Die Frau mit dem roten Tuch - Jostein Gaarder

  • Zum Inhalt
    Eine Frau und ein Mann, Mitte fünfzig, Solrun und Steinn. vor mehr als dreißig Jahren waren sie ein Paar, heute lebt jeder sein eigenes Leben. In einem idyllischen alten Hotel im norwegischen Fjordland dreffen sie einander überraschend wieder. Solrun, für übersinnliche Phänomene jeder Art empfänglich, meint, es könne kein Zufall gewesen sein, dass sie sich genau dort begegne sind, wo es einst nach einem dramatischen Vorfall zur Trennung kam. Für Steinn, den Naturwissenschaftler, ist dagegen klar, dass es nicht das Walten des Schicksals, sondern einfach nur ein Zufall war. Die beiden beginnen einen Briefwechsel, um sich darüber klar zu werden, was damals eigentlich geschah. Wie sie, heftig verliebt, mit Steinns altem VW ins Fjordland fuhren, gemeinsam eine wahnsinnige Dummheit begingen und später jener rätselhaften Frau mit dem roten Tuch begegneten, die so seltsame Worte zu ihnen sprach. Und wie jeder von ihnen auf seine Weise versuchte, mit dem rätselhaften Erlebnis ins Reine zu kommen. Um endgültige Klarheit zu gewinnen, beschließen sie, einander noch einmal wiederzusehen.
    (Quelle: Klappentext)


    Über den Autor
    Jostein Gaarder, 1952 in Norwegen geboren, studierte Philosophie, Theologie und Literaturwissenschaft. Er war lange Zeit Philosophielehrer und lebt heute als freier Schriftsteller in Oslo. 1993 erschien bei Hanser der Weltbestseller Sofies Welt, der in über 50 Sprachen übersetzt und über 40 Mio mal verkauft wurde, und später u.a. Das Leben ist kurz - Vita brevis (1997), Maya oder das Wunder des Lebens (2000), Der Geschichtenverkäufer (2002) und Das Orangenmädchen (2003).


    Meine Meinung
    "Dieser Briefwechsel funktioniert" wird die Aftenposten auf dem Klappentext zitiert. Das Erste, was mir nach dem Lesen der anfänglichen Mails durch den Kopf geht, ist, dass dem eindeutig nicht so ist. Die Briefe, die Solrun und Steinn per E-Mail miteinander wechseln, haben nur eine Stimme - die des Erzählers. Es sind keine "echten" Briefe, die da miteinander getauscht werden, dafür beschreiben Solrun und Steinn einfach zuviel. Besonders die ersten Mails, in denen die beiden sich von ihrer überraschenden Begegnung nach 30 Jahren berichten, dienen nur einem Zweck: dem Leser in Geschichte und Figurenkonstellation einzuführen. Niemand erzählt seinem Gegenüber so ausführlich von einer Begegnung, bei der der andere anwesend war ...
    Ich war also etwas enttäuscht über den Anfang, aber doch neugierig genug, um weiterzulesen.


    Die ersten Dreiviertel des Buches drehen sich im Grunde einzig und allein um die eine Frage: Was ist das Bewußtsein des Menschen - "ein Produkt der Chemie des Gehirns plus Milieu und Stimulation" oder vielmehr Seele bzw. Geist, "die das Gehirn nur als Bindeglied zwischen einer geistigen Dimension und der materiellen Welt des Hier und Jetzt" benutzt?
    Steinn der Naturwissenschaftler schwankt zwischen einem vage gefühlten Pantheismus und seinem Zweifel als Atheist, während Solrun irgendwo zwischen Esoterik und Christentum ihr Heil gefunden zu haben glaubt.
    Nach meinem Empfinden ist Steinns (naturwissenschaftliche) Position etwas ausführlicher und nachvollziehbarer dargestellt, was jedoch vermutlich in der Natur der Sache liegt.


    So interessant und anregend die Lektüre dieses Teils des Buches auch war - recht bald stellte sich bei mir das Gefühl des Auf-der-Stelle-Tretens ein. Außer ein paar schwammigen Andeutungen über die "Preiselbeerfrau" und ein ominöses Geschehen, welches vor 30 Jahren die zwei Seelenverwandten Solrun und Steinn unüberbrückbar trennte, passiert nicht viel.


    Erst auf S. 156 (von insgesamt 221) setzt die Schilderung dessen ein, was letztlich zur geheimnisvollen Begegnung mit der Preiselbeerfrau (= die Frau mit dem roten Tuch) und dem Bruch zwischen Solrun und Steinn führt. Davon werde ich hier natürlich nichts verraten. Nur so viel: ganz rund ist das Ganze nicht.
    Daran ändert auch das letzte Geheimnis um die Preiselbeerfrau nichts, welches sich erst auf den letzten Seiten offenbart, und zumindest mich etwas ratlos zurück gelassen hat: eine Art missglückte "self-fulfilling prophecy", die mir die Frage aufdrängt, was mir der Autor damit nun sagen möchte?
    Für klärende Hinweise wäre ich dankbar ;-)


    Fazit: Mehr Essay als Roman, die Handlung hat zumindest mich nicht überzeugt. Trotz der kleineren Längen im ersten Teil aufgrund der Thematik lohnenswert zu lesen.

