrt Pamelas hat die Autorin aus meiner Sicht nicht nur sehr gut beobachtet, sondern auch mit Wärme geschildert. Es ist mir leicht gefallen, diesen Weg mit ihr zu gehen.
Die Nebenfiguren haben mich überrascht, ein jeder, eine jede ist in ihrem Verhalten, ihrem gezeigten Mitleiden, auch in der eigenen Trauer ist von Stephanie Grace Whitson schlüssig gezeichnet, für mich hat alles gepasst. Besonders die seelische Not des Unfallverursachers und auch seiner Frau durfte ich als Leserin mitfühlen. Wie lebt man weiter, wenn man einem anderen, dazu noch so jungen Menschen das Leben genommen hat, wie unbeabsichtigt das auch war? Welche eigene Hölle hat man sich da bereitet? Und wie findet man sich dann dort zurecht?
„Jakobs Liste“ ist ein Roman, der zeigt, wie wichtig neben dem Sichstellen der Trauer und ihrer Verarbeitung vor allen Dingen auch Vergebung - wem dieses Wort zu religiös klingt, nenne es Verzeihen - sein kann. Durch das Vergeben zeigt sich eine Abzweigung vom dem einstmals geplanten Weg, die man Schritt für Schritt neu gehen kann. Nur im Beharren auf der Schuld des anderen kann keine Heilung von dieser vielleicht schlimmsten Verletzung, die ein Elternpaar erfahren kann, beginnen. Und zum Vergehen, Verzeihen gehört ein unendlich viel größerer Mut als zum alleinigen Akzeptieren dessen, was nicht mehr rückgängig zu machen ist. Den Hass, den Pamela und Michael verspüren, den Abscheu, die vollkommene Ablehnung aufzugeben, ist in meinen Augen – und das weiß auch Stephanie Grace Whitson – ein Akt der Menschlichkeit, nicht zuletzt gegenüber sich selbst.
„Gott ist kein Wunschautomat, der uns alles erfüllt.“
(Seite 323)
Der Weg Michaels zum Glauben, sogar zu einem starken Glauben, angesichts dieser Tragödie mag man für übertrieben dargestellt halten, ist doch gerade eine solche seelische Notlage in manchem Fall eher dazu angetan, dass Leidende dem Glauben den Rücken zukehren. Allerdings fand ich diese Schilderung nicht übertrieben, sondern eher als Beispiel dessen, was möglich ist, vielleicht auch als Ermunterung, den ganz eigenen Weg zu suchen und zu gehen, wie immer der im Einzelfall auch aussehen mag. Aber wird der Gläubige wirklich mit den Anforderungen des Alltags leichter fertig als andere? Frei nach dem Motto: „der liebe Gott wird es schon richten“? Ich würde gerne glauben wollen, dass Menschen, die Leid und Kummer erfahren müssen und darin keinen Sinn erkennen können – wer kann das schon? -, es doch leichter zu tragen imstande sind, wenn sie wissen, dass da eine Hand ist, die sie auffängt, egal, wie tief sie fallen. „Warum lässt Gott das zu?“ - ist das wirklich die richtige Frage?
Wem das alles jetzt zu sehr nach „von Düsternis umfangen“ klingt, mag beruhigt sein: Es findet sich durchaus Anlass zum Luftholen, sogar zum Lächeln. Für mich ist es ein Roman, der im Dunkel beginnt und einen Weg zum Licht, das vielleicht nicht mehr so strahlend ist wie vormals, aber immer noch voll sanfter Wärme glänzt, aufzeigt. Das Leben geht weiter, sagt man immer so leicht; aber: es stimmt. Wie dieses Leben weitergeht, bestimmen die Zurückgelassenen zu einem guten Stück selbst – so sollte das Fazit dieses Buches lauten.
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„Jakobs Liste“ war mein Monatshighlight im März – und ich habe lange überlegt, ob es für mich überhaupt sinnvoll ist, dieses Buch vorzustellen, denn mit der Vorstellung geht auch eine Bewertung einher. Ich habe auch nichts an Kritikpunkten zu bieten, die, wie an anderer Stelle mehrfach zu lesen war, eingefordert werden, und zwar aus dem ganz einfachen Grund: Mir dieses Buch aus persönlichen Gründen, die hier zu nennen nicht angebracht ist, viel zu nahe gekommen. Es hat mich zutiefst erschüttert, es hat mich sozusagen bis ins Mark getroffen. Ich möchte aber dennoch gerne annehmen, dass, wer dieses Buch in die Hand nimmt, nicht unbedingt enttäuscht werden wird.
Es ist auch wieder recht viel geworden, was ich hier geschrieben habe. Aber ich habe nicht einmal annähernd die Hälfte von dem, was mir an dem Buch wichtig ist, was mich an es gefesselt hat, angesprochen. Trotzdem Pardon ob der Länge.
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