Der rote Vogel

  • Eine Geschichte, die mir aufgrund unerwarteter Inspiration einfiel. ;-) Würde mich über Kommentare wirklich sehr freuen!


    Der rote Vogel


    Erinnerst du dich noch an den Tag, an dem sich der rote Vogel auf deine Schulter setzte?
    Es war ein Frühlingsmorgen und wir gingen im Wald spazieren. Die Äste und Blätter raschelten leise unter unseren Füßen, während die Sonne sich ihren Weg durch die ersten, hellgrünen Knospen an den Bäumen bahnte. Die Luft war noch kühl, lichter Nebel umgab uns. An einer Wegbiegung bliebst du stehen.
    „Sieh mal, dort“, sagtest du. Ich sah auf zu dem Baum, auf den dein Finger zeigte. Inmitten der Sonnenstrahlen saß ein Vogel, groß wie ein Adler und wunderschön, ein Vogel mit leuchtend rotem Gefieder und schwarzem Schnabel. Noch nie zuvor hatte ich so einen Vogel gesehen.
    Wir blickten beide schweigend zu dem Vogel auf, der anfing, sich mit seinem Schnabel das Gefieder zu putzen. Die Sonnenstrahlen ließen die roten Federn schimmern und glänzen. Wir beobachteten jede einzelne seiner Bewegungen, sahen in seine dunklen Augen und wir fragten uns, ohne es auszusprechen, was für ein seltsames Tier es war, das an diesem Morgen unseren Weg kreuzte. Ich erinnere mich noch an das Gefühl faszinierter Neugierde, dass ich beim Anblick des Vogels spürte. Und ich weiß noch genau, wie sich nach einiger Zeit unsere Hände fanden und ineinander verschränkten. Wir standen lange dort, während die Sonne immer höher stieg und es allmählich wärmer wurde.
    Dann, nach einer Unendlichkeit, richtete der Vogel seine Augen auf uns. Ich spürte, dass du zusammenzucktest. Du warst es, die der Vogel ansah. Auch ich blickte dich nun an, dein erstauntes Gesicht, das den roten Vogel anstarrte. Dieses Bild ist noch deutlicher in meinem Gedächtnis geblieben als der Vogel selbst: Deine weit geöffneten, blauen Augen, deine langen blonden Haare, glänzend und glitzernd in der Sonne wie die Federn des Vogels, deine roten Lippen, die sich zu einem überraschten „O“ formten. Ich ließ deine Hand los. Ich wartete.
    Du atmetest ein und aus, vielleicht zweimal. Dann, mit einem leisen Rascheln, breitete der Vogel seine weiten Flügel aus, erhob sich mit der Leichtigkeit eines Blattes im Wind von dem Ast, auf dem er saß und flog hinunter zu dir. Er landete auf deiner Schulter, ebenso sanft und leicht, wie er abgehoben war.
    Das Erstaunen und die Anspannung, die vor einer Sekunde noch auf deinem Gesicht gewesen waren, verschwanden. Dein Blick verklärte sich als würdest du etwas sehen, das für mich unsichtbar blieb. Dann schienst du zu lauschen auf etwas, das sehr leise und von sehr weit weg zu hören war. Schließlich wurden deine Augen wieder klarer, du schautest in mein Gesicht und dann auf den Vogel auf deiner Schulter, der die ganze Zeit über ruhig sitzen geblieben war, die Augen halb geschlossen und in die Ferne gerichtet. Ich sagte nichts. Ich hatte Angst, dass ich etwas Kostbares zerstören würde, wenn ich nur einen Ton von mir gäbe. Bewegungslos, still stand ich da und beobachtete euch. Wie der Vogel, die Augen nun offen, deinen Blick fand. Wie du schließlich deine Hand erhobst, und langsam und vorsichtig sein Gefieder streicheltest.
    Wenn ich daran zurückdenke, kann ich diese Bilder nicht mehr richtig klar sehen, es ist, als ob ein sanfter, heller Schleier vor allem wäre. Deutlich erinnere ich mich nur noch daran, dass du irgendwann etwas sagtest. „Flieg.“ Das war alles. Nur dieses eine Wort. Der Vogel erhob sich von deiner Schulter und verschwand zwischen den Bäumen, verschwand im gleißend hellen Sonnenlicht, das zwischen den Ästen hervorbrach.
    In dem Moment, als du dein leises „Flieg“ sprachst, fiel etwas von mir ab. Eine Last, die ich schon lange Zeit gespürt und die ich mit in den Wald, mit zu unserem Spaziergang gebracht hatte. Plötzlich spürte ich den sanften Wind, der uns umgab, bemerkte, dass ich eine Gänsehaut hatte und mir wurde bewusst wie leicht, wie wunderbar leicht sich mein Körper anfühlte. Irgendwo in der Ferne erschall der leise, helle Ruf eines Vogels. Du lächeltest, als würdest du verstehen. „Was sagt er?“, fragte ich.
    Du schwiegst. Du sahst mich nur an, mit Augen weit wie der Himmel über uns. Es war eine Antwort ohne Worte, die du mir gabst. Eine Antwort mehr wie das sanfte Streicheln des Windes.
    Wir kehrten um und gingen nach Hause. Kein Wort sprachen wir, doch wir hörten noch einige Male den Ruf des Vogels. Und noch immer, nach all den Jahren, sehe ich das Lächeln, das sich jedes Mal, wenn er erklang, auf deinem Gesicht ausbreitete. Du hast danach noch oft so gelächelt, du lächelst gerade jetzt so, während ich hier sitze, neben dir, und diese Geschichte aufschreibe. Es ist das Lächeln einer Frau, die nach Morgensonne duftet. Einer Frau, in deren Seele eine Ruhe liegt, so still und unendlich, dass man den weit entfernten Ruf eines Vogels darin hören könnte.

    In der Einsamkeit wird Liebe entstehen.

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  • Gefällt mir fast besser als mein eigener Text ... :gruebel


    Nein, ernsthaft: Ich finde, du hast gerade die Adjektive so verwendet, dass es nicht zu viel ist, man sich aber dennoch alles genau vorstellen kann - ich bin quasi mit im Wald spazieren gegangen. :grin


    Ich weiß gar nicht, wie ich diese Eindrücke in Worte fassen soll, ohne sie dabei zu zerstören. Jedenfalls fühle ich mich gerade irgendwie sehr leicht und wohl.

  • Deine Kurzgeschichte gefällt mir wirklich sehr, sehr gut! Sie ist trotz ihrer Kürze sehr intensiv und gefühlsstark und wunderbar bildlich geschrieben, man kann den roten Vogel wirklich sehen!


    Wirklich wunderschön!


    Dein erster Abschnitt hat mich übrigens an eine meiner alten Geschichten erinnert, fängt sogar am Anfang des Satzes gleich an. Ist aber nicht mal im Ansatz so bewegend wie dein Werk!


    Zitat

    Erinnerst Du Dich an den Tag, an dem wir uns zum ersten Mal sahen? Du standest unter einem großen Baum, die Strahlen der Sonne, die sich durch das dichte Blätterdach stahlen, umrahmten Dein Gesicht, ließen Deine Haare golden schimmern.


    Dafür auch nochmal lieben Dank, manchmal ist es ganz schön in der Vergangenheit zu kramen.


    Wie du siehst, hat deine Geschichte wirklich etwas in mir bewegt.