  • Sie haben sich 31 Jahre lang nicht gesehen und dann stehen sie plötzlich wieder voreinander. Solrun und Steinn. Beide leben ihr Leben, beide verheiratet, beide haben Kinder. Doch eine Begebenheit aus der Vergangenheit hat sie für immer mit einander verbunden und auch für immer getrennt.


    Solrun fängt gerade an zu studieren, als sie Steinn kennen lernt. Fünf Jahre wohnen sie gemeinsam zusammen und werden zu einer kleinen Glaubensgemeinschaft. Denn Solrun weiß: Das Leben ist irgendwann vorbei, sie ist ein Teil der Natur, sie ist Natur. Diese Erkenntniss ist manchmal so schwer für sie, dass sie Anfälle bekommt, doch Steinn ist für sie da. Bis die beiden eines Tages auf einen Gletscher fahren wollen und dort nie angekommen, denn etwas Schreckliches passiert....


    Jahre später sehen sie sich wieder und beginnen sich danach Emails zu schreiben. Emails über das Leben, die Vergangenheit und die "Preiselbeerfrau".


    Wer Jostein Gaarder kennt weiß, dass dieses Buch nicht einfach nur ein Liebesroman ist. Geschickt webt der Autor wieder einmal philosophische Gedanken mit hinein und bringt den Leser zum Nachdenken. Wer bin ich? Woher kommen wir? Solrun ist für Zufälle und Übernatürliches empfängliche, Steinn als Naturwissenschaftler denkt eher praktisch und pragmatisch, für ihn gibt es kein Schicksal. In diesen Emails kann man beide Seiten sehr gut nachvollziehen. Zwar ist der Anfang etwas holprig, aber wenn man sich an die Gedankengänge gewöhnt hat, liest sich der Briefwechsel leicht weg. Sie sind auch nicht als solche gekennzeichnet. Wer Emails kennt denkt an Betreff- und An-Zeilen, an Datenangaben und Zeiten. Dies fehlt hier völlig. Ich empfand das Fehlen als sehr positiv. So wurde man nicht immer wieder aus dem Fluss der Erzählung heraus gerissen. Am Anfang kam ich ein paar mal durcheinander, ich verwechselte Solrun mit Steinn, aber auch das legte sich mit der Zeit.


    Die zarten Hinweise zur "Preiselbeerfrau" am Anfang waren gerade genug um mehr wissen zu wollen. Und am Ende klärt sich alles auf, auch wer die "Preiselbeerfrau" ist...


    Man darf nur nicht zu viel erwarten. Es ist keine ausdrückliche Liebes-Email-Geschichte wie "Gut gegen Nordwind". Es ist eine philosophische Betrachtung eines Teils der Welt und gleichzeitig eines Mikrokosmos, der von Solrun und Steinn geschaffen wurde. Ich war gerne Teil dieses Mikrokosmos und warte gespannt auf das nächste Buch von Jostein Gaarder.

  • Wer eine Liebesgeschichte lesen möchte, sollte aber wirklich lieber beim Orangenmädchen bleiben.
    Ansonsten kann ich dem Beitrag von Tilia Salix nichts mehr hinzufügen. Sehr passende Rezension!

    "Ich bin dreimal angeschossen worden – was soll man da machen." (Robert Enke)


    "Accidents" happen in the dark.

  • Solrun und Steinn, ehemals ein Liebespaar, treffen sich nach 30 Jahren "zufällig" wieder. Daraus ergibt sich ein email-Austausch, bei dem es um solche Fragen geht: Gibt es übernatürliche Phänomene oder sind das nur Zufälle, wenn auch höchst seltene? Ist das Universum aus Zufall so entstanden, wie es ist? Oder war schon im Urknall festgesetzt, wie sich alles entwickeln wird? Ist das Bewusstsein ebenfalls bereits im Urknall im Keim angelegt oder erst im Lauf der Zeit erschaffen worden? Gibt es parallele Wirklichkeiten oder Seelenreisen?
    Dabei dreht sich der Dialog spiralförmig um das mysteriöse Ereignis, das damals zur Trennung geführt hatte, zunächst nur am Rand, doch dann immer näher, bis der Leser schließlich alles erfährt. Da wird es dann im letzten Drittel sogar richtig spannend.
    Doch am Ende bleibe ich etwas ratlos zurück. Warum hatte Solrun zuletzt solche Zweifel an ihrer Weltanschauung?