Der Vergleich zu Tolstois Krieg und Frieden drängt sich bei Wasilli Grossmans Leben und Schicksal (allein die Titel gleichen sich ja schon in ihrem universalen Anspruch) gerade zu auf. Was Krieg und Frieden für den Napoleonischen Krieg ist, bedeutet Grossmans Roman für den Zweiten Weltkrieg, oder den Großen Vaterländischen Krieg, wie er in Russland bis heute genannt wird. In beiden Romanen kommt eine Fülle von Figuren vor, mit denen ein weites gesellschaftliches Spektrum aufgespannt wird. Als ich die Liste der Protagonisten am Anfang des Romanes las, wurde mir ein bißchen schwindelig. In der Tat ist es jedoch nach kurzer Zeit gar nicht so schwierig die Personen auseinanderzuhalten. Zusammengehalten wird das Personengefüge durch zwei große, weit verzweigte Familien. Die verschiedenen Episoden erstrecken sich über die deutschen Konzentrations- und Vernichtungslager, Frontstellungen und bestzte Gebäude in Stalingrad, Moskau und Kasan als Evakurierungsort einflußreicher Moskauer. Ebenso weit gefächert sind die Personen, ein jüdischer Physiker und seine Familie, einfache Soldaten, altgediente Revolutionäre... So gelingt es Grossman ein umfassendes Panorma des Kriegserlebens zu schildern. Auch wenn die grauenhaften Krieges- und Vernichtungspraktiken der Nationalsozialisten dabei im Mittelpunkt stehen, gerinnt dieses Epos niemals zu Schwarz-Weiß-Malerei. Die Leiden der nationalsozialistischen Opfer werden auf eindringliche Weise geschildert. Eine der bewegensten Passagen ist der Brief einer jüdischen Mutter, die kurz vor ihrer Deportation und Ermordung an ihren Sohn schreibt. Grossman, der selber seine Mutter im Holocaust verloren hat, verarbeitet hier eigene Erfahrungen und schreibt den Brief, den er von seiner eigenen Mutter nie erhalten hat. Aber vielleicht noch wichtiger sind die Beschreibungen des stalinistischen Terrors, der Wilkür, der die Betroffenen ausgeliefert waren, der ständigen Angst, die Opfer zu Tätern machte, indem Menschen andere auslieferten um sich selbst zu schützen, der grausamen Verhöre, die von ihren unschuldigen Opfern noch ein Schuldeingeständnis forderten, der Entmenschlichung. Leben und Schicksal ist eine tiefgreifende Analyse des Menschen im stalinistischen Russland und ganz grosse Literatur.
Wassili Grossman - Leben und Schicksal
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Danke für diese Rezension, Clio. Ich habe das Buch schon länger hier im Regal stehen, mich bisher aber einfach noch nicht rangetraut - vielleicht werde ich mich jetzt vielleicht doch einmal daran versuchen.