Buchrückseite
Was, wenn du einen Menschen getötet hast? Was, wenn dieser Mensch dein kleiner Bruder war? Und was, wenn jemand versucht, seine Stelle einzunehmen? Eindringlich, entwaffnend ehrlich und mit schrägem Humor erzählt Julian von sich und Anoki, dem verlassenen Anarchojungen, der als Pflegekind in sein Elternhaus einzieht. Der „Ersatzbruder“ sorgt nicht nur durch leer gefressene Kühlschränke, dubiose Einnahmequellen und ein reichlich unkonventionelles Rechtsverständnis für Aufregung in der Familie, sondern reißt Julian auch unbekümmert aus dessen emotionaler Vakuumverpackung, ohne zu ahnen, was er dadurch freisetzt … “Herzbesetzer“ ist ein temperamentvoller Roman über Begehren und Bedenken, Verlustangst und Verlobungsfeiern, über familiäre Folter und geschmacklose Grabgestaltung. Und er macht dem Leser deutlich, warum man für einen geliebten Menschen nicht nur alles tun, sondern auch manches lassen sollte.
Meine Meinung:
Für mich war der Erstling von T.A. Wegberg das Highlight schlechthin im letzten Jahr. Als ich gehört habe, dass etwas Neues kommen soll, habe ich natürlich flugs bestellt und ungeduldig auf das gute Stück gewartet. Neu ist, dass Buch Nummer 2 bei deadsoft erschienen ist – einem kleinen Verlag für Nischenbücher, den ich seit Jahren kenne und schätze. Könnte sehr gut passen, denke ich mir, da „Memory Error“ ja auch sehr „anders“ war, im positiven Sinne. So war ich sehr gespannt, ob mich der „Herzbesetzer“ genauso beeindrucken und begeistern würde. Er konnte – nur auf seine ganz eigene Art und Weise, mit der ich eigentlich so gar nicht gerechnet hatte.
Julian hat ein relativ mieses Leben. Doch, mies kann man so sagen. Mies ist, wenn man für den Tod des eigenen Bruders verantwortlich ist. Mies ist, wenn man selbst noch lebt, aber das eigentlich gar nicht so richtig mitbekommt. Mies ist, wenn einem die eigenen Eltern auf einmal einen Ersatz für den kleinen Bruder vor die Nase setzen. Und richtig mies ist dann, wenn man sich vornimmt, das Gör auf gar keinen Fall zu mögen und es dann doch tut. Viel zu sehr... Nach einer Fahrt in die Disko ist Julian am Steuer eingeschlafen und erst im Krankenhaus wieder aufgewacht. Da war sein jüngerer Bruder Benjamin aber schon tot. Seitdem lebt Julian so vor sich hin. Seine Eltern haben auch irgendwie aufgehört, Eltern zu sein und sind eigentlich eher ein stummes, vorwurfsvolles Bild. Aber nichts wird ausgesprochen und so bleibt Julians Gewissen jahrelang eine einzige schwärende Wunde. Inzwischen ist er zu Hause ausgezogen und wohnt in Berlin. Er hat keinen schlechten Job in einer Designagentur und auch für die einsamen Nächte findet sich immer etwas Hübsches. Mehr will Julian auch gar nicht. Doch als ihm seine Eltern eines Tages verkünden, dass sie ein Pflegekind aufnehmen wollen, zieht ihm das buchstäblich den Boden unter den Füßen weg. Einen Jungen! Im selben Alter, wie Benni, als er starb! Das macht ihm zu schaffen und er sträubt sich mit Händen und Füßen dagegen, diese Schnapsidee gut zu heißen. Dann kommt der große Tag des Besuchs und Julian wird Anoki vorgestellt – ein Rotzlöffel, wie er im Buche steht. Frech, mit schwarzen Rastas, vorlaut, Raucher und total verwahrlost, wie sich herausstellt. Doch Julians Eltern sind nicht zu halten und so zieht Anoki tatsächlich in den Haushalt der Trojans ein. Damit geht alles drunter und drüber. Anoki kommt mit seinen neuen Eltern meist so überhaupt nicht klar und sie nicht mit ihm. Dafür scheint er Julian zu mögen und ehe der sich´s versieht, ist er Streitschlichter zwischen dem Gör und seinen Eltern. Und noch schneller hat das Gör einen festen Platz in seinem Herzen. Als Julian feststellen muss, dass seine Brudergefühle für Anoki immer größer werden und schnell über reine Brudergefühle hinaus gehen, verliert er beinahe Kopf und Herz. Denn Anoki hängt an seinem neuen Bruder und weiß auch ganz genau, wie man ihn programmieren muss, damit er meist brav das macht, was er möchte...bis es eines Tages zu einem wirklich großen Knall kommt, der das Leben von beiden noch mehr auf den Kopf stellen wird, als sie sich vorstellen können.
„Herzbesetzer“ ist ein gefühlsbetonter und emotional sehr aggressiver Roman, auf den man sich einlassen muss. Die Geschichte an sich, die Grundidee hat mich sehr angesprochen. Der rote Faden ist da, es geht hauptsächlich um Julian und Anoki. Das ist aber auch der Knackpunkt, der mich manchmal gestört hat – andere Figuren, wie Julians Eltern und seine „Verlobte“ sind auch wichtig, bekommen aber eher Statistenrollen, weil sie dem Urvertrauen zwischen Julian und Anoki nicht gewachsen sind. Überhaupt – die beiden Kerle haben mir im Buch einiges abverlangt! Mit Julian habe ich gelitten und gehofft, aber ich hätte ihn auch alle 10 Seiten liebend gern geohrfeigt, weil der Kerl einfach nicht aus den Pantinen kommt und sein Leben mal auf die Reihe kriegt. Stattdessen eilt er immer wieder seinem Brüderchen zu Hilfe, wenn der wieder mal etwas ganz schlimm verbockt hat. Und Anoki! Anoki ist der Zündstoff der ganzen Geschichte. Er selbst ist eigentlich arm dran und immer darauf bedacht, möglichst seinen Hintern sicher an die Wand zu bekommen. Da er Julian immer besser kennen lernt und genau weiß, wie der tickt, ist es für ihn ein leichtes, seinen Dickschädel durchzusetzen. Manchmal klappt es aber auch nicht und der große Bruder muss ihn Mores lehren. Dann ist Anoki lieb und brav, bis zur nächsten Katastrophe...dabei hängt er so sehr an Julian und hat zwischendurch auch mal lichte Augenblicke, an denen man als Leser nur zu Boden gehen kann, weil das kleine Aas so verdammt charmant und süß ist.
Es geht also vor allem um Gefühle, um alte Familiengeschichten, um traurige Erlebnisse, um Schuld, um Vertrauen und Zuneigung, um Liebe und Geliebtwerden. Es ist aber kein Roman, der mit Höhepunkten und leserheischenden Effekten lockt. „Herzbesetzer“ fängt ganz leise an und zieht einen nach und nach in gefühlstechnische Tiefen, die man nach Ende des Buches erst einmal eine ganze Weile ausloten muss. Dabei ist das Buch gespickt mit trockenem Humor, Jugendsprachanleihen und Slapstickszenen und –sätzen, die einen hinterrücks von der Couch hauen. Und zwar so richtig.
Zu den beiden Hauptcharakteren habe ich eine innige Hassliebe aufgebaut, die bestimmt noch eine ganze Weile nachklingt und mich immer noch intensiv beschäftigt. Die Sprache hat mich, wie auch schon im ersten Buch, rückhaltlos überzeugt. Sie ist lebendig, sarkastisch, trocken und doch an den richtigen Stellen so intensiv und gefühlsecht, dass man einfach dabei sein muss. Die Geschichte an sich ist für mich nicht ganz rund, sondern sehr eckig und kantig. Der „Herzbesetzer“ ist ein Igelbuch für mich – schön anzusehen, niedlich aus einer bestimmten Perspektive, doch gewaltig pieksend, wenn man sich ganz darauf einlässt. Es piekst an allen Ecken und Enden und man kann gleichzeitig aber unmöglich die Finger davon lassen. Den Titel trägt es für mich zu Recht – es hat gesessen. Und es sitzt immer noch bei mir.